Cover
Titel
Das Bordell. Historische und soziologische Beobachtungen


Autor(en)
Ziemann, Andreas
Erschienen
Weilerswist 2017: Velbrück Wissenschaft
Anzahl Seiten
180 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Rebecca Mörgen, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Die historische oder soziologische Auseinandersetzung mit der sozialstaatlichen Regulierung des Prostitutionsgewerbes ist kein Novum. Andreas Ziemann legt jedoch mit seinem Buch eine Studie vor, die dezidiert historische Entstehungs- und Legitimierungsgründe des Bordellwesens mit einer gegenwartsbezogenen Analyse des Sexdienstleistungsgewerbes zu verknüpfen sucht. Nachgedacht wird über den historischen, sozial- und gesellschaftspolitischen Zusammenhang von Staat, der Ehe als bürgerlicher Rechtsnorm und Prostitution. Erziehungswissenschaftlich relevante Bezugspunkte eröffnet das Buch etwa dann, wenn auf staatliche Versuche zur Erziehung des sittlichen Menschen hingewiesen wird, die Etablierung staatlicher Fürsorgeinstitutionen für ‚gefallene‘ Frauen thematisch wird und entsprechend Fragen der Sittlichkeitserziehung ansatzweise diskutiert werden. Aber auch dann wenn im Kontext einer sich im 18. und 19. Jahrhundert etablierenden Sittlichkeitsordnung auf das sich festigende Idealbild der bürgerlichen Hausfrau und Mutter eingegangen wird.

Ziemanns Untersuchung gliedert sich nach einer Einführung in sechs Abschnitte: Die ersten drei sind eine straffe historische Darstellung, die der „Gegenwartsorientierung“ (S. 7) in den Kapiteln sechs und sieben als Grundlage dienen. In allen Kapiteln folgt Ziemann einerseits der Analyse des immer wiederkehrenden Narrativs moralischer Diskreditierung und sozialer Regulierung des Prostitutionsgewerbes. Andererseits werden – eingebunden in den jeweiligen soziokulturellen Kontext – die räumlichen Ordnungen und die soziale Praxis des Bordellwesens rekonstruiert und damit der „heterotopische Charakter dieser Institution“ (S. 9) ausgelegt. Quer zu den Kapiteln betrachtet Ziemann die historisch gewachsene sogenannte „Bordellfrage“ (S. 8), die als Reaktion auf staatliche Regelung der Sexualität zu deuten sei: Zur Disposition stehen die Fragen „Wofür werden Bordelle gebraucht?“ und „Kann man Bordelle wollen?“ (S. 145). Jene Fragen können als ein den Text strukturierendes Element betrachtet werden, wenngleich der Autor eine Bündelung erst im siebten Kapitel vornimmt.

Ziemann macht deutlich, dass die in der griechischen Antike begründete kasernierte Prostitution sowie die Fundierung einer sexuellen Doppelmoral (Kapitel 2) mit einer dezidierten sozialstaatlichen Reglementierung und Überwachung des Sexualverhaltens der Bevölkerung Ende des 16. Jahrhunderts einherging (Kapitel 3). Hier wird Ziemann zufolge das erste Mal die Bordellfrage aufgeworfen. Der Autor rekonstruiert, wie die funktionale Bestimmung des Prostitutionswesens als „Komplementärinstitution“ (S. 20) gegenüber der staatlichen Ordnung und dem Familienschutz sich im Zuge reformatorischer Sittlichkeitsideale wandelte: fortan habe Sexualität ihren Ort „nur noch in der Ehe“ (S. 51), was es durch „strenge Erziehung“ (S. 145) durchzusetzen galt. Mit der von Ziemann beschriebenen historischen Pendelbewegung zwischen kontrollierter Akzeptanz und rigorosen Abschaffungsversuchen begründet sich die – auch noch heute gegenwärtige – „undurchsichtige Schattenwelt“ (S. 143) des Prostitutionsgewerbes. Insofern sich in Bordelldiskursen Sittlichkeitspostulate, sozialhygienische Kontrolle und klassenspezifische Verhaltenserwartungen vermengen und neu verhandelt werden (S. 7), steht im 19. Jahrhundert Ziemann zufolge die Bordellfrage ein zweites Mal zur Disposition (S. 146). Wie diese mit biopolitischen Programmen der Rassenhygiene und Eugenik verbunden wurde, skizziert der Autor im fünften Kapitel in Auseinandersetzung mit den Positionen von Lombroso/Ferrero und Auguste Forel. Die zunehmende Fokussierung auf eine pathologisch begründete deviante Sexualität sowie die Regulierung der Sexualität zum Erhalt des „Volkskörpers“ (S. 99) findet ihre direkte Fortsetzung in der NS-Rassenideologie und wirft Ziemann zufolge ein drittes Mal die Bordellfrage auf: Zur Steigerung der Arbeitsleistung von KZ-Inhaftierten sowie zur „Triebabfuhr der Wehrmacht“ (S. 146) wurden KZ-Bordelle – trotz eines staatlichen Verbotes – wieder eingeführt. Legitimiert wurde die Implementierung über eine „altbekannte Rhetorik“ (S. 147): Deviantes Sexualverhalten könne besser kontrolliert und behandelt sowie „kriminelle Einflüsse auf das Milieu verhindert“ (S. 147) werden.

Jene ambivalente Betrachtungsweise von Prostitution wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts von „Professionsrollenträger_innen der Prostitution“ (S. 131) kritisch hinterfragt: Entsprechend wendet sich Ziemann im sechsten Kapitel einer gegenwartsbezogenen Betrachtung der Bordellfrage zu und folgt der politischen Zäsur durch das Prostitutionsgesetz im Jahre 2002, welches die „lange fortgeschriebene […] Kampfformel“ (S. 93) der Sittenwidrigkeit aufgehoben habe. Zunächst steigt der Autor mit einer ethnographischen Beschreibung der Stuttgarter Bordelllandschaft ein und es werden Generalisierungen in Bezug auf migrationsgesellschaftliche Fragen sowie auf marktökonomische Prinzipien des Sexdienstleistungsgewerbes vorgenommen. Es folgt eine Auseinandersetzung mit der Begriffsentstehung und Selbstbeschreibung als „Sexarbeiter_in“ (131f.). Beschrieben wird die im Zuge feministischer (Huren-)Bewegungen der 1970er-Jahre aufkommende Forderung nach Anerkennung als autonome Sexarbeiter_innen, die sich gegen eine paternalistische Haltung des Staats und der Politik wehrt sowie eine Neubewertung der Trias von Sexualität, Ehe und Prostitution fordert. Beschreiben ließe sich Ziemann zufolge ein exklusiver Typus „der neuen emanzipierten Sexleister_innen als Avantgarde“ (S. 135). Gleichzeitig deutet er implizit auf Grenzen der Erzählung der autonomen Sexarbeiter_in hin: Bezug genommen wird auf eine moralische Debatte um Selbstverfügung und -vermarktung, die sich insbesondere über die Narrative des Menschenhandels und der Unterdrückung speist. Gleichwohl macht der Autor ein interessantes Deutungsangebot: Entgegen aller Zwangs-, Ausbeutungs- und Entfremdungslogiken und vor dem Hintergrund der Novellierungen des Prostituiertengesetzes in Deutschland ließe sich „die Prostituierte in eine Machtposition rücken, wonach sie souveräne Entscheiderin ihrer Biografie ist und sich selbstbewusst der kulturell sakrosankten Mutterordnung entzieht“ (S. 135). Mit der Figur der „heiligen Mutter“ (S. 28) wird an dieser Stelle ein weiterer zentraler Argumentationsstrang der vorliegenden Arbeit verbunden: Dass unsittliches Verhalten und die Figur der Hure „die Mutterliebe und Mütterlichkeit“ (S. 28) destabilisiere, ist ein wirkmächtiges Argument sowohl im römischen Kaiserreich als auch im 19. Jahrhundert. Die „geborene“ Prostituierte, die „ihrer Mutter- wie auch Familiengefühle […] beraubt sei“ (S. 95), wird der „bürgerlichen Frau“ als „geborene Mutter“ gegenübergestellt (S. 96). Dieses Stigma der „Unheiligen, der Gefallenen und Unerwünschten“ (S. 29) hat sich wirkmächtig und beharrlich gehalten.

Veränderungen in der Beobachtungslogik der Prostitution im historischen Verlauf zeigen einen signifikanten Wechsel vom Sittlichkeits- über das Kriminalitäts- hin zum Berufsparadigma (S. 149). Vor diesem Hintergrund rückt Ziemann im siebten Kapitel die politische Intervention gegenüber dem Prostitutionsgewerbe über die gesetzliche Neuregelung durch das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) ins Zentrum. Umsichtig diskutiert er dabei die dem aktuellen Diskurs mit Prostitution inhärenten antagonistischen Sprecher_innenpositionen. Inwiefern in die Diskussion um das ProstSchG und den nachfolgenden Entscheidungsprozess gezielt Expert_innenwissen und Sexarbeiter_innen (nicht) miteingebunden wurden, macht er dabei ebenso deutlich, wie er kritisch zur Diskussion stellt, wie das ProstSchG auf dem Weg zur Verabschiedung „hermetisch abgeriegelt“ (S. 159) wurde. Damit wurde ein Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes verabschiedet, das einerseits die Legalisierung der Sexarbeit als Beruf verfolge und andererseits – so die kritischen Gegenstimmen – die soziale Stigmatisierung der im Sexdienstleistungsgewerbe Tätigen aufrechterhalte. Trotz der Proteststimmen trat das Gesetz im Juli 2017 in Kraft. Entsprechend sei die Bordellfrage, so resümiert Ziemann, „für Deutschland beantwortet und der Fortbestand dieser alten kulturellen Einrichtung hierzulande unter speziellen Bedingungen garantiert und legalisiert“ (S. 163).

Als weiterer Argumentationsstrang lässt sich Ziemanns kulturgeschichtliche und soziologische Perspektive auf die räumliche wie soziale (Binnen-)Organisation der Bordelle ausmachen (Kap. 2; Kap. 3; Kap. 5.2). Er macht auf eine Reproduktion sowohl der topographischen Situierung zwischen Peripherie und Stadt als auch der hierarchischen Verhältnisse innerhalb des Prostitutionsgewerbes bis in die Gegenwart aufmerksam (S. 23). Inwiefern das Bordell als Illusions- und Kompensationsraum fungiert, beschreibt Ziemann im Anschluss an Michel Foucault dezidiert erst im sechsten Kapitel. Mit dem Bordell „als heterotopische Institution“ und Organisation gehe es um einen Ort der Generierung und Institutionalisierung des „sexuellen Lust- und Glücksbegehren[s]“ (S. 131) sowie der „unternehmerischen Ökonomie“ (S. 131), aber auch um einen Ort der „mikropolitischen Macht“. Deutlich wird in Ziemanns Rekonstruktion ein Spannungsverhältnis, das dem Bordell als Ort inhärent ist: die Herstellung sexueller Lustentfaltung durch räumliche wie soziale Inszenierungspraktiken auf der einen sowie der durchorganisierte Tages- und Beschäftigungsablaufs innerhalb eines Bordells auf der anderen Seite (Kap. 5.2; Kap. 6).

Dieses Buch schafft es, historische Beschreibungen und soziologische Analysen wechselseitig zu integrieren. Damit wird der Blick freigelegt für Kontinuitäten und Brüche im Umgang mit Prostitution und eine notwendige Vergegenwärtigung des Vergangenen deutlich gemacht – wenngleich sich die historischen Analysen nur geringfügig auf Primärquellen beziehen, Fragen zur Auswertung des empirischen Materials offen bleiben und stellenweise eine dezidierte soziologische Ausdeutung der Interviewpassagen wie auch der ethnographischen Beobachtungen wünschenswert gewesen wäre. Ziemanns Analysen machen deutlich, dass es gerade für gegenwartsbezogene Auseinandersetzungen im Kontext der Prostitutionsfrage lohnenswert, wenn nicht sogar zwingend ist, sich mit dem historischen Wissen im Umgang mit dem staatlichen und wissenschaftlichen Zugriff auf das Prostitutionsgewerbe auseinanderzusetzen. Entsprechend könnte das Buch ein Referenzpunkt für jede sein, die sich mit dem Zusammenhang von Staat, Ehe und Sexualität befasst.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/