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Titel
Im Taumel der Nacht. Urbane Imaginationen, Rhythmen und Erfahrungen


Autor(en)
Massmünster, Michel
Reihe
Kaleidogramme 145
Erschienen
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Anja Schwanhäußer, Berlin

Die Geschichte der soziologischen und kulturwissenschaftlichen Abhandlungen zur urbanen und industrialisierten Nacht ist eine Geschichte der Auseinandersetzung mit „unprivilegierten Räumen und Gruppen der Stadt“ (S. 24), in der Soziolog/innen damit umgehen mussten, dass die „Massen“ in die Stadt strömten. Michel Massmünster dekonstruiert in seiner ethnografisch-kulturanalytischen Studie über das gegenwärtige nächtliche Basel diese historischen und zeitgenössischen Werke als eine Form, durch die Stadt diskursiv erzeugt wird. Um diese wissenschaftlich, kulturell, literarisch, künstlerisch, technologisch und politisch produzierte Nacht geht es in der Studie. „Nacht ist nicht einfach da, sie wird hergestellt und dadurch greifbar“ (S. 11).

Wie das Greifbarwerden, Massmünsters Schlüsselbegriff, vor sich geht, legt der Autor anhand verschiedener Spuren dar, die je eigene Aspekte dieses Prozesses in den Vordergrund rücken, neben der Wissenschaftsgeschichte zur Nacht befasst er sich mit der Fasnacht, der Kunstmesse Art Basel, dem legendären „Nachtträmli“ und vielem mehr. Die Gliederung folgt dabei nur bedingt thematischen Feldern, sondern primär unterschiedlichen Formen der Repräsentation und Performanz von Nacht, in fünf Dimensionen aufgeteilt: begreifen, ineinandergreifen, ergriffen werden, ein- und angreifen, zurückgreifen.

Eine jener Spuren behandelt das Nachtnetz des öffentlichen Nahverkehrs zwischen technologisch-planerischer Expertise, avantgardistischer Vision, kollektiver Legendenbildung und allnächtlichem Gebrauch. Protagonist/innen aus verschiedenen Milieus (ein Infrastrukturplaner, ein Busfahrer, Nachtmenschen und Partygänger/innen) werden einbezogen sowie eigene Beobachtungen, Werbekampagnen, Zeitungsberichte usw. analysiert. Der Autor führt dabei auch ein Gespräch mit dem Basler Großrat und Verkehrs- und Infrastruktur-Planer Stephan Mauer, der ein neues, erweitertes Nachtnetz initiierte. In der Welt von Mauer reduziert sich Nacht mehr oder weniger auf eine „Lücke“ im Tagesgeschehen, die es durch den verstärkten Einsatz von Bussen zu schließen gilt. Aus dieser Perspektive werden menschliche Akteure modellhaft gedacht, ihre Handlungen immer in Bezug zu Objekten (Werbung, Markierung der Busse, Notfallknopf) konzeptualisiert. Massmünster sieht in ihr Ähnlichkeiten mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (S. 95), womit er sehr erhellend ein von ihm selbst angewandtes wissenschaftliches Modell milieuspezifisch kontextualisiert. Indem Menschen und Dinge bei Mauer gleichwertig einbezogen werden, wird Stadt für die Planer „greifbar“, das heißt in diesem Zusammenhang, kognitiv verständlich und somit kontrollierbar und beherrschbar.

Neben den Ausführungen zum Nachtnetz kommen die „Nachtmenschen“ (S. 152) ausführlich zu Wort, darunter ein Lichtkünstler namens Christoph. In teils poetischen Gesprächsfragmenten stehen hier nächtliche Imaginationen im Zentrum, die sich metaphernreich aus Mythen und Legenden speisen. Besonders aufschlussreich sind Schilderungen, wie die Nacht professionalisiert wird, wobei mit Profession mehr Berufung denn Beruf gemeint ist. Christoph eignet sich mit einem Hang zur Esoterik chronobiologisches und psychologisches Wissen an und führt Selbstversuche mit Wachheits- und Müdigkeitszuständen durch, indem er zum Beispiel die Wirkung von Licht im Ohr am eigenen Körper untersucht. Als er den Feldforscher auf einem nächtlichen Streifzug trifft, äußert er amüsiert, „Ist ja klar dass Du hier bist, es ist ja Nacht“ (S. 124) – eine zunächst einfach lustige Feststellung, die jedoch eine tiefere Einsicht des Informanden in den Zusammenhang von Verhaltensweisen und Tagesrhythmen verrät.

Massmünsters Studie ist die erste, die das von der Stadtethnologin Alexa Färber entwickelte Konzept der Greifbarkeit, zu dem bisher lediglich einzelne Aufsätze vorliegen1, umfassend ausbuchstabiert. Beachtlich ist nicht nur, wie der Autor das Modell scharfsichtig und an einer Fülle von Beispielen durchdekliniert; mit dem Begriff des „Taumelns“ theoretisiert und rahmt er das Konzept auch etwas anders und gibt ihm eine adäquate Methode und einen markanten Stil. Methode und Stil lehnen sich an die explizit nüchterne und formalistische Darstellung der Akteur-Netzwerk-Theorie an, gehen jedoch durch die Einbeziehung europäisch ethnologischer und anderer Ansätze gewinnbringend darüber hinaus. Methode und Stil sind charakterisiert durch Neugierde und Offenheit während der Forschung, genaue Beobachtungsgabe und die Bereitschaft, sich ablenken zu lassen und von der Bahn abzukommen, wie es das Serendipity-Prinzip nahelegt. Massmünster versteht seine Studie dabei explizit als eine nächtliche Stimme unter vielen, das heißt, er stellt mitunter auch seinen eigenen Standpunkt infrage und nimmt sich zurück, um das empirische Material für sich sprechen zu lassen. Stadtsoziologische und kulturwissenschaftliche Theorien sieht er als Werkzeuge, auch das zeichnet den Stil aus, die der hoch informierte Forscher nur so lange einsetzt, wie er sie für sein Projekt als nützlich erachtet. Insgesamt ist sein Stil von dem Vorhaben geprägt, die Nacht zum Sprechen zu bringen. Zu Recht kritisiert er dabei die zeitgenössischen soziologischen Studien zum Nachtleben, die der nächtlichen Erfahrung selten gerecht werden.

Dieses Taumeln als Theorie, Methode und Stil ist für Massmünsters Forschungsstrategie grundlegend. Ganz im Sinne von „writing culture“ und der jüngeren „lyrical sociology“ werden gängige wissenschaftliche narrative und stereotype Vorannahmen durchbrochen. Der Autor entwickelt eine Sprache, die das Gefühl für die Dinge während dem Beobachten und Feldforschen einfängt. Der solchermaßen eingebettete Beobachter versucht, seinen Imaginationen einen Sinn zu geben, ohne sie auf ein einzelnes Argument zu reduzieren.

Das Konzept des taumelnden Greifbarwerdens – man könnte es auch als Schmelzen, Aufweichen, „going soft“ bezeichnen – hätte noch gewonnen, wenn signifikante Antagonismen deutlicher benannt worden wären. Durch Massmünsters sogenannte symmetrische Darstellung, die das Verhältnis von Raumnutzung und Raumplanung nicht als Herrschaftsverhältnis versteht, sondern als Assemblage, verlieren Qualität und Atmosphäre der Nacht zuweilen an Kontur. Wortwörtlich greifbar wird die Nacht nämlich besonders in der taktilen Sphäre der Sinne, in den durch „technique du corps“ (Mauss) erworbenen popularen Wissensformen – einem Wissen, das gerade bei jenen subkulturellen Gruppen und Figuren anzutreffen ist, die wie Christoph ständig in der Nacht unterwegs sind, die durch diesen Lebensstil ein besonderes Gefühl für die Wirkmacht von Materialitäten besitzen und Nacht auf ihre Weise beherrschen. Figuren, die, um es mit den Stadtethnologen Hansen und Verkaaik2 auszudrücken, Bescheid wissen („knowing the city“). Es unterscheidet sich von einem akademisch erworbenen Ingenieurswissen, was bei Massmünster durchaus herauszulesen ist, aber mit starken ethnologischen Begriffen noch stärker hätte herausgearbeitet werden können.

Zur Prägnanz hätte außerdem beigetragen, wenn die Widersprüche der theoretischen Werkzeuge problematisiert worden wären. So meint „Imagination“ bei Rolf Lindner3 sinngemäß „knowing the city“, also eine durch Bilder und Mythen vertiefte Form der Erfahrung, die widerborstig gegenüber Stadtplanungsprozessen ist und somit kaum vereinbar mit dem Assemblage-Modell. Es würde noch deutlicher machen, dass es verschiedene und auch spezifisch populare Formen der Beherrschung von Nacht und Stadt gibt und dass es außerdem Situationen gibt, wo Nacht alltagsweltlich nicht greifbar wird. Aber dass Massmünster durch seine ethnografische Forschung diese Antagonismen überhaupt erst ins Blickfeld rückt, mit Daten anreichert und damit diskutierbar macht, ist nicht hoch genug anzurechnen. Ein gelungener Aufschlag für eine Fachdebatte.

Diese herausragende Studie steht in einer Linie mit den einschlägigen ethnografisch-kulturwisschenschaftlichen Studien zur Nacht, Joachim Schlörs „Nachts in der großen Stadt“4 und Bastian Bretthauers „Nachtstadt“5, innerhalb derer sie eine starke eigene Stimme entwickelt. Die Studie trägt maßgeblich zur Erforschung von Nacht und Stadt bei und ist deshalb ein wichtiger Beitrag zur Stadtethnologie, zur ‚Sensual Anthropology’, zur Gentrifizierungsdebatte sowie zu dem emergenten Forschungsfeld im Grenzbereich von Wissenschaft und Kunst. Massmünsters prägnanter Stil zeigt nicht zuletzt, wie gewinnbringend ein für literarische und poetische Darstellungsformen durchlässiges ethnografisches Schreiben für diese Felder ist.

Anmerkungen:
1 Alexa Färber, Anthropologie der Stadt und/oder Akteurnetzwerkforschung? Zur Greifbarkeit der Stadt und ihrer kulturwissenschaftlichen Erforschbarkeit, in: Johanna Rolshoven / Manfred Omahna (Hrsg.), Reziproke Räume. Texte zu Kulturanthropologie und Architektur, Marburg 2013, S. 50–64; dies., Vom Verhältnis stadträumlicher Aneignungspraktiken und materieller Umwelt. Stadtethnologische Überlegungen zur Greifbarkeit der Stadt, in: dérive. Zeitschrift für Stadtforschung, 40 (2010), S. 100–105.
2 Thomas Blom Hansen / Oskar Verkaaik, Introduction, Urban Charisma. On Everyday Mythologies in the City, in: Critique of Anthropology 29 (2009), S. 5–26.
3 Rolf Lindner, The Imaginary of the City, in: Anja Schwanhäußer (Hrsg.), Sensing the City. A Companion to Urban Anthropology, Basel 2016, S. 114–119.
4 Joachim Schlör, Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840–1930, München 1991.
5 Bastian Bretthauer, Nachtstadt: Tableaus aus dem dunklen Berlin, Frankfurt am Main 1999.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/