A. Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums

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Titel
Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Schulz, Andreas
Reihe
Enzyklopädie Deutscher Geschichte 75
Erschienen
München 2005: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Levke Harders, Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Bürgertum in der Nachkriegszeit

Das Umschlagfoto zeigt eine kleinbürgerliche Familienidylle aus den 1950er-Jahren: Eine Familie sitzt in der guten Stube, im Sonntagsporzellan wird Kaffee und Kuchen serviert, für die Herren und die Hausfrau auch Sherry. Schicklich gekleidet sitzen zwei junge Frauen und ein junger Mann bei den (Schwieger-)Eltern. Das Foto könnte für den Inhalt des jüngst erschienen Bandes „Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert“ der Enzyklopädie deutscher Geschichte (EDG) stehen. Die Aufnahme der kleinen Familienfeier zeigt kleinbürgerliche Wohnkultur - allerdings etwas lädiert vom Krieg. Das Aussehen des älteren Herrn lässt noch an das Kaiserreich und den Ersten Weltkrieg denken, während der junge Mann eher den Typus des deutschen Nachkriegsintellektuellen vertritt. Über allem liegt der Muff der Nazizeit und die Mühen der mageren 1940er-Jahre, aber der Aufstiegswille des so genannten Wirtschaftswunders ist zu spüren: Wir können uns das junge Paar problemlos mit VW-Käfer, kleinem Eigenheim und einer Urlaubsreise nach Italien in den 1960ern vorstellen: „Was das Lebensgefühl und den Erwartungshorizont der Bürger angeht, schien die bürgerliche Gesellschaft in das Stadium ihrer Vollendung zu treten,“ konstatiert Andreas Schulz für diese Zeit (S. 46).

Zwei Jahrhunderte Lebenswelt und Kultur auf 100 Seiten

Wie die anderen Bände der Oldenbourgschen Enzyklopädie ist der schmale Band in drei Teile von jeweils rund 50 Seiten gegliedert: Überblick, Forschungslage und Bibliografie. Das 19. und 20. Jahrhundert werden dabei gleichermaßen ausführlich (bzw. knapp) behandelt. „Die Schwerpunkte liegen bei den Lebensentwürfen und Sinnbezügen bürgerlichen Handelns, den habituellen Praktiken und Vorstellungen von ‚Bürgerlichkeit’“, gibt Andreas Schulz als Ziel des Bandes an (S. IX). Schulz, der Neuere Geschichte in Frankfurt am Main unterrichtet, habilitierte sich 1997 über Eliten und Bürger in Bremen.1 Seine langjährige Bürgertumsforschung kommt dem Band zugute, da er nicht nur eine ausgesprochen dichte und gründliche Zusammenfassung des Themas zu geben vermag, sondern auch die Forschungsdebatten pointiert darlegt. Die gründliche Bibliografie eignet sich durch ihre chronologische und thematische Anordnung hervorragend für erste Literaturrecherchen. In allen drei Teile kehren die inhaltlichen Schwerpunkte (und mit ihnen das Umschlagfoto) wieder: Modernisierung, Familie, Werte, Milieu, Konsum, Wohn- und Lebensformen.

Die Entwicklung des Bürgertums

Schulz sieht die urbane Lebensweise und die Sozialisation in der Familie als wesentliche Entstehungsbedingungen des Bürgertums im frühen 19. Jahrhundert (S. 3). Dabei stabilisierte das kulturelle Wertesystem der Familie (Ehe, Kindererziehung, Geschlechterrollen, Religion) die Hegemonie des Bürgertums. Gleichzeitig trugen die Vergemeinschaftung durch Vereinswesen und kulturelle Institutionen zur Heterogenisierung des Bürgertums bei. Ebenso veränderten bürgerliche Karrierewege und Netzwerke die sozialen Strukturen. Die Grenzen bürgerlicher Integration wurden jedoch nicht gänzlich aufgelöst, sondern weiterhin durch Herkunft, Bildung oder Religionszugehörigkeit markiert (S. 19). Die bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts spiegelte sich in Werten und Konventionen, Wohn- und Lebensformen wider. Distinktion konnte einerseits durch Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum, andererseits durch spezifischen Kulturkonsum erreicht werden. Nach der Jahrhundertwende verschoben sich Wertvorstellungen durch die Kulturkritik der Jugend- und Lebensreformbewegungen.

Der Erste Weltkrieg wurde als Kulturbruch erlebt, der in der Weimarer Republik zu einer „Krise des Bildungsbürgertums“ führte (S. 30). Die NSDAP setzte der „tristen Realität der bürgerlichen Gesellschaft die Volksgemeinschaft“ entgegen, Bürgertum wurde zum Klassenbegriff umgedeutet (S. 34). Das Bündnis des Bürgertums mit dem Nationalsozialismus bedeutete „die Aufgabe des kulturellen Führungsanspruchs […] zugunsten einer autoritär geführten Massenbewegung“ (ebd.). Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg rekonstituierte sich das westdeutsche Bürgertum durch die „mentale Entsorgung der Vergangenheit“ (S. 41). In diesem Kapitel über Bürgertum und Moderne stellt Schulz schon im Titel die Begriffe Zerfall und Wiedergeburt in Frage. Denn gerade „traditionale Vorstellungen von der Natur bürgerlicher Familienverhältnisse bildeten unverändert einen Kernbestand bürgerlicher Werte“ (S. 43).

Insgesamt aber, so Schulz, sei Bürgertum im 20. Jahrhundert„unerforschtes Terrain“ (S. 54). Dies spiegelt sich leider auch in seinem Überblick wieder. Die Nachkriegszeit schildert Schulz vor allem als Entwicklung einer Konsumgesellschaft (auf sieben von 13 Seiten). Fragen von Arbeitsmarkt, Professionen, Bildung und Politik kommen dabei zu kurz. Darüber hinaus subsumiert Schulz die letzten drei Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts unter „Postmoderne“. Er beendet seinen Überblick mit der Protestbewegung der „68er“, obwohl er im Forschungsbericht selbst konstatiert: „Es wird deutlich, dass bürgerliche Organisationsstrukturen und Lebensweisen die großen Systemtransformationen in erstaunlichem Umfang überlebt haben.“ (S. 90)

Die Entwicklung der Bürgertumsforschung

Demgegenüber stellt Schulz kenntnisreich und komprimiert auf 50 Seiten die „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung“ dar und unterscheidet dabei fünf Ansätze: modernisierungs-, stadt- und geschlechtergeschichtlich, Studien zu Generationen und solche zur kulturellen Praxis. Schulz beschreibt die Methoden, Ergebnisse und Defizite dieser Forschungsrichtungen sachlich, seine kritische Distanz zu bestimmten Ansätzen (wie der Geschlechtergeschichte oder der Feudalisierungsthese) scheint nur in den konjunktivisch gehaltenen Zusammenfassungen durch. Dem Paradigma des Niedergangs des Bürgertums im 20. Jahrhundert setzt Schulz neuere Forschungen zu Reformbewegungen und Wirtschaftseliten sowie Tenfeldes These des „Formwandels“ bürgerlicher Lebensweise (S. 81ff.) entgegen. Dies unterstrich Schulz kürzlich auf der Tagung „Bürgerkultur und Bürgerlichkeit im 20. Jahrhundert“ des Forschungsprojektes zur Geschichte des Hamburger Stiftungswesens.2

Fazit

Wegen der Kürze der Einführung (103 Textseiten) gerät die Darstellung manchmal etwas zu knapp und thesenhaft (z.B. wenn Schulz festhält: „Im Konsumbürger konkretisierte sich der Sozialtypus der Postmoderne“; S. 97). Dieses Manko ist Schulz aber nicht vorzuwerfen, da es dem Aufbau der Bände der EDG-Reihe geschuldet ist. Nichtsdestotrotz wäre es wünschenswert, dass die Darstellung des 20. Jahrhunderts über das Jahr 1968 hinausginge. Ebenso ist es überraschend, dass die DDR außer kursorischen Einträgen keine Erwähnung findet. Schließlich gab es auch in der DDR eine bürgerliche Schicht - mindestens bis zum Mauerbau. Als politisch-ideologisches Konzept hat die ‚Bourgeoisie’ in der DDR bis 1989 eine große Rolle gespielt, wollte sich der Arbeiter- und Bauernstaat doch genau dagegen abgrenzen. Dabei blieben die Werte- und Moralvorstellungen in der DDR durchgehend (klein-)bürgerlich geprägt. Nicht zuletzt das protestantische Milieu und die Friedensbewegung der 1980er enthielten im Kern bürgerliche Strukturen. Dass diese Punkte von Schulz nicht einmal angerissen werden, ist bedauerlich. Für das 19. und frühe 20. Jahrhundert lässt sich wohl kaum eine dichtere und gleichzeitig kurz gefasste Einführung finden. An der Zeitgeschichte interessierte LeserInnen sollten jedoch zusätzlich den Folgeband der EDG „Die Sozialgeschichte der DDR“ 3 zu Rate ziehen und auf eine umfassendere Einführung für die BRD hoffen.

Anmerkungen:
1 Schulz, Andreas, Vormundschaft und Protektion. Eliten und Bürger in Bremen von der Aufklärung bis ins Kaiserreich (1750-1880), München 2001.
2 Tagungsbericht „Bürgerkultur und Bürgerlichkeit im 20. Jahrhundert“ von Christine Bach, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=816.
3 Bauerkämper, Arnd, Die Sozialgeschichte der DDR (Enzyklopädie deutscher Geschichte 76), München 2005.