A. Denzler u.a. (Hrsg.): Kinder und Krieg

Titel
Kinder und Krieg. Von der Antike bis zur Gegenwart


Herausgeber
Denzler, Alexander; Grüner, Stefan; Raasch, Markus
Reihe
Historische Zeitschrift / Beihefte N.F. 68
Erschienen
Berlin 2016: de Gruyter
Anzahl Seiten
VI, 414 S.
Preis
€ 84,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rebecca Heinemann, Universität Augsburg

Der Themenkomplex „Kinder und Krieg“ ist in der internationalen historischen Forschung bisher überwiegend auf Kriegskindheiten der beiden Weltkriege reduziert worden. Kriegserlebnisse, -wahrnehmungen und hierdurch bedingte Prägungen von Kindern und deren Langzeitwirkungen sowie die Instrumentalisierung von Kindern für den Krieg in einer epochenübergreifenden Perspektive von der Antike bis zur Gegenwart werden in dem von Alexander Denzler, Stefan Grüner und Markus Raasch herausgegebenen Band behandelt. Kinder werden dabei „als real Leidende, als imaginierte und instrumentalisierte Opfer sowie als Leidverursacher“ (S. 34) begriffen. Erziehung und Propaganda, kriegsbedingte Alltagserfahrungen und psychohistorische Erbschaften von Kriegserfahrungen bilden dabei die drei Schwerpunkte des Bandes, der die Ergebnisse einer im März 2015 abgehaltenen interdisziplinären Tagung sammelt.

Andreas Hartmann befasst sich mit dem staatlichen Umgang mit Kriegswaisen in Griechenland, Rom und der christlichen Spätantike. Als „Ausdruck eines egalitären Bürgerethos“ (S. 56) werden Unterstützungsmaßnahmen in Form einer Rente, militärischen Ausstattung bzw. Mitgift für Kinder im Krieg getöteter Athener Bürger begriffen. Im Unterschied hierzu gewährte Rom, das zur Zeit der Republik beinahe dauernd Krieg führte, keine staatliche Waisenversorgung und ehrte nur die überlebenden siegreichen Soldaten. Diese konnten Kinder im Todesfall aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den besitzenden Schichten mit einem Erbe ausstatten. Eine weitere Facette des Themas bietet der Umgang mit Kriegswaisen in der frühchristlichen Welt: In Anknüpfung an das im Vorderen Orient verbreitete Ideal des Herrschers, der gerade für die Ärmsten der Gesellschaft – Witwen und Waisen – zu sorgen hatte, wurde dieses Problem dort als karitative Aufgabe betrachtet.

Alexander Berner beleuchtet die in der bisherigen Kreuzzugsforschung vernachlässigte Rolle von Kindern und konzentriert sich dabei auf deren diskursive Funktion im Kontext des Ersten Kreuzzugs (1096–1099). Anhand eines in dieser Zeit verbreiteten, wahrscheinlich gefälschten Briefes des byzantinischen Kaisers Alexios I., dem das Motiv des gequälten christlichen Kindes zugrunde liegt und von dem angeblichen „Missbrauch“ christlicher Kinder (Zwangsbeschneidung von Jungen, Vergewaltigung von Mädchen) durch den seldschukischen Kriegsgegner handelt, wird die propagandistische Vereinnahmung von Kindern im Mittelalter aufgezeigt. Der Brief, der an das in der christlichen Welt weitverbreitete Islambild anknüpft und durch den emotionalen Appell die christliche Ritterschaft zur Beteiligung an einem Kreuzzug bewegen soll, zeigt eindringlich, als wie wenig „typisch“ diese Form der Instrumentalisierung von Kindern für das 20. Jahrhundert zu gelten hat.

Stefan Kroll widmet sich den ersten paramilitärischen Erziehungsanstalten im deutschsprachigen Raum, die im 18. Jahrhundert in Preußen (Großes Militär-Waisenhaus in Potsdam, 1724) und Kursachsen (Erziehungsinstitut in Dresden bzw. Annaburg, 1738) vor dem Hintergrund der prekären Situation der zahlreichen Soldatenkinder entstanden. Schulorganisation, Erziehung und berufliche Vorbereitung für eheliche Soldatenkinder waren im Potsdamer Soldatenwaisenhaus anfangs stark durch den Halleschen Pietismus und August Hermann Francke geprägt und erhielten durch Friedrich II., der die wirtschaftliche Nutzbarmachung der kindlichen Arbeitskraft für das Manufakturwesen forcierte, eine andere Ausrichtung. Im Unterschied hierzu besaß das Dresdener Soldatenknaben-Erziehungsinstitut einen stärkeren paramilitärischen Charakter und verfolgte die Ausbildung des Nachwuchses für die kursächsische Armee.

Die folgenden Beiträge befassen sich mit der Rolle der an Kinder in den beiden Weltkriegen adressierten Propaganda und befruchten die bestehende Forschung durch innovative, vor allem transnationale Perspektiven. Eberhard Demm fokussiert die in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Österreich, Russland und den USA allgegenwärtige Propaganda, die sich während des Ersten Weltkriegs an Kinder in Gestalt von Kriegsliteratur, Spielen und Musik richtete. Es werden zudem Propagandaformen beschrieben, welche Kinder als Akteure emotional ansprachen. Die Reichweite dieser Kriegspropaganda konnte nach sozialer Herkunft und Geschlecht differieren.

Wie Jugendliche als Transmitter und Agenten von Kriegspropaganda im Zweiten Weltkrieg wirksam wurden, vermittelt der Beitrag von Colin Gilmour. Gilmour erweitert die bisherige Jugendkulturforschung zur NS-Zeit um das bislang kaum beachtete Phänomen des Sammelns von Autogrammkarten von Soldaten, die mit der höchsten militärischen Ehrung, dem Ritterkreuz, ausgezeichnet worden waren. Die während des Weltkriegs massenhaft betriebene und vom NS-Regime geförderte „Autogrammjägerei“ wurde als Möglichkeit genutzt, eine persönliche Beziehung zu den bewunderten Kriegshelden, vornehmlich prominente Wehrmachtsangehörige, zu kreieren. Sie „verselbständigte“ sich und wurde 1944 als Störung der Kriegsmaschinerie verboten.

Matthias Stadelmann arbeitet Funktionen und Wirkungen der über das Medium Film in der Sowjetunion zur Zeit des Zweiten Weltkriegs betriebenen Jugendpropaganda heraus. Aufgezeigt werden die über die kindliche Heldenfigur Timur, mit dem das sowjetische Publikum in zwei Kinofilmen vertraut wurde, vermittelten Leitkategorien: Dienst für die sowjetische Gesellschaft, Mut, Altruismus, karitative Handlungen, Selbstbewusstsein und Bescheidenheit der Kinder werden in ihrer appellativen Funktion für die sowjetische Jugend, aber auch Erwachsene im Kontext des realen Krieges gegen Deutschland herausgearbeitet.

Auf der Grundlage historiographischer Quellen spürt Christoph Schubert der Konstruktion von Kriegskindheiten in der Zeit der römischen Republik und der Kaiserzeit nach. Auch dieser Beitrag schließt eine Lücke, ist doch die Rolle von Kindern in den vorliegenden militärhistorischen Arbeiten bestenfalls gestreift worden. Jungen und Mädchen waren häufig Opfer von Gewalt und Versklavung. Die Quellen machen deutlich, wie die in den Texten marginalisierten Kinder, für deren „Zukunft“ gekämpft werde, als Legitimation des Krieges instrumentalisiert wurden. Ein interessantes Ergebnis ist der Hinweis auf die durch das vaterlose Aufwachsen verstärkte Emotionalisierung der Eltern-Kind-Beziehungen in der Kaiserzeit, die sich in dieser Hinsicht von der Republik unterscheidet. Auf staatlicher Ebene erfolgte eine verstärkte Zuwendung zum Kind, die sich in der Einführung einer staatlichen Kinderfürsorge niederschlug.

Ebenso widerspricht Hans-Henning Kortüm der älteren, von Philippe Ariès vertretenen, inzwischen durch gründliche sozialhistorische Arbeiten widerlegten These von der in der Vormoderne angeblich vorherrschenden emotionalen Gleichgültigkeit gegenüber Kindern. Akzentuiert wird die im hohen und späten Mittelalter praktizierte Selbstverständlichkeit einer frühen paramilitärischen Erziehung adliger und nichtadliger Kinder. Mit der Kriegsteilnahme wurden 16jährige Jugendliche als „vollgültige“ Krieger akzeptiert. Gegenüber einem relativistischen Konstruktivismus betont Kortüm die Notwendigkeit, die in mittelalterlichen Texten enthaltenen Gewalthandlungen gegen Kinder und Jugendliche, aber auch die von diesen selbst begangenen Kriegshandlungen und -verbrechen ernst zu nehmen.

Auf welch unterschiedliche Weise Kinder zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Erscheinung traten, führt Claudia Jarzebowski vor Augen. Die Quellen machen deutlich, wie präsent Kinder in diesem Zeitraum waren. Wie die zahllosen Dokumentationen von Todesfällen belegen, waren sie zum einen Kriegsopfer. Zum anderen traten sie als Soldatenjungen oder das Heer begleitende „Trosskinder“ auf. Eine Reihe von Handlungen Erwachsener können als Ausdruck der Sorge und Fürsorge für die zahlreichen durch das Kriegsgeschehen versprengten Kinder gelesen werden. Jarzebowski unterstreicht dabei auch die Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehungen.

Die Mainzer Forschungsgruppe „Eltern und Kinder im Krieg“ befasst sich mit den Eltern-Kind-Beziehungen in den beiden Weltkriegen, über die Feldpostbriefe, Kriegserinnerungen und die Befragung von Zeitzeugen Auskunft geben. Der Beitrag behandelt das in der bisherigen Forschung nur randständig thematisierte Selbstkonzept von Familien, Veränderungen der innerfamiliären Beziehungen und die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern. Die Autoren rücken dabei neben bestimmenden Gemeinsamkeiten einen gegenüber der Zeit des Ersten Weltkriegs dominanten, die familiären Beziehungen 1939–1945 prägenden „Verhärtungsprozess“ (S. 269) in den Vordergrund, der in der „eisernen Disziplin“ der Mutter, die keine Gefühle zeigte, der relativen emotionalen Verschlossenheit und verhärteten Sprache der Familienbriefe des Zweiten Weltkriegs Ausdruck fand.

Die Alltagserfahrungen der „Kriegskinder“ des Ersten Weltkriegs behandelt Barbara Stambolis. Sie stellt die Folgen einer durch das Ideal der „eisernen Zucht“ geprägten Sozialisation heraus, die von den Kindern trotz größter materieller Entbehrungen, psychischen Drucks und Verlusterfahrungen „Durchhalten“ und die Unterdrückung von Gefühlen forderte: Hierbei wird insbesondere das transgenerationale Erbe der auf diese Weise traumatisierten Kinder auf die nachfolgende Generation diskutiert. Stambolis arbeitet als Signatur des „Zeitalters der Extreme“ vor allem das beide Kriegsgenerationen belastende, oft lebenslang dauernde Schweigen heraus, das erst durch die Konfrontation der dritten und vierten Generation mit den Traumatisierungen der Eltern und Großeltern allmählich aufgebrochen wurde.

Gesellschaftliche Deutungen und persönliche Wahrnehmungen kriegsbedingter Vaterlosigkeit im Deutschland des 20. Jahrhunderts sind das Thema von Lu Seegers. Die gesellschaftlichen Diskursivierungen machen deutlich, unter welchem sozialen Druck die misstrauisch beäugten Kinder (und Frauen) standen, deren Familienleben meist als defizitär betrachtet wurde und im Schatten des verstorbenen Vaters stand. Im Umgang mit den Kriegshinterbliebenen des Zweiten Weltkriegs bestanden markante Unterschiede in der Bundesrepublik und der DDR: Während Witwen und Kindern verstorbener Wehrmachtsangehöriger in der Bundesrepublik – auch in erinnerungspolitischer Hinsicht – ein Opferstatus zukam, wurde ihnen in der DDR ein solcher nicht zuerkannt. Über die subjektiven Lebenswelten betroffener vaterverwaister Männer und Frauen gibt die Auswertung von 30 Interviews der Jahrgänge 1935 bis 1945 aus Ost- und Westdeutschland Aufschluss.

Lara Hensch befasst sich mit Kriegsprägungen späterer SA-Mitglieder. Auf der Grundlage von Selbstbeschreibungen von rund 300 SA-Mitgliedern, die der Sammlung des amerikanischen Soziologen Theodore Fred Abel entnommen sind, wird das Kriegserleben und das „Frontkämpfer“-Ideal jener Generation herausgestellt, die zu jung war, um selbst als Soldaten am Ersten Weltkrieg teilzunehmen. Die untersuchten, mehrheitlich nach 1900 geborenen SA-Männer erlebten diese Nicht-Teilnahme als höchst defizitär und versuchten, dies durch ein in der Weimarer Republik fortgesetztes politisches „Soldatentum“ und den „Kampf“ gegen die verachtete Demokratie zu kompensieren. Hierdurch wurde eine generationenübergreifende Verbindung zu den idealisierten Weltkriegsteilnehmern herzgestellt.

Die von der bisherigen Forschung zum Völkermord an den Armeniern ausgeklammerten Gewalterfahrungen armenischer Kinder rückt Andreas Frings in den Vordergrund. Durch Zwangsadoptionen, -verheiratungen mit Muslimen und Unterbringung in muslimischen Waisenhäusern wurden diese Opfer der osmanischen zwangsweisen „Assimilation“. Die nach Kriegsende u.a. von überlebenden Armeniern forcierte „Re-Armenisierung“ sah die Rückholung von Kindern und Frauen, Bildungsprogramme sowie die Förderung endogamer Ehen vor und hatte die Entindividualisierung der Betroffenen, deren „Schicksal der imaginierten armenischen Gemeinschaft untergeordnet“ (S. 335) wurde, zur Konsequenz.

Kristina Dietrich lenkt den Blick auf die überlebenden Kinder des Holocaust. Jüdische Kinder litten unter dem Verlust von Bezugspersonen, Familientrennungen, Degradierung und Misshandlung in den Ghettos und Lagern oder lebten mit der permanenten Angst vor Entdeckung in Verstecken. Die psychischen Folgeschäden der jüngsten Shoa-Überlebenden werden auf der Grundlage der Untersuchungen der Psychoanalytikern Nelly Wolffsohn und des niederländischen Psychotherapeuten Hans Keilson dargestellt und dem Stufenmodell von Erik Erikson zugeordnet. Das Verhalten der Kinder war demnach durch ausgeprägtes Misstrauen, fehlendes kindliches Neugierverhalten, Autoritätshörigkeit, Identitätsstörungen und mangelndes Selbstwertgefühl geprägt. Aufgrund mangelnder therapeutischer Möglichkeiten wurden die Betroffenen lange nicht ausreichend behandelt, viele erfuhren überhaupt keine therapeutische Hilfe. Durch die gesellschaftliche Verdrängung der Shoa in den ersten Nachkriegsjahrzehnten wurde ihre Situation zusätzlich erschwert.

„Kindersoldaten“ in gegenwärtigen kriegerischen Konflikten sind das Thema des Beitrags von Michael Pittwald. Eingangs wird verdeutlicht, dass der Begriff des „Kindersoldaten“ „ein medial geprägter und politisch gezielt eingesetzter Begriff“ (S. 387) ist. Dem hochentwickelten Völkerrecht, das die Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen verbietet, steht der Unwille vieler Kriegsakteure gegenüber, auf diese zu verzichten. Schilderungen von Kindersoldaten in Mosambik machen die dramatischen Auswirkungen von Gewalterfahrungen kämpfender Kinder deutlich. Nur im Kontext globaler Friedensstrategien, so Pittwald, könne das Phänomen „Kindersoldaten“ wirksam eingedämmt werden.

Der Band beleuchtet in einer eindrucksvollen thematischen Breite Kriegskindheiten aus ganz unterschiedlichen historischen Blickwinkeln. Die Autoren behandeln die in den meisten Fällen auf ihren jeweiligen Forschungsgebieten bisher kaum erforschten Zusammenhänge von Kindern und Krieg. Aufgezeigt werden Perspektiven, wie Kriegskindheiten der Vormoderne an die bestehende Weltkriegsforschung angebunden werden können. Neben der kritischen Reflexion der in der bisherigen Forschung unhinterfragten Behauptung der Spezifik der jüngeren Vergangenheit schließt der Band auch eine Lücke, indem die bislang vernachlässigte transnational und international vergleichende Perspektive integriert wird. Hervorzuheben ist nicht zuletzt die den Beiträgen zugrundeliegende Quellenvielfalt, die normative und narrative Texte, Feldbriefe, Autogrammkarten, Zeitzeugenberichte, individuelle Erinnerungen, belletristische Quellen und Filme umschließt.

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