T. Großbölting u.a. (Hrsg.): Deutschland seit 1990

Cover
Titel
Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft


Herausgeber
Großbölting, Thomas; Lorke, Christoph
Reihe
Nassauer Gespräche der Freiherr vom Stein-Gesellschaft 10
Erschienen
Stuttgart 2017: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
354 S., 6 SW-Abb.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlev Brunner, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Mehr als 25 Jahre sind seit Mauerfall und deutscher Einheit vergangen. Nach anfänglich vor allem sozialwissenschaftlicher Forschung zur Transformation der „neuen Bundesländer“ setzen nunmehr Bemühungen ein, eine Geschichte des vereinten Deutschlands zu schreiben. Der vorliegende Sammelband strebt dabei an, die bisherige „Leerstelle“ einer „multiperspektivische[n] historische[n] Vermessung“ zu füllen (S. 15). Anders als die zahlreichen Jubiläumspublikationen, die häufig von Erfolgsnarrativen geprägt sind, plädieren die Herausgeber Thomas Großbölting und Christoph Lorke für den Begriff „Vereinigungsgesellschaft“, der eine im Zusammenwachsen begriffene Gesellschaft adäquat zu beschreiben helfe, ohne „einen normativen ‚End‘- oder Idealzustand“ (S. 15) zu unterstellen. Die Konzentration auf die Zäsur von 1989/90 verdecke, dass sich besonders die „alte“ Bundesrepublik bereits in den Jahren zuvor in einem Strukturwandel befunden habe; außerdem überlagerten Globalisierungstrends die innerdeutschen Prozesse. Lasse sich deshalb nicht vielmehr von einer „doppelten Transformation“ (Heinrich Best / Everhard Holtmann) oder einer „Kotransformation“ (Philipp Ther) sprechen, mit Blick auf die Voraussetzungen und Wirkungen des Umbruchs auch im Westen Deutschlands? Das Epochenjahr 1989/90 sei weniger als Ende oder Anfang einer Periode anzusehen, sondern stärker in laufende Entwicklungen einzuordnen.

Der Band vereint 15 Beiträge, die aus einer Tagung („BRDDR – Arenen des Übergangs in der Vereinigungsgesellschaft“) vom November 2015 hervorgingen. Die Aufsätze sind vier Abschnitten zugeordnet. Den ersten („Identitäten und kollektive Selbstbilder“) eröffnet Ralph Jessen mit Reflexionen über „Das Volk von 1989 als Praxis, Projektion und Erinnerungsort“. Als Aufmacher dient die oft als anmaßend empfundene Aneignung des Revolutionsrufes von 1989 („Wir sind das Volk“) durch Rechtspopulisten. Das „Volk“ ist ein Begriff, der vielfach und gegensätzlich genutzt werden kann: mit dem Ziel der Exklusion, so die Dresdner „Pegida“ und ihre Ableger – oder im Sinne der Inklusion, so der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff bei seiner Rede zum 3. Oktober 2010. Das „Volk“ erhielt in der deutschen Erinnerungspolitik zur „Friedlichen Revolution“ vom Herbst 1989 den Fluchtpunkt „Einheit der Nation“ – ein Thema, das in der „alten“ Bundesrepublik an Attraktivität verloren hatte und in der DDR offiziell seit den 1970er-Jahren getilgt worden war. Irene Götze („Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989“) konstatiert, dass ein positives Nationalgefühl zu großen Teilen seinen Ausgangspunkt in der Wiedervereinigung fand. Allerdings ging es nicht bloß um eine Wiederbelebung traditionaler Versatzstücke, sondern um eine Verbindung mit neuen Bildern – etwa die vielgezeigte Nationalflagge bei den Fußball-Weltmeisterschaften oder regierungsoffizielle Slogans wie „Du bist Deutschland“ (2005). Zu fragen ist, wie stark die Enttabuisierung „des Nationalen“ in den vergangenen 25 Jahren auch den Boden für völkisch-nationalistische, rechtsextremistische Formen bereitet hat.

Einer kritischen Sicht unterzieht Angela Siebold die deutsche Historiographie und deren Verhältnis zur jüngsten deutschen Vergangenheit in ihrem Forschungsbericht anhand neuerer Überblickswerke (Manfred Görtemaker, Andreas Rödder, Heinrich August Winkler und andere), die über die Zäsur von 1989/90 hinausgehen. Siebold wendet sich gegen eine beschränkte Perspektive mit Fixierung auf die Zäsur ’89; zu klären sei, was durch diese Zäsur bewirkt worden sei, was durch die nachfolgende Transformation, was durch die Globalisierungstendenzen. Die Geschichte solle nicht „vom Ende“ her geschrieben werden, ein Ende, das sich bei der gegenwartsbezogenen Zeitgeschichte ständig verschiebt und zu neuen Perspektiven auf die Vergangenheit führt.

Die Makroebene von Identität, Nation, Volk verlässt Sabine Kittel in ihrem auf Interviews mit MfS-Mitarbeitern basierenden Beitrag zu „Gedächtnis und ‚Post‘-Gedächtnis“. Frühe Interviews aus den Jahren 1990/91 zeigen im Vergleich zu aktuellen Befragungen, wie Stasi-Erfahrungen von ehemaligen Mitarbeitern beschwiegen oder heruntergespielt wurden, da sie moralisch und politisch als nicht mehr akzeptabel eingeschätzt wurden. Die Stasi-Thematik spielt auch in zwei weiteren Beiträgen eine Rolle, die im Abschnitt „Hinterlassenschaften und Aufarbeitung“ eingeordnet sind. Es geht um die Diskussionen über Öffnung oder Vernichtung der Stasi-Akten und die Verabschiedung des Stasi-Unterlagengesetzes 1991 (Markus Goldbeck) sowie um die Debatten über die persönliche Akteneinsicht von Betroffenen (Lilith Buddensiek). Mit diesen drei Beiträgen nimmt die Betrachtung des MfS in dem Band einen prominenten Platz ein.

Im Abschnitt „Wirtschaft, Politik und Gesellschaft“ finden sich drei Aufsätze, die sich der ökonomischen Transformation und ihrer Wahrnehmung in methodisch unterschiedlicher Weise nähern. Unter der Überschrift „Die ökonomische Seite der Freiheit“ problematisiert Rüdiger Schmidt allerdings nicht die wirtschaftlichen Folgen von Revolution und Umbruch, sondern die Vorschläge aus der Bürgerrechtsbewegung, wie mit dem „Volkseigentum“ umzugehen sei, um dieses für die Bürger der DDR zu sichern. Die Diskussion mündete in den Beschluss vom März 1990, eine Treuhandgesellschaft zu errichten. Dass diese „Urtreuhand“ mit der späteren Treuhandanstalt nichts gemein hatte, stellte sich vor allem seit dem Herbst 1990 heraus. Marcus Böick skizziert die Entwicklung der Treuhandanstalt und stützt sich dabei auf das Konzept der „Arena“ („Vom Werden und Vergehen einer (post-)revolutionären Arena“). So attraktiv dieses Konzept erscheint, rein begrifflich wird es in dem Beitrag nicht stringent umgesetzt – so ist von „post-revolutionärer“, aber auch von „markt-revolutionärer“ oder nur von „revolutionärer“ Arena die Rede, was angesichts der Funktion der Treuhandanstalt doch fragwürdig erscheint. Zuzustimmen ist Böick, dass bei der Befassung mit der Treuhand Distanz erforderlich ist, die sich nicht an moralischen Kategorien des „Erfolgs“ oder „Misserfolgs“ orientieren sollte. Einen anderen Zugriff wählt die Anthropologin Ursula M. Dalinghaus in ihrem Aufsatz „A Question of Value(s)“ (der einzige englischsprachige Text des Bandes). Das Wortspiel verweist auf den Wert (der Währung) und auf gesellschaftliche Werte. Dalinghaus verbindet beides im Hinblick auf die Wahrnehmung vieler Ostdeutscher, die die Einführung der DM in der DDR im Juli 1990 als „break or cut“ (S. 164) empfanden – zwischen „monetary rupture“ und „social values“ respektive deren Veränderungen bestünden Zusammenhänge. Diese Verbindung von Verlusterfahrungen mit der Währung überrascht angesichts des verbreiteten Narrativs, „die“ Ostdeutschen hätten darauf gedrungen, dass die DM „zu ihnen“ käme; sie eröffnet eine Perspektive, wie Geldgeschichte jenseits finanzpolitischer Rahmungen auch erzählt werden kann.

Neben den erwähnten Aufsätzen zur Stasi-Problematik sind im Abschnitt zu den „Hinterlassenschaften“ der DDR zwei weitere Beiträge enthalten. Kerstin Brückweh thematisiert die seit 1990 sehr emotional diskutierte Frage des Wohneigentums, bei dem sich viele ehemalige DDR-Bürger angesichts der Restitution an Alt-Eigentümer der Gefahr des Verlustes ihres in der DDR übereigneten Hauses ausgesetzt sahen. Brückweh plädiert für eine „lange Geschichte der ‚Wende‘“, denn Formen der Aneignung und Enteignung führten in die Zeit des Nationalsozialismus zurück – ohne diese Vorgeschichte sei die DDR-Geschichte nicht zu verstehen, und beide Geschichten reichten in das vereinte Deutschland hinein. Ihre exemplarische Untersuchung der brandenburgischen Gemeinde Kleinmachnow direkt bei Berlin bestätigt allgemeine Ergebnisse: Die Furcht vor Verlust der Wohnmöglichkeit war aus zeitgenössischer Sicht verständlich, aus der Rückschau jedoch weitgehend unbegründet. Als weitere DDR-„Hinterlassenschaft“ widmet sich Nina Leonhard den NVA-Offizieren und der „Gedächtnispolitik“ des Militärs. Die Bundeswehr, als „Armee der Einheit“ inszeniert, erwies sich nicht als eine Einheit beider deutscher Armeen, was nicht nur an der Reduzierung der Streitkräfte lag, sondern auch an den ideologisch gegensätzlichen Bezügen.

Im Abschnitt „Soziale und individuelle Ordnungsentwürfe“ geht es um „‚Armut‘ in der Vereinigungsgesellschaft“ (Christoph Lorke). Auch in der DDR waren soziale Ungleichheiten vorhanden, allerdings waren die Zunahme dieser Ungleichheiten nach 1989/90 und neue persönliche Risiken der „Preis der Freiheit“ (Andreas Wirsching) und somit Folgen der Transformation. Auch von den späteren Sozialreformen (Agenda 2010) war die Bevölkerung in den neuen Bundesländern relativ stärker betroffen; die Armutsgefährdungsquote liegt noch immer höher als in westlichen Regionen. Zwei weitere Beiträge verweisen auf Dilemmata im Zuge der Vereinigung. Die DDR war in manchen Bereichen „fortschrittlicher“ als die alte Bundesrepublik. Anja Schröter („Unabhängige Frauen“) zeigt dies anhand der Geschlechterverhältnisse, besonders im Bereich des Scheidungsrechtes. Hier fand nicht lediglich ein Transfer von West nach Ost statt, sondern Ostdeutsche orientierten sich weiterhin an erlernten Handlungsmustern und trugen diese in die Vereinigungsgesellschaft. Dass die ostdeutschen Frauen allerdings einige vorherige Rechte verloren (zum Beispiel bei Abtreibungen), darf nicht unerwähnt bleiben. Auch im Hinblick auf Homosexualität existierte in der DDR ein „liberaleres“ Strafrecht. Befürchtungen, dass mit der Vereinigung bestimmte Rechte verloren gehen würden, wurden auch politisch – von der PDS – instrumentalisiert. Im Bereich der Schwulen- und Lesben-Bewegung lässt sich ebenfalls ein gegenläufiger Transfer ausmachen. Der in der DDR gegründete Schwulenverband (SVD) breitete sich nach Westen aus, eine ostdeutsche „Erfindung“ wurde vom Westen angeeignet, wie Teresa Tammer erläutert.

Im letzten Beitrag „Über das Schweigen reden“ beschreibt Ines Langelüddecke anhand von lebensgeschichtlichen Interviews in zwei ehemaligen brandenburgischen Gutsdörfern das „Schweigen“ als ostdeutsches ländliches Phänomen, das unterschiedlich begründet sein könne: Schweigen gegenüber den zurückgekehrten Adligen; als Möglichkeit, mit der „Asymmetrie des Übergangs“ zwischen Ost und West umzugehen (S. 336); als eingeübte Verhaltenspraxis aus der DDR – „Nicht offen reden“ zum politischen und gesellschaftlichen Schutz (S. 340).

Die Beiträge sind deutlich auf die Ausgangsbedingungen und Prozesse im Osten der vereinten Republik konzentriert. Die in der Einleitung angesprochenen Auswirkungen auf den Westen und die gesamte Vereinigungsgesellschaft werden nicht systematisch betrachtet. Dies wird eine der zentralen Aufgaben der künftigen Historiographie zum vereinten Deutschland seit 1990 sein. Dabei müssen deutlich stärker ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Prozesse aufeinander bezogen werden, etwa in Studien zur Arbeitsgesellschaft, zur Migration, zu mentalen Orientierungen. Der vorliegende Sammelband hat wichtige Pfade zu einer solchen Geschichte eingeschlagen – es bleibt noch viel zu tun.