N. Raab: Soviet Response to Catastrophes

Titel
All Shook Up. The Shifting Soviet Response to Catastrophes, 1917–1991


Autor(en)
Raab, Nigel
Erschienen
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
$ 39.95 CAD
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Kaelin, Historisches Seminar, Universität Zürich

In seiner Monographie „All Shook Up. The Shifting Soviet Response to Catastrophes, 1917–1991“ liefert Nigel A. Raab eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der Katastrophen in der Sowjetunion. Im noch nicht umfassend erkundeten Gebiet der sowjetischen Katastrophengeschichte leistet er damit einen wichtigen Beitrag für deren weitere historiographische Erforschung.1 Der von Raab gewählte komparative Ansatz, der sich auf Regionen jenseits des sowjetischen Zentrums konzentriert und vergleichend sowohl Naturkatastrophen (stichijnye bedstvija) als auch Unfälle (avarii) berücksichtigt, löst Katastrophen aus der Betrachtung als isolierte Ereignisse und richtet den Fokus auf die dynamischen sozialen, kulturellen und politischen Prozesse des „Davor“ und „Danach“. Daraus ergeben sich neue interpretative Möglichkeiten, welche die simplifizierende Reduktion der sowjetischen Katastrophengeschichte auf ein Narrativ des Scheiterns herausfordern und damit gängige Vorurteile über die sowjetische Geschichte in Frage stellen (S. 5).

Am Beispiel des Umgangs des Parteistaates sowie der Gesellschaft mit Katastrophenereignissen wird in Raabs Buch die Vielfältigkeit und der Wandel des sowjetischen Systems aufgezeigt. Dabei ist es die Absicht des Autors, die Reaktionsfähigkeit des Staates und die sich ergebenden Freiräume für die sowjetischen Bürger in der auf Katastrophen folgenden „atmosphere of improvisation“ (S. 6) darzustellen. Als Hauptuntersuchungsgegenstand der Analyse dienen die Erdbeben auf der Halbinsel Krim 1927, in Aschgabat 1948, in Taschkent 1966 und in Armenien 1988. Diese Naturkatastrophen werden durch ein Kapitel zum Nuklearunfall von Tschernobyl 1986 ergänzt. Neben den ausführlichen Ausführungen zu diesen fünf bedeutenden und folgenreichen Katastrophen finden sich im Text zahlreiche weitere Beispiele kleinerer und weniger bekannter Unfälle und Unglücke, von Bus- und Zugunfällen bis zu Minenunglücken und Überschwemmungen. Das ermöglicht Raab, einen ausführlichen Überblick über das weite Spektrum der Katastrophen sowie der Verschiedenartigkeit der Reaktionen zu geben. Die Studie beruht auf der Auswertung einer großen Vielfalt an Archivmaterialien wie auch zahlreichen Quellen aus Zeitungen, Zeitschriften und Filmen. Der Visualisierung von Katastrophen in der Sowjetunion widmet Raab als Interlude ein separates Kapitel, das sowohl die fiktive als auch die dokumentarische Darstellung von Katastrophen zum Thema hat und deren Verwobenheit aufzeigt.

Besondere Aufmerksamkeit widmet Raab den als analytische Kategorien fungierenden Themen des Staates, der Zeit, der Sprache, der „Freundschaft der Völker“ (družba narodov), der Freiwilligkeit sowie des Gegensatzes zwischen Stadt und Land. Anhand dieser Topoi gelingt es Raab überzeugend, die Veränderungen im Umgang mit Katastrophen darzustellen. Das Erdbeben auf der Krim 1927 war noch stark von der Suche des jungen Staates nach adäquaten Antworten auf die hervorgerufene Zerstörung und die physische wie auch symbolische Unordnung geprägt. Die Katastrophenhilfe ging nur zu einem kleinen Teil vom Moskauer Zentrum aus; die Anstrengungen zum Wiederaufbau wurden vielmehr von den Republiks- und Lokalorganen übernommen. Bis zum Armenien-Erdbeben von 1988 waren auf der Krim zum letzten Mal in der sowjetischen Geschichte auch private und gesellschaftliche Organisationen wie die sowjetische Filiale des Roten Kreuzes in größerem Maßstab aktiv. Allerdings spielten auf der Krim 1927 die Hilfeleistung der Unionsrepubliken sowie der massive Einsatz von Freiwilligen keine bedeutende Rolle. Erst anschließend begannen diese Praktiken, die sowjetische Katastrophenpolitik zu bestimmen.

Obwohl die Geschichte des Erdbebens von Aschgabat bereits stark vom spätstalinistischen Zentralismus geprägt war, finden sich auch darin noch erstaunliche Beispiele lokaler Initiative und individueller Freiräume. So wurde die Stadt nicht mit einem systematischen Generalplan wiederaufgebaut. Außergewöhnlich für die Stalinzeit erscheint auch die kritische mediale Berichterstattung, die den von Korruption und Planungsmängel geprägten Wiederaufbau dokumentierte und kommentierte. Dabei taten sich wie beim Beispiel von 1927 und wie erneut später in Taschkent 1966 vor allem lokale Zeitungen und Zeitschriften hervor, während die zentralen Organe eine idealisierte Geschichte des Heroismus und der reibungslosen Organisation vermittelten.

Das Erdbeben und der Wiederaufbau von Taschkent sieht Raab als Höhepunkt der Fähigkeit des sowjetischen Staates, politisches Kapital aus einer Katastrophe zu schlagen. Dies äußert sich unter anderem in der massiven medialen Kampagne, die insbesondere die „brüderliche Hilfe“ sowie den Aufbau des „neuen Taschkent“ als Fest der Völkerfreundschaft inszenierte. Erstmals wurden in Taschkent alle Republiken zu umfassenden Hilfeleistungen beim Wiederaufbau verpflichtet – in Aschgabat hatte sich die Hilfe noch weitgehend auf die zentralasiatischen Republiken beschränkt. Zudem erreichte der Einsatz von Freiwilligen aus der ganzen Union eine neue Dimension. Plausibel stellt Raab am Beispiel der Katastrophenhilfe die Ambivalenz der Freiwilligkeit im Kontext des autoritären Parteistaates zwischen Druck und Altruismus dar. Damit leistet er einen interessanten Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat in der Sowjetunion. Ähnlich verhält es sich auch bei der Untersuchung der Rolle des Komsomol. Raab stellt fest, dass sich die sowjetische Jugend wenig für die ihr ideologisch zugedachte Rolle interessierte und sich vielmehr auf die Suche nach Freiräumen machte.

Im abschließenden Kapitel zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und dem Erdbeben in Armenien zeigt Raab, dass während der späten 1980er-Jahre das in Taschkent etablierte, aber bald schon veraltete sowjetische Playbook im Katastrophenfall keine adäquaten Antworten mehr liefern konnte. Auch wenn Raab bei seiner Untersuchung zu Tschernobyl auf Kontinuitäten wie das Einspannen der Republiken beim Hilfseinsatz und der Aufnahme von Evakuierten verweist, so war die Reaktion auf den GAU dennoch bereits deutlich vom in allen Bereichen prekären Zustand des sowjetischen Systems und von der neuen Qualität öffentlicher Debatten geprägt. Diese stellt Raab sehr überzeugend an der nach Tschernobyl unter der Beteiligung einer breiten Öffentlichkeit aufflammenden Protestbewegung gegen den Bau eines Kernkraftwerks auf der Krim dar.

Den Verlust der Handlungsfähigkeit des Zentrums beschreibt Raab dann am Beispiel des Armenien-Erdbebens. In dessen Folge verloren die eingespielten Muster der Katastrophenhilfe, der Mobilisierung von Freiwilligen und der Bemühung der Völkerfreundschaft endgültig alle Wirkung, weil es den Republiken nunmehr vor allem um ihre Unabhängigkeit ging. Beispielhaft dafür ist, dass selbst die Aserbaidschanische Sowjetrepublik, mit der sich Armenien faktisch im Kriegszustand befand und die durch eine Zugblockade die Hilfsmaßnahmen erschwerte, zur Teilnahme am Wiederaufbau verpflichtet wurde. Die Kampagne verfehlte dann auch wenig überraschend das gesetzte Ziel des Wiederaufbaus in zwei Jahren, obwohl sich bereits die Ansätze eines neuen Systems der Katastrophenbewältigung mit der Integration internationaler Hilfe und dem erneuerten Einbezug gesellschaftlicher Organisationen abzuzeichnen begannen.

Die große Stärke von Raabs Monographie ist deren vergleichender Ansatz. Er erlaubt es, einen großen Bogen der sowjetischen Katastrophenpolitik zu schlagen und anhand der ausgesuchten Fallbeispiele die unterschiedlichen Grade der staatlichen Kontrolle zwischen Macht und Ohnmacht plausibel und detailreich zu beschreiben. Damit bestätigt Raab überzeugend die Darstellungs- und Interpretationskraft katastrophenhistorischer Studien für die sowjetische Geschichte, indem er die Aufmerksamkeit auf sonst tendenziell wenig beachtete Aspekte lenkt. Sein komparatives Vorgehen erweist sich allerdings dann als problematisch, wenn wie im Falle der Erdbeben von Aschgabat und Taschkent noch keine ausreichende Grundlagenforschung in Bezug auf lokale Aspekte von Katastrophen und Wiederaufbau geleistet worden ist. Das führt, wie der Autor selbst eingesteht, zu eingeschränkten Aussagemöglichkeiten. Dessen ungeachtet ist Raabs Werk jedoch ein wichtiger Schritt im noch nicht ausreichend erforschten Feld der sowjetischen Katastrophengeschichte und darüber hinaus zu einem erweiterten Verständnis von Katastrophen, das individuelle und gesellschaftliche Aspekte miteinbezieht.

Anmerkung:
1 Auf die Notwendigkeit des Zusammenführens von Osteuropa- und Katastrophenforschung wurde bereits hingewiesen bei: Marc Elie / Klaus Gestwa, Zwischen Risikogesellschaft und Katastrophenkulturen, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62 (2014), S. 161–179. Auch die Wichtigkeit (global) vergleichender Katastrophenforschung wurde schon betont, siehe: Christoph Mauch / Christian Pfister (Hrsg.), Natural Disasters, Cultural Responses, Lanham 2009.

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