C. Kühberger u.a. (Hrsg.): Inklusion im Geschichtsunterricht

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Titel
Inklusion im Geschichtsunterricht. Zur Bedeutung geschichtsdidaktischer und sonderpädagogischer Fragen im Kontext inklusiven Unterrichts


Herausgeber
Kühberger, Christoph; Schneider, Robert
Erschienen
Bad Heilbrunn 2016: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
161 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helene Albers, Theorie und Didaktik der Geschichte, Fakultät für Kulturwissenschaften, Universität Paderborn

Der Geschichtsdidaktiker Christoph Kühberger hat gemeinsam mit dem Inklusionspädagogen Robert Schneider einen neuen Sammelband zum inklusiven Geschichtsunterricht herausgegeben; er ist das Ergebnis einer Tagung an der Pädagogischen Hochschule Salzburg im Mai 2015. Erste Sammelbände, die die Herausforderungen und Chancen der Inklusion für das historische Lernen ausloten, sind bereits erschienen,1 nun ein weiterer – was gibt es Neues zu berichten?

Der Band bietet weitere Beiträge zu bereits eröffneten Diskussionen, setzt aber auch ganz neue Akzente. Wie Elfriede Windischbauer in ihrem Resümee über die aktuellen Debatten zum inklusiven Geschichtsunterricht (S. 151–161) treffend bemerkt, ist eine inklusive Geschichtsdidaktik auf die Kooperation mit Sonder- bzw. Inklusionspädagog/innen eigentlich angewiesen, jedoch findet eine echte interdisziplinäre Vernetzung in der Forschung bislang kaum statt (S. 151), und auch der vorliegende Band kann nicht viel mehr tun als die laufenden fachdidaktischen und inklusionspädagogischen Diskurse in ihrer „Heterogenität“ abzubilden (S. 7). Die Debatte um inklusiven Geschichtsunterricht steht insgesamt noch sehr am Anfang, so dass es weder praxistaugliche Umsetzungsvorschläge in ausreichendem Ausmaß noch allgemein akzeptierte Theoriebausteine gibt, geschweige denn empirische Befunde zum gemeinsamen historischen Lernen. All das steht noch aus, aber der Band bringt die Diskussion in einigen Punkten doch voran.

Dass es um eine dezidiert inklusive Haltung, nicht nur der Lehrkräfte, sondern auch der Geschichtsdidaktiker/innen geht, wird in diesem Band klar ausgesprochen. So werden die wenig konstruktiven, inklusionsskeptischen Debattenbeiträge aus der Anfangszeit deutlich kritisiert (S. 155f.).2 Wie Ewald Feyerer in seinem Beitrag über „allgemeine Qualitätskriterien für einen inklusiven Geschichtsunterricht“ (S. 11–30) richtig herausstellt, sind es womöglich die falschen Fragen gewesen, die anfangs von Geschichtsdidaktikern gestellt wurden, beispielsweise ob ein inklusiv elementarisierter Geschichtsunterricht überhaupt noch Fachunterricht sei, ob sich historische Kompetenzen auf basalem Niveau noch als domänenspezifische messen ließen usw. (S. 28). Hier knüpft er an Martin Lückes Ausführungen an, der ebenfalls gefordert hat, von den akuten Belangen der Lernenden und nicht von vermeintlichen Gefahren der Inklusion für das Wesen des Faches Geschichte auszugehen.3

„Wo beginnt historisches Lernen?“ – In dieser womöglich nicht sehr weit führenden Frage will Christoph Kühberger vermitteln (S. 65–83), wenn er darauf verweist, dass historisches Denken und Lernen nicht als eine exklusive, kognitiv anspruchsvolle Erzählveranstaltung aufgefasst werden sollte, dass es vielmehr „sehr früh einsetzt und nicht zwangsläufig an ein strukturelles Verständnis von Politik und Gesellschaft rückzubinden ist“ (S. 73); emotionale, ästhetische bzw. sinnliche Wahrnehmungsebenen will er deshalb zu Recht stärker in den Fokus gerückt wissen. Kühberger versucht das Kompetenzmodell von FUER Geschichtsbewusstsein für die Debatte um eine inklusive Geschichtsdidaktik nutzbar zu machen und sein Plädoyer dafür, nicht an einem inhaltlichen Kanon, an einem unbedingt zu vermittelnden „Stoff“ festzuhalten, zeigt wieder einmal die prinzipielle Vereinbarkeit von Inklusion mit den Kompetenzmodellen historischen Denkens und Lernens. Die Graduierung von Kompetenzen nach Niveaus wird sich allerdings womöglich als wenig zielführend erweisen, wie die (wenigen) empirischen Ergebnisse aus der inklusiven Sachunterrichtsdidaktik nahelegen, die sich schwer tun mit der Identifizierung „eines basalsten Entwicklungsniveaus“ und stattdessen eine nicht in Entwicklungslogiken denkende didaktische „Auffächerung“ der Lerninhalte nahelegen (S. 26).4 Ohne sich von der fachspezifischen Kompetenzorientierung verabschieden zu wollen, sieht Kühberger in der subjektorientierten Geschichtsdidaktik immerhin eine „alternative“ Leitidee. Hier zeigt sich, wie sich der Diskussionsstand doch verändert hat, das heißt welches Innovationspotenzial das Thema Inklusion in Hinblick auf die Grundfesten der Geschichtsdidaktik als Disziplin mittlerweile entwickelt hat. Der Blick hat sich geweitet, es geht nicht (mehr) nur um Lernende mit sonderpädagogischem Förderbedarf, sondern um grundlegende Fragen nach dem, wie individuell bedeutsames historisches Lernen für alle barrierefrei und subjektorientiert initiiert werden kann.

Vor diesem Hintergrund ist unter anderem der Beitrag von Benjamin Bräuer und Waltraud Schreiber zu erwähnen, die ein ebenfalls subjektorientiertes Konzept der „Orientierungsgelegenheiten“ entfalten und auch Vorschläge zur unterrichtspragmatischen Umsetzung dieses Ansatzes machen (S. 85–102). Auch der Aufsatz von Bärbel Völkel, „Zeit erfahren und handhaben lernen“, (S. 103–119) hebt darauf ab, stärker „Gemeinsamkeiten zu pflegen“ statt „Diversität zu verherrlichen“ (S. 105). Völkel plädiert für eine „leiborientierte historische Bildung“, die „jeden Menschen als ein Lebewesen mit einer je eigenen Magie des Seins zur Welt und einer je eigenen Situierung als ZeitSinn“ akzeptiert (S. 112) und dabei die „Ambiguitätstoleranz“ als zentrale Kompetenz „in einer pluralen und heterogenen Welt“ fördert (S. 118).

Ebenfalls stärker mit dem, was allen Menschen gemeinsam ist, argumentiert Robert Schneider, der eine bildungstheoretische Herleitung der „Geschichtlichkeit“ als eine dem Menschsein eigene Dimension leistet (S. 31–46). Die Negativfolie für diese inklusiven anthropologischen Perspektiven liefert Oliver Musenberg, der in seinem Beitrag die ‚exklusiv‘ angelegten heil- und sonderpädagogische Debatten der Jahre 1880 bis 1950 nachzeichnet. Hier herrschte noch die heute weitgehend überwundene Skepsis darüber vor, ob Geschichtsunterricht für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen überhaupt sinnvoll sei (S. 47–62).

Zwischen den Zeilen dieses Bandes scheint immer wieder die optimistische Grundeinstellung gegenüber der Inklusion auf. Dies zeigt sich meines Erachtens nicht zuletzt darin, dass die sporadisch eingeflochtenen Ideen zur Umsetzung inklusiven Unterrichts sicherlich auch für die Lernenden ohne diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf einen Gewinn darstellen dürften. Ob es darum geht, sich projektorientiert mit dem Thema „Meine Heimatgemeinde im Mai 1945“ zu befassen (S. 19) oder eine originale, sensorische Begegnung mit der Vergangenheit, zum Beispiel in einer mittelalterlichen Kirche, zum Ausgangspunkt für historisches Lernen zu nehmen (S. 72), immer wird deutlich, wieviel (mehr) Spaß ein solch anschaulicher, nahörtlich orientierter, nicht nur Kognition, sondern auch Emotion berücksichtigender Geschichtsunterricht machen dürfte. Die Erkundung historischer Orte, Museen, Archive usw. ist sicherlich einer der besten Ansatzpunkte für historisches Lernen im inklusiven Geschichtsunterricht.

Einiger Neuigkeitswert kommt in diesem Zusammenhang übrigens dem Beitrag von Friedrun Portele-Anyangbe zu: sie berichtet von den Erfahrungen, die das Deutsche Historische Museum mit Ausstellungstexten in Leichter Sprache gemacht hat (S. 137–150). Trotz aller Schwierigkeiten werden hier neue Wege der Vermittlung beschritten, die auch im Geschichtsunterricht produktiv aufgegriffen werden müssen, denn die „Barrierefreiheit“ der Materialien ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass alle historisch lernen können. Eine weitere grundlegende Prämisse für erfolgreiches gemeinsames Lernen rückt in diesem Band erstmalig in den Fokus und sei abschließend hier erwähnt: die Ausbildung von Geschichtslehrkräften muss sich stärker als bisher an den Belangen eines inklusiven Unterrichts orientieren. Insbesondere die universitären Praxisphasen sind, wenn sie entsprechend begleitet werden, geeignet, bei angehenden Geschichtslehrkräften eine „inklusive Haltung“ zu fördern, wie der Beitrag von Sebastian Barsch zeigt (S. 121–135).

Der Sammelband fächert die beim inklusiven Geschichtsunterricht relevanten Aspekte weiter auf und bietet, alles in allem, einen guten Einstieg in den gegenwärtigen Stand der Diskussion, teilweise auch Ansätze zur Vernetzung mit den Argumentationen, wie sie unter anderem in den genannten anderen Sammelbänden bereits entfaltet wurden. Gespannt warten müssen wir indes auf erste eingehendere empirische Erkundungen in die Praxis inklusiven Geschichtsunterrichts.

Verweise:
1 Wolfgang Hasberg / Sebastian Barsch (Hrsg.), Inklusiv – Exklusiv. Historisches Lernen für alle, Schwalbach im Taunus 2014; Bettina Alavi / Martin Lücke (Hrsg.), Geschichtsunterricht ohne Verlierer!? Inklusion als Herausforderung für die Geschichtsdidaktik, Schwalbach im Taunus 2016.
2 Vergleiche Wolfgang Hasberg, Historisches Lernen für alle, in: Ders. / Sebastian Barsch, Inklusiv – Exklusiv. Historisches Lernen für alle, Schwalbach im Taunus 2014, S. 11–40.
3 Martin Lücke, Inklusion und Geschichtsunterricht, in: Judith Riegert / Oliver Musenberg (Hrsg.), Inklusiver Fachunterricht in der Sekundarstufe, Stuttgart 2015, S. 197–205, hier S. 200.
4 Siehe Simone Seitz, Zeit für inklusiven Sachunterricht, Hohengehren 2005.

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