D. Schimmelpenninck van der Oye u.a.: Reforming the Tsar's Army

Cover
Titel
Reforming the Tsar's Army. Military Innovation in Imperial Russia from Peter the Great to the Revolution


Herausgeber
Schimmelpenninck van der Oye, David; Menning, Bruce W.
Reihe
Woodrow Wilson Center Series
Erschienen
Anzahl Seiten
361 S.
Preis
$65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Gumb, Sonderforschungsbereich "Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel. Interkulturelle und intertemporäre Vergleiche", Humboldt-Universität zu Berlin

Im August 1903 kam es zu folgendem Treffen: Nikolaus II., Zar aller Reußen, empfing seinen Kriegsminister, General A. N. Kuropatkin. Letzterer beklagte sich bitter im Laufe der Audienz. Es sei ihm zu Ohren gekommen, dass für seinen Zuständigkeitsbereich Entscheidungen von außerordentlicher Bedeutung getroffen worden seien, ohne dass er, der zuständige Fachminister, davon in Kenntnis gesetzt worden sei. Wenn dies zu bedeuten habe, dass er nicht mehr das Vertrauen des Autokraten genieße, bot Kuropatkin seinem Zaren an, so würde er von seinem Posten zurücktreten. Der Zar nahm die Beschwerden seines Kriegsministers zur Kenntnis, und beschloss – nichts.

David McDonald, Spezialist für Politik- und Geistesgeschichte des Zarenreiches, sieht dieses Treffen in seinem Kommentar zum vorliegenden Sammelband als beispielhaft für das ausgehende Zarenreich (S. 320). Denn: In den militärpolitischen Debatten jener Jahre standen auf der einen Seite die Fachleute. Sie hatten ihre Vision eines zukünftigen Russlands. Sie bestand in einer modernen, effizienten Armee mit einer rationalen Verwaltung nach westlichem Vorbild. Sie sahen sich in ihren Posten durch ihre Kompetenz legitimiert. Auf der anderen Seite bezogen der Zar und seine großfürstliche Entourage die Legitimation ihrer Prärogative aus anderen Quellen. Und sie pflegten ihre eigenen militärischen Wunschbilder. Dieser Konflikt – fähige Militärs, denen die Generalstäbe der führenden Militärnationen jener Zeit Respekt zollten, auf der einen und eine archaisch anmutende aristokratische Elite auf der anderen Seite – ist das zentrale Thema dieses Sammelbandes.

Für das vorliegende Werk ist diese kurze Episode aber auch in anderer Hinsicht beispielhaft. Bis auf wenige Beiträge wird in ihm durchgehend der Zeitabschnitt von den „Großen Reformen“ der 1860er und 1870er-Jahre bis zum Revolutionsjahr 1917 behandelt. Thematisch lässt sich dieser Schwerpunkt durchaus rechtfertigen. Weitaus schwerer wiegt aber folgendes: Die meisten Beiträge untersuchen lediglich das, was sich in Korridoren und Kabinetten der zarischen Elite abspielte. Die Bewohner und Soldaten des Imperiums, die Objekte jener Reformen, kommen dagegen – wenn überhaupt – nur vereinzelt zu Wort.

Die Reformen der Armee, so die beiden Herausgeber in der Einleitung, richteten sich vor allem nach folgenden Faktoren: den militärischen Niederlagen des Zarenreiches, (internen und externen) Bedrohungsszenarien, der technologischen Rückständigkeit und, eng damit verbunden, den Kontakten mit anderen Armeen (S. 1f.). Die Herausgeber betonen weiter zu Recht, dass die Reformen nicht nur die Armee, sondern stets das Zarenreich als gesamtes betroffen hätten.

So ist es denn nur konsequent, dass der erste der fünf thematisch gegliederten Teile des Bandes („Population, Ressources, and War“) eben jenen Zusammenhang thematisiert. Von der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (Robert F. Baumann) über die Nationalitätenpolitik der Armee (Mark von Hagen), den Zusammenhang von Modernisierung und strategischem Eisenbahnbau (Jacob W. Kipp) bis hin zu den zahlreichen paramilitärischen Jugendorganisationen des ausgehenden Zarenreiches (David R. Jones) reicht hier das Themenspektrum.

Stand bislang die militärische „Hardware“ im Vordergrund, so widmet sich der zweite Teil („Intelligence and Knowledge“) der „Software“. Dass die treibenden Kräfte der Reformbemühungen der 1860er und 1870er-Jahre auch die Herzen und vor allem Hirne der Untertanen erreichen wollten, zeigt E. Willis Brooks Beitrag. Er beschreibt, wie vor allem Kriegsminister D. A. Miljutin – Paradebeispiel des „aufgeklärten Bürokraten“ im Offiziersrang – die zahlreichen Publikationen der Armee, um deren Inhalt er sich oftmals persönlich kümmerte, als Waffe für Reformen nutzen wollte. Um Informationen aber sammeln und auswerten zu können, mussten die Agenturen, die dies bewerkstelligen sollten, erst einmal gegründet werden: Dies wird von David Schimmelpenninck van der Oye, Gudrun Persson und David Alan Rich aufgezeigt. Hier wird einmal mehr deutlich, dass dabei den neu begründeten wissenschaftlichen Disziplinen der Militärgeografie und -statistik die Hauptrolle zukam. Persson kann zudem aufzeigen, wie Militärattachés bei der Analyse fremder Militärkulturen ihren Intellekt für spätere Aufgaben schulen konnten.

Es sind verlorene Kriege, die militärische Reformen anstoßen. Dies mag vielen als Binsenweisheit gelten. Im dritten Teil („Responses to Specific Wars”) macht sich Frederick W. Kagan an das Unternehmen, diese Binsenweisheit am Fallbeispiel der Reorganisation der russischen Armee im „Vaterländischen Krieg“ ab 1812 zu entkräften. Ob seine Feststellung, dass „simplistic conclusions“ nicht komplex genug seien und man stattdessen den gesamten Staatsapparat und Kriegserfahrungen in die Interpretation mit einbeziehen müsse (S. 190), dafür ausreicht, kann bezweifelt werden. Vielversprechend ist der Pfad, den Dmitrii I. Oleinikov im anschließenden, sehr knapp gehaltenen Beitrag aufzeigt. Die Erfahrungen aus ihrem langen Engagement an der kaukasischen Südflanke des Imperiums hätten, so argumentiert er, der russischen Armee nicht nur zu Krummsäbeln, sondern auch zu Neuerungen im Bereich der Logistik und Administration verholfen. Bruce W. Menning und John W. Steinberg greifen anschließend das eingangs genannte Thema auf: Diesmal für die strategischen Planung sowie die Ausbildung der Generalstäbler in den Jahren nach dem russisch-japanischen Krieg.

Teil vier ist den Personen gewidmet, die hinter den Reformen standen. Paul Bushkovitch überträgt hier das Thema des Sammelbandes in die Zeit Peter des Großen. Auch dieser, der prowestliche Reformzar musste bei seinen Neuerungen auf aristokratische Interessen Rücksicht nehmen. Gleich zwei prominente Köpfe der russischen Militärgeschichte, Fürst G.A. Potemkin und A.I. Tschernischew, stehen im Mittelpunkt des zweiten Beitrags von Menning. Beide hätten sie, so seine Argumentation in dieser faszinierenden Gegenüberstellung, ihre Erfahrungen an den Grenzen des Imperiums fruchtbringend einzusetzen gewusst. Oleg Airapetov diskutiert anschließend die vergeblichen Bemühungen im Zarenreich, einen Generalstab nach preußischem Vorbild zu bilden.

Was kann man nun, auch außerhalb des engen Zirkels von Menschen, die sich mit der Geschichte des russischen Militärs beschäftigen, von den Reformbemühungen der Armee im Zarenreich lernen? Hier zeigt sich der Band innovativ: Im abschließenden Abschnitt wird je einem Spezialisten für Politik- und Geistesgeschichte des Zarenreiches, für europäische Militärgeschichte und für Politikwissenschaft das Wort erteilt. McDonald sieht in der Armee Merkmale der gesamten Gesellschaft des Zarenreiches wie in einer Nussschale versammelt. Aus der Perspektive des Militärhistorikers mit dem Schwerpunkt Europa resümiert Dennis Showalter Forschungstrends zu Russland und konstatiert für den vorliegenden Sammelband, dass er vor allem die Eigenständigkeit militärischen Denkens in Russland, die Fähigkeit der zarischen Militärs zu objektiver Analyse und vor allem ihre Kompetenz und Professionalität herausstelle. William E. Odom schließlich streicht die Bedeutung der Geschichte für Analysen der zeitgenössischen russischen Armee heraus, die sich beispielsweise darin zeige, dass Untersuchungen von „civil-military relations“ im russischen Kontext andere Vorzeichen zu berücksichtigen hätten.

Nach der Lektüre dieses Sammelband mag man eines nicht mehr bezweifeln: Militärisch scheiterte das Zarenreich daran, dass seine Offiziere nicht das machen konnten, wozu sie ausgebildet worden waren – militärische Szenarien zu analysieren, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen und den nächsten Krieg zu gewinnen. Die Argumente hierzu werden von den Autoren durchweg auf hohem Niveau vorgetragen. Dies ist kein Wunder, haben einige von ihnen bereits viel beachtete Monografien und Aufsätze zu diesem Thema veröffentlicht. Für den Spezialisten sind ihre Ausführungen als knappe Einzelstudien von hohem Wert. Konzeptionell sind jene Aufsätze von Interesse, welche nicht die altbekannte Geschichte der „aufgeklärten Bürokraten“ wiederholen, die mit ihren Idealen an der autokratischen Verfasstheit des Imperiums scheiterten. Wie die Militärreformer gedachten, die Bauernsoldaten von ihren Neuerungen zu überzeugen, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

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