Titel
Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen


Autor(en)
Brennan, Jason
Erschienen
Berlin 2017: Ullstein Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 24,00
Rezensiert für Soziopolis und H-Soz-Kult von:
Hedwig Richter, Forschungsgruppe Demokratie und Staatlichkeit, Hamburger Institut für Sozialforschung

Gehört Politik zu den Heilsnotwendigkeiten? Diese Frage führt zum Kern des Problems. Für alle rechtschaffenen Bürgerinnen und Bürger stellt sie sich in der Regel nicht, denn selbstverständlich ist Politik für sie Bestandteil eines guten Lebens. Mögen sie verächtlich die Lippen über den Parteienbetrieb kräuseln oder die Unzulänglichkeiten des kapitalistischen Systems beklagen, so gehen sie doch wählen, spenden für amnesty international und diskutieren mit Hannah Arendt im Herzen über Trump, den Freihandel und natürlich die soziale Ungleichheit. Wie Untersuchungen zeigen: Je bürgerlicher und gebildeter, desto politischer. Hier nun setzt die Klage vieler Zeitgenossinnen und kluger Demokratieforscher an: Unser System sorge für die Exklusion der unteren Schichten aus dem politischen Spiel. Denn je ärmer die Menschen sind, desto eher bleiben sie der Wahlurne fern.1

Der amerikanische Politikwissenschaftler und Philosoph Jason Brennan fügt in seiner schmissigen Streitschrift „Gegen Demokratie“ dieser geläufigen Relation von Armut und Wahlenthaltung eine weitere hinzu: Die Wahrscheinlichkeit der Partizipationsabstinenz wachse mit der Unwissenheit. Und er stellt in diesem Buch die Frage, welchen Sinn es hat, wenn Menschen ohne Interesse und ohne Wissen Entscheidungen über das Gemeinwohl fällen. Seiner Meinung nach sollten eigentlich noch mehr Menschen von den Wahlen ferngehalten werden.

Und so fordert Brennan die Abschaffung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Das Postulat erscheint zunächst schlicht absurd. Doch lassen sich die Bedenken des Politikwissenschaftlers nicht so einfach in den Wind schlagen. Denn die Ignoranz des Volkes ist beachtlich – und diese Tatsache steht im Zentrum von Jason Brennans Argument. Er zieht die zahlreichen Studien der letzten Jahrzehnte heran, um davon umfassend Rechenschaft abzulegen. Im Jahr 1964, als die Kubakrise gerade überstanden war, wusste eine Mehrheit der US-Bürgerinnen und -Bürger nicht, dass die Sowjetunion kein Mitglied der NATO ist. Über entscheidende Themen wie den Staatshaushalt oder die Krankenversicherung besitzt nur eine Minderheit gewisse Kenntnisse.

In diesem Meer der Ahnungslosigkeit werden die Wähler von den Nichtwählern bei Weitem getoppt. Wer nun klagt, Unwissenheit und materielle Armut seien beides Folgen der generellen Ungerechtigkeit, der rennt bei Brennan offene Türen ein. Allerdings hält der Autor die Unwissenheit lediglich für ein Symptom der Ungerechtigkeit, die an ihren Wurzeln bekämpft werden müsse. Dazu seien Maßnahmen einer Regierung und das Wahlrecht hingegen ungeeignet. Deshalb schlägt Brennan in seinem Buch eine andere Lösung vor: Er plädiert für die Herrschaft der Wissenden. Nur wer einen Wissenstest besteht, soll wählen dürfen. Dabei zielt er keineswegs auf die Etablierung einer Expertokratie, sondern vielmehr auf eine Wählerschaft, die ein gewisses Interesse an Politik und Bildung mitbringt. Wie der Test im Einzelnen aussehen solle, darüber könne das Parlament beraten oder das Wahlvolk abstimmen. Brennan erwägt auch ein Hybridsystem, in dem das universelle Wahlrecht kombiniert wird mit einem epistokratischen Veto (also dem Veto der Wissenden).

Jason Brennans Thesen zeigen einmal mehr die Nützlichkeit historischen Wissens für demokratietheoretische Fragen. Ein Blick über den Horizont der letzten Jahrzehnte hinaus kann Probleme in ein neues Licht rücken und Empörungsbereitschaften sowie deren diskursive Weiterverarbeitung abmildern. Vor allem drei Punkte fallen dabei ins Auge:

1) Brennans Sorgen, Kritik und Lösungsvorschläge sind so alt wie das Massenwahlrecht. Dazu gehört das verblüffende Desinteresse des Wahlvolkes an Politik seit dem Ende des 18. Jahrhundert, also seit es Wahlen mit dem Anspruch auf Allgemeinheit gibt. Die Vermutung Brennans, ein Großteil des Wahlvolkes würde es gar nicht bemerken, wenn man ihm das Wahlrecht entzöge, hegten französische Beamte schon 1813 nach einer Wahlbeteiligung von fünf Prozent. Doch obwohl das allgemeine Wahlrecht häufig von oben forciert wurde und die Obrigkeit das Volk fast immer zur Wahlbeteiligung drängte und nötigte, gab es zugleich die Sorge vor der Überwältigung durch Volksmehrheiten.

Das begann mit Thomas Jefferson: „An elective Despotism was not the government we fought for“.2 Die Sorge blieb den USA erhalten. In den Jahren nach dem amerikanischen Bürgerkrieg forderten Intellektuelle und Geldeliten ein Ende des universal suffrage. Und tatsächlich setzten die USA damals Jason Brennans Forderung um: Sie schafften das allgemeine Wahlrecht ab. Zahlreiche Regelungen und Gesetze sorgten um 1900 dafür, dass Afroamerikaner wieder weitgehend von den Wahlen ausgeschlossen waren. Zudem installierten viele Bundesstaaten in der Folge Wissenstests für Wähler, die vor allem die ungebildeten Immigranten ausschließen sollten. Es ist daher wenig erstaunlich, dass in den USA um 1900 ein Wahlrecht diskutiert wurde, das in Belgien, Großbritannien und in gewisser Weise auch in Preußen Geltung hatte: ein Pluralwahlrecht, bei dem zwar jeder wählen darf, aber die Stimmen unterschiedlich gewichtet werden. Auch diese Möglichkeit findet sich unter den Lösungsvorschlägen, die Jason Brennan unterbreitet.

Warum sind diese historischen Details relevant? Erstens um die Erregung zu dämpfen. Wer behauptet, die aktuelle Demokratiekritik sei Symptom einer ganz außerordentlichen Krise, der täuscht sich. Krise und Demokratie gehen vielmehr Hand in Hand. Demokratie sei im Grunde die offene Debatte über die Bedeutung von „Demokratie“, so der Politikwissenschaftler Michael Saward. Es gab keine goldene Zeit der Demokratie von der manche Postdemokraten träumen und die wir lediglich wieder herstellen müssten – auch nicht in den vermeintlichen Trente Glorieuse nach 1945, als etwa Frauen aus dem öffentlichen Diskurs noch weitgehend ausgeschlossen waren. Zweitens zeigt die Geschichte, dass sich die Befürworter eines eingeschränkten oder ungleichen Wahlrechts auf Dauer nicht durchsetzen konnten – und das mit guten Gründen: Die aufklärerischen Versprechen der Moderne – von Gleichheit, Freiheit und Autonomie – können nicht aus dem Herzen des Staates exzidiert werden.

2) Linke Kritiker der aktuellen liberalen Demokratien halten Brennans Argument entgegen, dass politische Bildung mit der Wahlpraxis wachse. Doch die chronische Ahnungslosigkeit des Wahlvolkes spricht eher gegen einen Erziehungseffekt. Im Jahr 1868 wussten in den USA bei einer Befragung von über 1.000 Wählern knapp 20 Prozent nicht einmal, wen sie gewählt hatten. Und wie die von Brennan zitierten jüngeren Studien zeigen, hat sich das nicht wesentlich verbessert. Warum also sollten wir unser Wohlbefinden einer Mehrheit von Ignoranten aussetzen? Besonders stark ist auch Brennans Argument, dass Wahlrecht und Politik die Bürgerinnen und Bürger nicht etwa zu einer deliberativen Demokratie ermutigen und ertüchtigen würden. Er zeigt vielmehr auf, wie stark das Urteil von Zeitgenossen ungerecht und unsachgemäß gefällt wird, sobald politische Haltungen mit ins Spiel kommen: So entscheiden sich beispielsweise Probanden, die unter Bewerbern auswählen müssen, klar gegen die besser qualifizierte Person, wenn diese mit der gegnerischen Partei liiert wird.

Ernüchternd ist schließlich das Ergebnis jener von Brennan zitierten Studien, die die Effekte einer Wahlpflicht untersuchen: Diese ändert praktisch nichts, weder am Wissen der Wähler noch am Wahlergebnis.

3) Das letzte historische Argument ist freilich das schlagende: Das Problem der Gegner von liberalen Demokratien – egal ob sie für mehr oder weniger Partizipation sind – liegt in der anhaltenden Effektivität und Attraktivität von Demokratie. Dazu trägt wohl ganz wesentlich bei, dass moderne Demokratien noch nie als Ausdruck des ungeschmälerten Volkswillens funktionierten. Seit dem Anbruch der Moderne stand die Frage im Raum, wie sich die „Tyrannei der Mehrheit“ (so Tocqueville) einschränken lasse. Dass der Mehrheitsentscheid logisch aus dem Gleichheitsversprechen folgte, galt als Prämisse. Aber er musste gezähmt werden. Und darin waren die Verfassungsväter und später auch die Verfassungsmütter überaus kreativ: die zweite Kammer, die Verfassungen, der Rechtsstaat, ein Oberstes Gericht, die Gewaltenteilung, zuweilen eine Monarchie, eine potente Bürokratie und nicht zuletzt die Repräsentativität – sie alle schränken die Mehrheit des Wahlvolks gravierend ein. Brennans Einwand – vermutlich wird alles gut, wenn wir die Unwissenden aus dem politischen Spiel lassen – würde nur dann ziehen, wenn wir tatsächlich das Wohl und Wehe sowie alle kniffligen Fragen beständig einem Volksentscheid aussetzen würden.

Das schier Unmögliche einer Kombination von kluger Regierung und Volksherrschaft aber wird durch eine der großartigsten Erfindungen der Moderne vollbracht – den Wahlakt. So eingeschränkt der Volkswille ist, so trifft er am Wahltag dennoch maßgebliche Entscheidungen. Der Wahlakt – eine Gleichheit, Freiheit und Autonomie vereinigende Performanz – nimmt die überbeschäftigten, häufig desinteressierten und desinformierten Wählerinnen und Wähler nur wenige Minuten in Anspruch. Und er dämpft die Bedeutung des Wissens, weil die Parteien mit den zur Abstimmung gebrachten Programmen und Personalentscheidungen extrem komplexitätsreduzierend wirken. Diese Zusammenhänge übersieht Brennan.

Ist es vielleicht doch okay, wenn sich ein Großteil des Volks nicht für Politik interessiert? Hatte der amerikanische Gründungsvater John Adams recht, als er 1780 an seine Ehefrau Abigail schrieb: „I must study Politicks and War that my sons may have liberty to study Mathematicks and Philosophy. My sons ought to study Mathematicks and Philosophy, Geography, natural History, Naval Architecture, navigation, Commerce and Agriculture, in order to give their Children a right to study Painting, Poetry, Musick, Architecture, Statuary, Tapestry and Porcelaine.”3 Vielleicht täuschte er sich aber auch. Als seine Ehefrau ihn an die politischen Frauenrechte erinnerte, winkte er nur ab. Womöglich unterschätzte er die Kraft der Politik und ihren Vergnügungsfaktor – zumindest für das gebildete Bürgertum? Denn – und das ist noch eine historische Einsicht im Postskriptum – Demokratie war eben immer auch ganz wesentlich eine Sache des Bürgertums, der Schriftlichkeit, der Argumentation, der Bildung, der Abstraktion. Daran änderte auch das universal suffrage nichts.

Anmerkungen:
1 Dirk Jörke, „I prefer not to vote, oder vom Sinn und Unsinn des Wählens in der Postdemokratie“, in: Hedwig Richter / Hubertus Buchstein (Hrsg.), Kultur und Praxis der Wahlen. Eine Geschichte der modernen Demokratie, Wiesbaden 2017, S. 101–119; Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt am Main 2015.
2 Thomas Jefferson, Notes on the State of Virginia, Art. 13, 1781.
3 John Adams an Abigail Adams, 12. Mai 1780, online unter: https://founders.archives.gov/documents/Adams/04-03-02-0258 (abgerufen 8.8.2017).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit Soziopolis. http://www.soziopolis.de
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