A. Pelinka: Die gescheiterte Republik

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Titel
Die gescheiterte Republik. Kultur und Politik in Österreich 1918–1938


Autor(en)
Pelinka, Anton
Erschienen
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerald Stieg, Deutsche und Österreichische Kultur und Literatur, Université Sorbonne Nouvelle – Paris 3

Fundamental für das Erklärungsmodell des Politologen Anton Pelinka, mit dem dieser das politische Scheitern der 1. Republik Österreich zu begründen versucht, ist das zweite Kapitel des vorliegendes Werks, das mit „Zum Begriff der Kultur“ (S. 25–44) übertitelt ist. Unter „Kultur“ versteht der Autor sehr unterschiedliche Dinge: 1. „die Politische Kultur der Republik“ (die Großschreibung des Adjektivs wird auch für den „Politischen Katholizismus“ gebraucht); 2. diese „Politische Kultur“ besteht aus einem „Neben- und Gegeneinander verschiedener politischer Kulturen“ (S. 26), die sich weitgehend mit den von Adam Wandruszka diagnostizierten unversöhnlichen, kompromissfeindlichen „drei Lagern“ überschneiden, die eine Reihe von „Subkulturen“ generieren. Hier herrscht eine begriffliche Unklarheit: bedeutet die Großschreibung die platonische Idee der Politik oder bloß die Summe der „fragmentierten“ kleingeschriebenen politischen Kulturen? Die respektvolle „Widmung“ des Buches an die Gründungsväter der Zweiten Republik (Karl Renner und Leopold Figl, Adolf Schärf und Julius Raab), die aus ihren eigenen Fehlern gelernt hätten, suggeriert eine mögliche Antwort: die wahre „Politische Kultur“ ist zentripetal auf die „Mitte“ gerichtet und erfüllt sich im Kompromiss und Ausgleich zwischen den „eindeutigen“ Forderungen der Teilkulturen; 3. die antagonistischen politischen Kulturen determinieren auch die Formen der Alltagskultur, zum Beispiel den Sport, der geeignet gewesen wäre, eine parteiüberschreitende Identität hervorzubringen. Aber auch hier herrscht trotz des Fußball-„Wunderteams“ die Konkurrenz der Lager; 4. schließlich gibt es die „Kultur – jedenfalls das, was ‚Hochkultur‘ genannt wurde und wird“ (S. 43).

Um diese geht es im Untertitel des Buches. Sie war nach Pelinka „in der Republik höchst lebendig“, machte aus ihr sogar „eine kulturelle Großmacht“. Doch diese Kultur lebte nach Pelinka „abgekoppelt von der Realität der Republik“ (S. 43), also im Prinzip unabhängig von den politischen Teilkulturen. Damit entsteht ein Dilemma, denn andererseits behauptet Pelinka: „Das ändert freilich nichts daran, dass Kultur und Politik verflochten waren“, ja er sieht entsprechend der Lagermentalität „eine politische Zerklüftung der Kultur“. „Kultur und Politik bedingen einander“, aber „Politik findet zwar grundsätzlich losgelöst von Kultur statt, aber nicht von dieser unabhängig […]. Politik bestimmt immer die Rahmenbedingungen mit, unter denen Kultur stattfindet“ (passim). Solche Binsenwahrheiten durchziehen das ganze Buch und treffen sich mit der These, dass „die Kultur“ wie die drei politischen Kulturen „zu groß“ für das kleine Österreich gewesen wäre. Dem Ideal einer Politischen Kultur entspräche dann eine dem politischen Ideal parallel laufende künstlerische und wissenschaftliche Kultur. Es fragt sich, ob so etwas jenseits absolutistischer oder totalitärer Systeme denkbar ist. Die österreichische Situation ist insofern nicht fundamental von der Kultur der Weimarer Republik verschieden, nur ist die „Zerklüftung“ der Kultur verschärft durch die Abwesenheit eines gemeinsamen Staats- und erst recht Nationalbewusstseins.

Der Politologe Pelinka beherrscht souverän die politisch-historischen Aspekte der „gescheiterten Republik“. Die Großkapitel („Die Flucht aus der Republik“ und „Periodisierung“) zeichnen alle zum Scheitern führenden politischen und kulturellen Dilemmata des ungeliebten, ungewollten ignorierten, bedrängten und schließlich vergessenen Staatsgebildes überzeugend nach, unter anderem am patriotischen Konstrukt eines ‚österreichischen Menschen‘ des Anton Wildgans. Dieses Scheitern wird aus dem Erbe der Monarchie, also den Vorgaben der „politischen Kulturen“, die alle für das kleine Österreich zu große Ziele (Weltrevolution, Politischen Katholizismus, Großdeutschland) anvisierten und zum Kompromiss unfähig waren. Pelinka versucht, gemäß seiner Huldigung an die Politiker der Mitte und des Maßes, die Schuld am Scheitern gerecht abgewogen zu verteilen. Dem Politischen Katholizismus und damit der Amtskirche wird allerdings als dem Handelnden (im Gegensatz zum Verbalradikalismus und Attentismus des Austromarxismus) ein höheres Maß an Verantwortung zugeschrieben, ganz abgesehen von der bewussten Beteiligung des großdeutschen Lagers am Untergang der Republik. Man könnte beinahe von einem durch Karl Kraus gemilderten Bild des Ständestaats (1934–1938) sprechen.

Auf dem Feld der „Hochkultur“ bewegt sich Pelinka leider bei weitem weniger souverän. Das liegt zunächst an seiner eigenen These vom angeblichen Desinteresse der Kultur an der Republik. Es gibt auch sachliche Irrtümer, zum Beispiel dass Hugo von Hofmannsthal den „Jedermann“ (1911) für die Salzburger Festspiele geschrieben habe (S. 257) oder dass „Schönberg als Adrian Leverkühn“ in Thomas Manns „Doktor Faustus“ eine „Rolle spielt“ (S. 270 und S. 121). Was hätte wohl Musil zu der Charakterisierung des „Manns ohne Eigenschaften“ als „fast schon dadaistisch“ (S. 47) gesagt? „Das Lied von Bernadette“ war nicht Franz Werfels letzter Roman (S. 269). In der Bibliographie fehlen die Arbeiten von Wendelin Schmidt-Dengler und Klaus Amann, die Wichtiges zum Verhältnis von Literatur und Politik im „Zwischenösterreich“ geliefert und sich dabei nicht auf die Autoren des heutigen internationalen Kanons beschränkt haben, sondern auch den Spuren der „Obskuren“, nicht zuletzt der Republikfeinde, nachgegangen sind. Erstaunlich ist auch das Fehlen von Friedrich Heers „Kampf um die österreichische Identität“.

Die literarische „Kultur“ der Republik wird von Pelinka auf relativ wenige Namen dieses Kanons beschränkt: Hofmannsthal, Zweig, Schnitzler, Musil, Roth und Kraus. Es fehlen kulturpolitische Figuren, die in der Ersten Republik und im Ständestaat von Bedeutung waren: Rudolf Henz, Leopold von Andrian („Österreich im Prisma der Idee“) und Guido Zernatto für den Austrofaschismus, Jura Soyfer für die Linksopposition, aber auch Hermann Bahrs Phantasmagorie vom „Stiftermenschen“. Es fehlt zur Gänze die Literatur der Provinz. Doch wesentlicher als diese Lücken scheint mir die Auswahl mancher von Pelinka als exemplarisch herangezogener Werke. Zu den vom Autor angeführten Gründen für das Scheitern der Republik gehört die „Sehnsucht nach Eindeutigkeit“ (S. 257), die er sowohl bei Otto Bauer und Ignaz Seipel wie im „Jedermann“ der Salzburger Festspiele am Werk sieht. Das Werk, das von dieser ideologischen Eindeutigkeit zeugt, war aber das ausdrücklich für die Salzburger Festspiele konzipierte „Salzburger Große Welttheater“, hochpolitische, den Ständestaat vorwegnehmende Literatur gegen die Revolution und der konkrete Anlass für Kraus‘ öffentlichen Austritt aus der katholischen Kirche im Jahre 1922 (nicht 1923).

Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ spielt zwar vor dem Ende der Monarchie, aber es ist fragwürdig, seine Welt als „ausschließlich der Welt der Grafen und der K.-k.-Sektionschefs verhaftet“ (S. 174) zu charakterisieren und Musil dasselbe politische Desinteresse zu attestieren wie den Operetten von Lehar und Kalmar. Ich denke, dass Arnheim/Rathenau und Hans Sepp sehr wohl mit der politischen Realität der Zwischenkriegszeit zu tun hatten. Pelinka übergeht Musils ironische Texte zur Anschlussfrage mit Schweigen und vergisst jene Rede, die sehr viel zur Klärung des Verhältnisses von Kultur (Literatur) und Politik hätte beitragen können. Die Rede „Der Dichter und seine Zeit“ (1934) wurde fast unverändert 1935 in Paris auf dem kommunistisch gesteuerten Kongress für die Verteidigung der Kultur gehalten. Über den Ständestaat, dessen „Kulturpolitikskultur“ er verachtet, sagt Musil: „Ich will nur sagen, dass dem Freien Geist wirklich kein Haar gekrümmt worden ist, dass er aber auch nicht gerade der staatlichen Haarwuchsmittel teilhaftig wird“. Musil besteht auf dem Primat der individuellen Schöpferkraft und verurteilt alle Systeme, die dem Künstler vorschreiben, was er zu dichten oder zu malen habe: das richtet sich unterschiedslos (aber mit Nuancen) gegen den Nationalsozialismus, den Marxismus und den Politischen Katholizismus, also gegen jene drei politischen Kulturen, die den Untergang der Republik auf dem Gewissen haben.

Bemerkenswert ist die Rolle, die Pelinka Karl Kraus, dem „Hochpolitischen“ (S. 216) zumisst, der die Republik ernst genommen hat und bei allerdings rein sozialdemokratischen Republikfeiern öffentlich aus seinen Werken las. Er war sogar – ein wichtiger symbolischer Akt – Verfasser einer republikanischen „Volkshymne“ zu Joseph Haydns Melodie. Die fragmentierte Darstellungsweise Pelinkas macht es (wie bei Musil) leider unmöglich, sich ein differenziertes Bild zu machen: Sie erlaubt es nicht, seinen „Verrat“ von 1933/34 völlig zu verstehen. Es fehlt dazu unter anderem die Abrechnung mit der Anschlussmentalität der Sozialdemokratie in „Hüben und drüben“ von 1932. Sie macht die Ernennung des radikalen Satirikers Kraus zum „Liberalen“ (S. 215–218) fragwürdig. Der wahre Liberale Musil sah in ihm einen geistigen Diktator.

Für Pelinkas Grundthese kennzeichnend ist das Großkapitel „Ungenützte Potentiale“. Ein solches „ungenütztes Potential“ war der schon im Kapitel über die Begriffsbestimmung behandelte Sport, namentlich der Fußball. Alle ungenützten Potentiale von den Frauen über die Liberalen, die Juden und Linkskatholiken bis zu den Wissenschaftlern werden Opfer der politischen Zerklüftung, statt die ihnen zustehende Vermittlerrolle spielen zu können.

Ein letztes Wort zur Darstellungsform dieses höchst anregenden Erklärungsmodells. Der häufige Perspektivenwechsel führt zu einer gewissen Fragmentierung und damit verbunden zu sehr vielen unnötigen, zum Teil wörtlichen Wiederholungen, so als müsse dem Gedächtnis des Lesers ständig nachgeholfen werden.

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