A. Škodrova: Kurioznata istorija na kuchnjata v NRB

Cover
Titel
SOC GURME. Kurioznata istorija na kuchnjata v NRB [SOZ-GOURMET. Die kuriose Geschichte der Cuisine in der Volksrepublik Bulgarien]


Autor(en)
Škodrova, Albena
Erschienen
Plovdiv 2015: Žanet 45
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa, Leipzig

Die Erforschung der Alltagsgeschichte des kommunistischen Bulgarien machte vor zehn Jahren einen veritablen Quantensprung: 2006 publizierten Jana Genova und Georgi Gospodinov ihr mit 500 Abbildungen versehenes „Inventarbuch des Sozialismus”, Karin Taylor ihre Untersuchung über Jugendfreizeitkultur dort und Georgi Gospodinov seine Sammlung von Ego-Dokumenten „Ich durchlebte den Sozialismus“; 2007 veröffentlichte Daniela Koleva ihre Kollektion lebensgeschichtlicher Interviews mit „kleinen Leuten“ unter dem aphoristischen Titel „In Gestrüpp schlagen Blitze nicht ein“; und im selben Jahr erschien Ulf Brunnbauers fundamentale Monographie zur „sozialistischen Lebensweise“ in der Volksrepublik Bulgarien.1 Eine Dekade später ist mit Albena Škodrovas 2014 in erster und bereits 2015 in zweiter Auflage erschienener Geschichte der Küche sowohl im abstrakten wie konkreten Sinn, des Kochens, der Kochbücher, des Einkaufens, der Lebensmittelversorgung, der Hotels, Restaurants, Cafés, Kantinen, Läden, Märkte, der Lebensmittel- und Getränkeindustrie und vieles anderes mehr, ein weiterer Sprung ähnlicher Dimension zu verzeichnen.

Die Autorin hat 80 ehemalige Konsumenten und Produzenten, Restaurantmanager und Lebensmitteltechniker, Kellner und Köche, Parteifunktionäre und Marktfrauen, Journalisten und Wissenschaftler befragt sowie ausgiebig die zeitgenössische Presse und die Bestände des Zentralen Staatsarchivs in Sofija benutzt. Im Ergebnis stellt sie drei Gründe für die Nostalgie derjenigen Bulgaren, die den Geschmack des Staatssozialismus noch auf der Zunge haben, bezüglich der Jahrzehnte vor 1989 fest: Erstens, die Erinnerung an die kulinarischen Klassiker jener Zeit, die aus dem gegenwärtigen Alltag weitgehend verschwunden sind – so etwa kalte Gurkensuppe (tarator), gemischte Grillplatte (mešana skara) und Kuttelsuppe (škembe čorba), gut gegen Kater; zweitens die Sehnsucht nach dem originalen Geschmack der (vermeintlich) höherwertigen Lebensmittel in der kommunistischen Diktatur – mit Tomaten und Joghurt (kiselo mljako) an der Spitze; und drittens die weitverbreitete Annahme, diese Staatsform habe sich um das Wohl ihrer Bürger angelegentlicher gekümmert als dies zu Zeiten von Demokratie und Marktwirtschaft in der Gegenwart der Fall ist.

Albena Škodrovas Buch ist kaleidoskopisch angelegt, wobei zwischen den 16 thematischen und jeweils in sich abgeschlossenen Kapiteln naheliegenderweise zahlreiche Überschneidungen bestehen. Überraschende Erkenntnisse bieten dabei ihre Schilderung des Siegeszuges des (unter chronischem Mangel an Einkaufswagen leidenden) Supermarkts (supermarket) durch Bulgarien, der mit der Einführung von – mit lateinischen Buchstaben beschrifteten – Devisenläden namens „Corecom“ einherging. „Corecom“ stand dabei für „Comptoir de représentation et de commerce“, doch wurde die Fassung in bulgarischer Kyrillica „Korekom“ scherzhaft als Abkürzung für korekten komunizăm, das heißt als „korrekter Kommunistmus“, gedeutet. „Westwaren“, darunter trink- und essbare, gab es aber nicht nur im „Corecom“, sondern auch in den Getränkeregalen der Supermärkte: Bereits vom Ende der 1960er-Jahre an war hier Coca-Cola zu finden, ab der Mitte der 1970er-Jahre dann auch der Konkurrent Pepsi sowie Schweppes in mehreren Geschmacksvarianten (Bitter Lemon, Tonic und Grapefruit) – alles zu Preisen, die weit über denjenigen einheimischer Getränke lagen.

Eine weitere Besonderheit des volksdemokratischen Bulgarien war die im Vergleich zu den anderen staatssozialistischen Länder sehr hohe Zahl an Restaurants gemessen an der Bevölkerung, und dies bereits von den 1950er-Jahren an. In den 1980er-Jahren, als Bulgarien mit seinen ca. acht Millionen Einwohnern über 26.000 gastronomische Einrichtungen aufwies, kam statistisch auf 299 Bulgaren ein Restaurant, wohingegen sich 2013 im US-Bundesstaat Kalifornien 603 Bürger ein Restaurant teilen mussten. Raison d’être der forcierten Restaurantpolitik unter dem 35 Jahre lang herrschenden und in kulinarischer Hinsicht gänzlich anspruchslosen Staats- und Parteichef Todor Živkov war eine volkswirtschaftliche: Nahrungsaufnahme in preiswerten Restaurants sollte gegenüber Einkaufen (und Schlangestehen) samt häuslichem Kochen wertvolle Arbeitszeit sparen. Die von der Autorin beschriebenen Küchentricks des „Genossen Koch“ und die Abrechnungsschummeleien des „Genossen Kellner“ trübten allerdings manchen Restaurantbesuch. Dies mitunter selbst in den hier aufgelisteten „Top-Ten-Restaurants“, von denen etwa das im Volksmund als ruski klub (Russischer Klub) firmierende „Krim“ nicht nur die Agonie des Staatssozialismus, sondern sogar die bulgarische „Wende“-Variante samt Transition zum Mafia-Kapitalismus überlebt hat – unter Beibehaltung von Immobilie und Speisekarte.

Aufschlussreich sind auch die Informationen zur Hotelgastronomie. Das Flaggschiff des Staatskonzerns „Balkantourist“, das im bulgarischen Stalin-Stil gebaute und 1956 eröffnete Hotel „Balkan“ in Sofija, wurde nach Renovierung Anfang der 1970er-Jahre in ein Joint Venture mit der US-amerikanischen Sheraton-Gruppe überführt. Und der 1979 eröffnete Hotel-Hochhausneubau „Vitoša“, benannt nach dem von ihm aus sichtbaren gleichnamigen Bergmassiv im Süden Sofijas, erhielt den Zusatz „New Otani“, der suggerieren sollte, man habe es hier mit demselben Sterne-Level wie beim Tokyoter Original zu tun. In dem einen Fall setzte man auf „französische Küche“, in dem anderen auf „japanische“ – jeweils bulgarisch adaptiert. Ein Sonderfall war das, was man als „Bruderschaftscuisine“ bezeichnen könnte, die außerhalb von Hotels in „nationalen“ Restaurants vorgehalten wurde, das heißt in explizit als „ungarisch“, „kubanisch“, „tschechisch“ oder „vietnamesisch“ bezeichneten oder als „slavisch“ geltenden – hier mit ukrainischen oder russischen Nationalgerichten, was Namen wie „Moskva“ oder „Kiev“ signalisierten. Interessanterweise gab es keine rumänischen, albanischen, polnischen oder gar DDR-deutschen Äquivalente, von jugoslawischen oder chinesischen ganz zu schweigen.

Passagenweise deprimierend ist das, was die Autorin über Küche, Kochen und vor allem Einkaufen im privaten Bereich schreibt. Chronischer Mangel selbst an Grundnahrungsmitteln, tägliches Anstehen und ruppige Bedienung waren mit Ausnahme der „goldenen“ Siebziger vor allem in den Städten die Regel. Als Gegenstrategien wären zu nennen die Anlage von Schrebergärten (inkl. Weinbergen), die Beziehungspflege zu Verwandten und Freunden in Dörfern und LPGs, Bestechung von Verkäufern und nicht zuletzt systematisches Einwecken von Gemüse und Obst für die vitaminarme kalte Jahreszeit (zimnina bzw. turšija). Hilfreich dabei war die genuin bulgarische Erfindung eines elektrischen Geräts namens čuškopeč – von čuška, Schote, und peč, von pekam, backen bzw. braten: Auf der dem keilförmigen Wuchs einer Paprikaschote angepassten Metallfläche dieser Schotenbräters grillte man auf dem Balkon im Sommer große Mengen Schoten jeglicher Art, um sie anschließend mit Essigwasser in einem Weckglas luftdicht zu versiegeln. Ähnliches unternahm man mit Feigen, Beeren, Pilzen, Gurken, grünen Tomaten, Blumenkohl, Mohrrüben und vieles andere mehr. Wer über ein Jagdkollektiv Zugang zu Wildschwein-, Hasen-, Hirsch- oder anderen Fleischsorten hatte, weckte auch das ein. Nur im äußersten Notfall griff man auf die Konserven des Staatskonzerns „Bulgarplod“ zurück, durfte sich Gästen gegenüber dabei allerdings nicht erwischen lassen.

Ungeachtet seines kulturhistorischen Schwerpunkts stellt das Buch zugleich einen genuinen Beitrag zur Wirtschaftsgeschichtsschreibung dar. Neben den Engpässen der Planwirtschaft litt die bulgarische Lebensmittelindustrie vor allem unter schwankenden außenhandelspolitischen Konjunkturen. So konnte etwa Kakao für die Herstellung von Schokolade nur so lange aus dem befreundeten Ghana bezogen werden, bis dort der Militärputsch von 1966 das Auslaufen der Wirtschaftsbeziehungen bewirkte. Da keine anderen Kakaolieferanten in Sicht waren, die Bartergeschäfte akzeptierten, stellten findige bulgarische Lebensmittelingenieure einen kakaofreien Schokoladenersatz her, der bis heute unter der Bezeichnung marcipan bekannt und beliebt ist, der aber keinerlei Ähnlichkeit mit der außerhalb Bulgariens als Marzipan bezeichneten Süßware aus Mandeln, Zucker und Aromastoffen aufweist.

Das von der Autorin, einer promovierten Slavistin, als populärwissenschaftlich bezeichnete Buch verfügt über einen interessanten Abbildungsteil mit Fotos und Faksimiles, nicht hingegen über ein Register und ein Literaturverzeichnis. Allerdings enthalten die Fußnoten nicht nur Erläuterungen und Kommentare, sondern auch bibliographische Angaben.

Albena Škodrovas kommunistische Cuisine-Geschichte wirft Licht auf eine von vielen in Bulgarien lebhaft erinnerte, aber bislang kaum analysierte Dimension des versunkenen Alltags, wie sie bezüglich anderer staatssozialistischer Länder nicht ihresgleichen hat. Eine englische Übersetzung ist unter dem Titel „Communist Cuisine“ bei Central European University Press in Budapest in Vorbereitung.

Anmerkung:
1 Jana Genova / Georgi Gospodinov, Inventarna kniga na socializma [Inventarbuch des Sozialismus], Sofija 2006; Karin Taylor, Let’s Twist Again: Youth and Leisure in Socialist Bulgaria, Berlin 2006; Georgi Gospodinov (Hrsg.), Az živjach socializma. 171 lični istorii [Ich durchlebte den Sozialismus. 171 persönliche Geschichten], Plovdiv 2006; Daniela Koleva, Vărchu chrastite ne padat mălnii. Komunizmăt – žitejski sădbi [In Gestrüpp schlagen Blitze nicht ein. Der Kommunismus – Lebensschicksale], Sofija 2007; Ulf Brunnbauer, „Die sozialistische Lebensweise“. Ideologie, Gesellschaft, Familie und Politik in Bulgarien, 1944–1989, Wien 2007.

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