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Titel
Das deutsche Kaiserreich. Geschichte – Erinnerung – Unterricht


Herausgeber
Bernhardt, Markus
Reihe
Starter Geschichte
Erschienen
Schwalbach im Taunus 2017: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 15,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Arand, Ludwigsburg

Das Deutsche Kaiserreich von 1871 ist für viele, wenn nicht für die meisten Schüler und Studenten ‚terra incognita‘. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71, die Kaiserproklamation in Versailles, Sozialistengesetze oder das Dreikaiserjahr sind in der Regel unbekannt oder stoßen auf wenig Interesse – so jedenfalls, wenn der Rezensent seine Erfahrungen aus der Hochschullehre und aus Unterrichtsbesuchen zu Grunde legt. Wenn das so folgenreiche deutsche Kaiserreich im Geschichtsunterricht überhaupt eine Rolle spielt, dann verdichtet sich die Thematisierung auf nur wenige Punkte, denen von Schulbuchautoren und Lehrplankommissionen überhaupt irgendeine Relevanz zugesprochen wird. Auffällig ist dabei, dass häufig überkommene affirmative oder gegenteilig politisch motiviert überkritische Narrative Verwendung finden: Bismarck als ‚großer‘ Reichseiniger, Sozialgesetzgebung, Elend des Industrieproletariats, der ‚böse‘ wahlweise ‚dumme‘ Wilhelm II. und seine Flotten- und Kolonialpolitik, die deutsche Kriegsschuld 1914. Doch das Kaiserreich ist immer noch auf Schritt und Tritt gegenwärtig und verdiente eine intensive, objektive und geistreiche Analyse in Schule und Hochschule. Ohne den Krieg von 1870/71 gäbe es Deutschland in seiner heutigen Form nicht, die damalige Sozialgesetzgebung wirkt bis heute, Wohnhäuser, Verwaltungsgebäude, Kriegerdenkmäler, Straßenamen prägen noch immer – von vielen unbemerkt – den öffentlichen Raum.

Es ist wohl der Einsicht in die hier geschilderte ‚Unterbelichtung‘ dieses wichtigen Teils der deutschen Vergangenheit geschuldet, dass nun in der Reihe ‚Starter‘ des Wochenschau-Verlags der zu besprechende Band erschienen ist. Vergleichbares, also eine kompakte, aber dennoch anspruchsvolle Darstellung des Themas, die sich gezielt an angehende Lehrer richtet, gibt es so jenseits von Unterrichtsmaterialien noch nicht.1 Die Reihe ‚Starter‘ wendet sich ausdrücklich an Studenten und Referendare und versucht so Lücken zu schließen, die offensichtlich selbst nach einem abgeschlossenen Geschichtsstudium noch möglich zu sein scheinen. Der Herausgeber Markus Bernhardt bekleidet die Professur für Geschichtsdidaktik an der Universität Duisburg-Essen und so wundert es nicht, dass der Band vollständig auf der Höhe der geschichtsdidaktischen Diskussion steht und zugleich didaktisierend aufgebaut ist. Gleich zu Beginn werden die wesentlichen Begriffe und Grundannahmen der Geschichtsdidaktik erklärt und dann im weiteren Verlauf des Bandes auch angewendet. Vor allem der Begriff der Geschichtskultur wird explizit hervorgehoben und dann prominent in den weiteren Beiträgen berücksichtigt (S. 10). Dass man einem solchem Band eine Art von begrifflicher und inhaltlicher Gebrauchsanweisung vorausschickt, ist eher ungewöhnlich, aber gerade in einem Werk sehr sinnvoll, das Geschichtsdidaktik und Geschichtswissenschaft zusammen denkt. Wer den verheerende Wirkung bei Schülern und Studenten hinterlassenden Unfug kennt, den manche Lehrende an Schulen, Hochschulen oder Studienseminaren zuweilen verbreiten sobald es um Geschichtsdidaktik als vermeintlich reine Methodenlehre geht, wird dem Herausgeber für die Klarstellung zu Beginn des Bandes dankbar sein.

In neun Beiträgen werden dann in einer verständlichen Sprache und sehr strukturiert wichtige Aspekte des Kaiserreichs vorgestellt. Der Herausgeber stellt das „Kaiserreich zwischen Geschichtswissenschaft, Geschichtskultur und Geschichtsunterricht“ (S. 13–43) vor bevor mit Dieter Langewiesche ein renommierter Kenner der Geschichte des Nationalismus den ‚historischen Ort des Kaiserreichs‘ thematisiert (S. 44–62). Langewiesche legt den Lesern hier eine nicht alltägliche geistige Herausforderung vor, indem er das Kaiserreich nicht nur als tatsächlichen Staat, sondern auch als sich wandelnde Vorstellung anspricht. In einer Hochschulwelt, die immer weniger auf Humboldt und immer mehr auf schnellen und ökonomisierbaren Output der Studenten schaut, darf aber auch mal ein solcher Text mit Metaebene zugemutet werden.

Mit Frank Becker ist es ein großer Kenner der Geschichtskultur des Kaiserreichs, der dessen politisches System in seiner Gleichzeitigkeit von Moderne und Rückständigkeit vorstellt (S. 63–82). Jens Flemming und der Frankfurter Geschichtsdidaktiker Gerhard Henke-Bockschatz stellen die „Gesellschaft“ (S. 83–104) und „Wirtschaft im Kaiserreich“ vor (S. 105–128). Mit dem Beitrag von Charlotte Brühl-Gramer, Geschichtsdidaktikerin an der Universität Erlangen-Nürnberg, über „Das Kaiserreich im Bild“ beginnt die Auseinandersetzung des Bandes mit der eingangs angekündigten Geschichtskultur der Jahre 1871 bis 1918 (S. 129–161). Bühl-Gramers umfangreicher Beitrag beleuchtet sehr anschaulich die große Bedeutung, welche die bildgetragene Erinnerung an die Einigungskriege für die politische Kultur des Kaiserreichs besaß. Markus Bernhardt stellt dann den „Bismarck-Mythos im Geschichtsunterricht“ (S. 162–179) vor, und leistet so einen Beitrag, der die Veränderlichkeit und damit auch Hinterfragbarkeit jedes schulischen Wissens im Rahmen historischen Lernens verdeutlicht, auch wenn es als vermeintliches ‚Faktenwissen‘ daherkommt. Einen konkreten Unterrichtsvorschlag für die Umsetzung eines geschichtskulturellen Gegenstands aus dem Kaiserreich macht Mareike-Cathrine Wickner am Beispiel des vielen Umdeutungen unterworfenen Hermannsdenkmals (S. 180–213). Berit Pleitner beleuchtet abschließend und an dieser Stelle die bisher strenge Gliederungslogik des Bandes etwas durchbrechend die sehr problematischen ‚deutsch-polnischen Beziehungen‘ während des Kaiserreichs (S. 214–236).

Die zunächst rein fachwissenschaftlichen Beiträge führen sinnvoll hin zu den dann zunehmend geschichtsdidaktische Aspekte betreffenden Ausführungen, in denen Geschichtskultur und Unterrichtsfragen beleuchtet werden. Der Band ergibt so ein gut strukturiertes Ganzes.

Der Band leistet einen sehr verdienstvollen und niveauvollen Beitrag zur Beleuchtung eines in Schule und Hochschule wichtigen Gegenstands. Dass die Einigungskriege nicht als militärische Ereignisse, sondern nur als Erinnerung angesprochen werden, kann sicher sachlich begründet werden. Schließlich fanden sie überwiegend vor dem Kaiserreich statt. Doch die Umstände der beinahe vollkommenen Unterwerfung der Bürger in den deutschen Staaten 1870 und 1871 unter die Gesetze des Krieges, die Tatsache, dass am Ende eine Million deutscher Männer im Kampf gegen Frankreich unter Waffen standen, diese Männer mit ihren Verwundungen und Traumata die politische Kultur des Kaiserreiches erheblich prägten und die Regeln der siegreichen Kriege bis 1945 in die Zivilgesellschaft hineinwirkten, hätten einen eigenen Beitrag zu den Einigungskriegen dennoch sehr sinnvoll gemacht. Doch die Auseinandersetzung mit Kriegen gilt heute als heikel, wenn aus dieser Auseinandersetzung nicht direkt eine friedenserzieherische ‚Dividende‘ zu ziehen ist. Dabei ist gerade der Krieg von 1870/71, der in vielen Aspekten die Katastrophen der Jahre 1914–18 vorzeichnet, auch als militärisches Ereignis von größter Bedeutung für das Verständnis des Kaiserreichs und seiner bis zur Überheblichkeit selbstbewussten wie politisch einflussreichen Offizierskaste.

Abgesehen von diesem kleinen Monitum ist der Band Studenten und Referendaren aber uneingeschränkt zu empfehlen.

Anmerkung:
1 Neuere Kompaktdarstellungen, aber ohne spezifische Zielgruppe ‚angehender Lehrer‘: Volker Berghahn, Das Kaiserreich 1871–1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte 10) Stuttgart 2003; Ewald Frie, Das Deutsche Kaiserreich. Darmstadt 2004; Herbert Kohl, Deutsches Kaiserreich. Ditzingen 2013.