Schramm u.a. (Hrsg.): Spuren der Avantgarde

Cover
Titel
Spuren der Avantgarde: Theatrum alchemicum. Frühe Neuzeit und Moderne im Kulturvergleich


Herausgeber
Helmar, Schramm; Lorber, Michael; Lazardzig, Jan
Reihe
Theatrum Scientiarum 6
Erschienen
Berlin 2017: de Gruyter
Anzahl Seiten
583 S.
Preis
€ 149,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ute Frietsch, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Wer sich als Frühneuzeitforscher/in heute mit Alchemie befasst, kann erstaunt sein, wie präsent dieses Thema in der Kunst der Gegenwart ist: Parallel zur wissenschaftlichen Forschung hat sich eine künstlerische Forschung entwickelt, welche die frühneuzeitliche Alchemie erkundet und für Aussagen über die Gegenwart nutzbar macht. Mögliche Fehlinterpretationen lassen sich dabei eher der kunstgeschichtlichen Literatur nachweisen, wenn sie den historischen Zusammenhang zu beschreiben versucht; wenngleich die Stimmigkeit und Relevanz der künstlerischen Arbeiten ebenfalls von der Kenntnis der historischen Formen von Alchemie abhängen mag.

Das zu besprechende Buch geht auf eine internationale Konferenz des Forschungsprojektes „Theatrum Scientiarum“ im Berliner Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ zurück, die im November 2007 im Hamburger Bahnhof in Berlin stattfand. Es erscheint in der Reihe „Theatrum Scientiarum“, die es sich zur Aufgabe macht, performative Interferenzen von Wissenschaft und Kunst auszuloten und Frühe Neuzeit und Moderne in einen Kulturvergleich zu bringen. These der Herausgeber ist, dass diese Interferenzen heute durch eine Blickschranke verdeckt seien. Bei der Konferenz im Kunstkontext des Hamburger Bahnhofs wurden die performativen Aspekte von Wissenschaft sehr deutlich. Im Buchformat ist der Charakter der Aufführung zwar nicht ganz eingelöst, der Band umfasst jedoch mit seinen 22 Beiträgen eine Fülle an Literatur insbesondere aus Wissenschaftsgeschichte, Philosophie, Literatur- und Kunstwissenschaft, die für die aktuelle Alchemieforschung einschlägig ist.

Im Folgenden kann nur eine Auswahl besprochen werden. Das Buch wird mit dem Wiederabdruck eines Beitrags von Helmar Schramm eröffnet, des Initiators des langjährigen Forschungsprojektes „Theatrum Scientiarum“, der 2015 verstorben ist. Schramm analysiert die Funktion bzw. das Phänomen der Kunst der Gegenwart: Sie sei ein Echo auf die Zusammenbrüche klassischer Rationalitätsmuster. Den Zusammenhang von Alchemie und Theater sieht er darin, dass beide Künste der körperlichen und der poetischen Verwandlung seien. Das Theater thematisiere Wahrnehmungsformen. Bei der frühneuzeitlichen Alchemie sei die Spannung zwischen den Zeichenordnungen offensichtlich: Alchemie sei ein offenes, aber stummes Buch, das sich in Konflikt mit der Schriftlichkeit befunden habe. Hierfür sprächen auch die Hieroglyphen, die den Textfluss der frühneuzeitlichen Alchemie unterbrechen. Schramm geht hierbei von frühneuzeitlichen alchemischen Drucken aus, während er die handschriftliche Überlieferung ausblendet.

Didier Kahn nimmt die Konzeptionalisierung eines Theatrum alchemicum sehr kritisch in den Blick. Die Verbindung von Alchemie und Theater gehe auf eine Schrift Antonin Artauds von 1932 zurück. Sie sei von manchen für bare Münze genommen worden, obgleich Artaud kein guter Kenner der Alchemie gewesen sei. Kahn zufolge hat Artaud die Genrebezeichnung „Theatrum“, welche Alchemica der Frühen Neuzeit aufweisen, nicht als einen Topos erkannt, der auch für andere Themenfelder genutzt wurde. Es sei ja gerade auffällig, dass Alchemiker das Genre des Theaters tatsächlich nur äußerst selten genutzt hätten. Als alchemisches Theaterstück ließe sich eigentlich nur das „Conjugium Phoebi et Palladis“ (gedruckt 1677) von Christian Knorr von Rosenroth bezeichnen. Eine Erklärung für den fehlenden Bezug sieht Kahn darin, dass Theater öffentlich aufgeführt wurde und wird, Alchemie hingegen eine geheime Wissenschaft gewesen sei. Diese Erklärung überzeugt nur bedingt, insofern das Verhältnis von geheim und öffentlich in der Alchemie durchaus mit dem Bühnenvorhang, der sich vor der Veranstaltung hebt und nach ihr wieder senkt, veranschaulicht werden kann. Es wäre zudem zu erwägen, ob sich nicht auch höfische Feste mit alchemischer Symbolik, wie etwa das im Jahr 1719 veranstaltete Saturnfest im Plauenschen Grund, oder entsprechende Inszenierungen im Kontext der Geheimgesellschaften als alchemische Theateraufführungen betrachten lassen. Für Artauds Konzept lässt sich aber jedenfalls – mit Kahn – von einem produktiven Missverständnis sprechen, das der Qualität von Artauds eigenem Theater, bei dem die Aufführung die Form einer realen Transmutation annehmen sollte, keinen Abbruch tut. Weil die Bezeichnung alchemisches Theater ihm schließlich selbst als missverständlich erschien, entschied Artaud sich noch im selben Jahr für Theater der Grausamkeit.

Volkhard Wels analysiert die historische Bedeutung des Paracelsismus. In der paracelsistischen Theoalchemie sei es zu einer Auflösung der Grenze zwischen Gott und Natur, Theologie und Naturphilosophie gekommen. Als typischen Vertreter dieser Richtung betrachtet er Alexander von Suchten (um 1520 geboren, zwischen 1576/90 gestorben): Suchten zufolge löse der Alchemiker im Destillierprozess den Geist Gottes aus der Materie. Es seien diese Konkretisierungen der Spiritus-Theorie, die den Paracelsismus in Abweichung zur akademischen Theologie gebracht hätten. Als Kontrahenten dieser Vorgehensweise betrachtet Wels Daniel Sennert (1572–1637). Dessen Korpuskulartheorie der Materie sei eindeutig anti-paracelsisch und kompatibel mit einem neuzeitlichen Verständnis von Wissenschaft, das, wie auch die Alchemie von Andreas Libavius und Robert Boyle, durchaus mit Aristoteles zu vereinbaren gewesen sei. Wels kommt zu dem Ergebnis, dass der Paracelsismus eher sozial- und religionshistorisch als wissenschaftshistorisch von Interesse sei. Er tendiert offenbar dazu, die medizinische Alchemie, die stark paracelsistisch geprägt war, aus der Wissenschaftserzählung heraus zu nehmen. Dies ist insofern nicht überzeugend, als an den Universitäten vor der Entstehung der wissenschaftlichen Chemie nicht Transmutations- oder technische Alchemie unterrichtet wurde, sondern eine auf dem Paracelsismus basierende, wenn auch vielfach sich davon fortentwickelnde und ausdifferenzierende Medizin.

Koen Vermeir widmet sich einer Publikation der Baronin Martine de Bertereau von Beausoleil (1590–1642) aus dem Jahr 1640. Die Baronin betrieb gemeinsam mit ihrem Ehemann Alchemie im Kontext der Bergwerke: Beide machten sich dadurch angreifbar, dass sie Instrumente der Divination wie etwa die Wünschelrute verwendeten. Nachdem sie angeblich Hunderte von Erzvorkommen für die französische Krone ausfindig gemacht hatten, wurden sie inhaftiert, der Hexerei, Astrologie und Dämonenbeschwörung angeklagt und hingerichtet. Vermeir zufolge griff die Autorin auf die Strategie einer theatralischen Selbstinszenierung zurück. Ihre Publikation sollte einen Beweis ihres Erfahrungsreichtums liefern, vermittelte allerdings wenig konkretes Wissen, was u.a. der Problematik der Darstellung impliziten Wissens geschuldet sei. Vermeir macht hier den interessanten Vorschlag, „theatralisch“ in der Beschreibung der Alchemie der Frühen Neuzeit als alternativen Begriff zu „esoterisch“ zu nutzen: Zur Darstellung der Eigendynamik des Enthüllens und Verhüllens scheint dieser Begriff in der Tat geeigneter zu sein.

Tara Nummedal fragt nach den konkreten Prozessen der Tradierung alchemischen Wissens in den Dresdner Laboren vom späten 16. bis zum späten 17. Jahrhundert. Sie kann nachweisen, dass Labore vom sächsischen Staat wiederholt inventarisiert und katalogisiert wurden. Fürst August von Sachsen etwa betrachtete das Wissen über alchemische Verfahren als seinen Besitz, da die Alchemiker seine Bediensteten waren. Um den Laborzusammenhang zu stabilisieren, wurden Ämter geschaffen: So stellte Johann Georg II. Johann Kunckel (1630–1703) als Direktor der kurfürstlichen Labore Sachsens ein. Kunckel ging die Papiere seiner Vorgänger durch, kommentierte sie und verfasste – möglicherweise auf der Grundlage dieser Schriften, dies wäre Nummedal zufolge systematisch zu prüfen – Traktate zu Salz und Phosphor. Es ist eigentlich nicht überraschend, dass eine Wiederverwertung von Schriften und Schriftfragmenten stattfand: Dies wurde in der archäologischen Forschung bereits für die Geräte nachgewiesen, die im Arbeitsprozess recycelt worden sind. Der Begriff „Laboratorium“ nahm auf diese Weise jedoch Formen eines generationenübergreifenden Arbeitszusammenhanges an – ein Begriffsgebrauch, der dem heutigen sehr ähnlich ist.

Lawrence M. Principe geht der Theatralität der Alchemie anhand einer speziellen Form ihrer Verschriftlichung nach: den sogenannten Ripley Scrolls aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Er fragt nach der Funktion dieser zwei bis sieben Meter langen Schriftrollen und stellt die These auf, dass sie Genealogien für den als König personifizierten Stein der Weisen gewesen seien. Sie seien mit der Absicht angefertigt worden, diesen zu personifizieren, zu glorifizieren und zu legitimieren. Principe macht mit den Ripley Scrolls, die von Jennifer M. Rampling bereits mit einer ähnlichen These analysiert worden sind, ein Aufzeichnungsmedium zum Gegenstand, das insbesondere aufgrund der gestischen Aspekte den Zusammenhang von Alchemie und Theater weiter plausibilisieren kann. Was in seiner Untersuchung allerdings ausgeblendet bleibt, sind die konkreten Formen der performativen Verwendung dieser Schriftrollen: Wurden sie etwa aufgehängt und abgerollt oder ausgelegt und aufgerollt und wie viele Personen waren dazu erforderlich?

Wilhelm Kühlmann analysiert den Umgang mit Alchemie in der Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts und nimmt eine Typologie vor: Es gebe in der Moderne a) eine Re-Metaphorisierung von Alchemie im poetischen Schreiben, zudem werde b) der Habitus des Alchymisten als Figur genutzt und es komme c) zu Ausnahmewerken: wie etwa in der Umdichtung der Schrift „Triumphwagen des Antimon“ durch Yvan Goll (1891–1950). Das alchemisch-poetische Schreiben analysiert Kühlmann insbesondere anhand der Dichtung von Paul Celan. Bei Celan werde die alchemische Prozedur in ihrer Dialektik von Vernichtung und Neuschöpfung angeeignet, so etwa wenn im Gedicht „Solve-Coagula“ der chemische Kolben zum Gewehrkolben umgewertet wird.

Mit dem Beitrag von Kristiane Hasselmann zu Matthew Barneys Film „Cremaster 3“ (USA 2002) gelangt der Band wiederum bei der Kunst der Gegenwart an. Barney greift Freimaurerei als Topos sowie performatives Prinzip auf. Der Plot des Films besteht im Aufstieg des Protagonisten durch das Chrysler Building in New York. Sein Weg ist ein Gratifikationsweg von Beförderungsritualen. Im Aufstieg werden unterschiedliche Lebensentwürfe durchgespielt: Auf die Imagination folgt die Symbolisierung sowie die performative Realisierung. Der Film führt dabei durchaus in Abgründe, da die dargestellten Rituale die patriarchalischen Strukturen des organisierten Verbrechens aufweisen.

Warum die historische Alchemie im ganzen 20. Jahrhundert und bis heute so ein geeignetes Material zur Entwicklung avancierter performativer Konzepte ist, bleibt auch nach der Lektüre des fulminanten Bandes – und den gängigen Verweisen auf Surrealismus und Psychologie – etwas rätselhaft. Dies bestätigt die These der Herausgeber von einer Blickschranke, welche die Interferenzen von Wissenschaft und Kunst sowie den Zusammenhang von Früher Neuzeit und Moderne verdecke. Geisteswissenschaftliche Forschung und künstlerische Arbeit zu Alchemie ergänzen sich aber jedenfalls dennoch aufs Beste, indem sie gegenseitig für Präzision und Aktualität sorgen.