R. Panesar: Medien religiöser Sinnstiftung

Titel
Medien religiöser Sinnstiftung. Der 'Volkserzieher', die Zeitschriften des 'Deutschen Monistenbundes', und die 'Neue Metaphysische Rundschau' 1897-1936


Autor(en)
Panesar, Rita
Reihe
Religionswissenschaft heute 2
Erschienen
Stuttgart 2006: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
284 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Koenig, Kerkgeschiedenis (Kirchengeschichte), Theologische Universiteit Kampen

Der vom protestantischen Theologen zum sendungsbewussten Sozialdemokraten konvertierte Pfarrer Paul Göhre beschrieb kurz nach der Jahrhundertwende in einer an seine Parteigenossen gerichteten Broschüre den zunehmenden Plausibilitätsverlust des „dogmatisch verkrüppelten, mittelalterlichen Christentums unserer heutigen Kirchen“. Göhre diagnostizierte dennoch einen weiterhin spürbaren, ja wachsenden gesellschaftlichen Einfluss der Großkirchen, der in einem schmerzlichen Missverhältnis zur intellektuellen Ablehnung der kirchlichen „Weltanschauung“ durch „das liberale Bürgertum“ und das „millionenköpfige Proletariat“ stehe. Zu beklagen sei, dass die Konsequenz – Kirchenaustritt und religiöse Neuorganisation – von seinen kirchenfernen Zeitgenossen kaum gezogen werde. Wer nach religiösen Erfahrungen suche, so Göhres warnendes Fazit, sei „außerhalb der Kirchen“ kaum in der Lage, seine Bedürfnisse „zu befriedigen“.1

Formen und Strategien religiöser Vergemeinschaftung außerhalb der Großkirchen stehen im Zentrum der bei Kohlhammer als zweiter Band der Reihe „Religionswissenschaft heute“ erschienenen Dissertation von Rita Panesar über „Medien religiöser Sinnstiftung“. Die Autorin macht es sich zur spannenden Aufgabe, die Rolle von Zeitschriften in der religiösen Kommunikation und bei der Gestaltung alternativer Religionsbewegungen unter den Vorzeichen der Moderne zu untersuchen. Damit betritt Panesar ein bislang eher zaghaft erforschtes Gebiet: Denn die Flut nicht-akademischer Kleinliteraturen seit der Jahrhundertwende hat aus religionshistorischer Perspektive bisher wenig Aufmerksamkeit erlangt. Dabei ist das Feld religiöser Zeitschriften um 1900 in seiner Breite und Vielfältigkeit unübersehbar. Zahlreiche Broschüren, mehrseitige Flugschriften und kleinformatige Hefte widmeten sich einer lebensreformerisch-religiösen Vertiefung, verkündeten die verzaubernde Faszination antiker oder asiatischer Gottheiten oder entdeckten in Spiritismus oder Theosophie virtuose religiöse Praktiken, die gegenüber den Angeboten traditioneller Religion ein Mehr an individueller Erfahrbarkeit versprachen. Religiöse Periodika spielten qualitativ und quantitativ eine erhebliche Rolle bei der Distribution von Wissen, sie stellten Kommunikationsräume zu Verfügung, verbanden häufig überregionale und spezialisierte Lesergemeinden und institutionalisierten die weltanschaulich-kulturelle, oft auch wirtschaftliche, politische Meinungsbildung ihrer Interessentenkreise.

Panesar fragt auf der Grundlage von Ferdinand Tönnies „Kritik der öffentlichen Meinung“ nach der Ambivalenz von emanzipatorischen und affirmativen Tendenzen, die sich im Medium religiöse Zeitschrift widerspiegeln. Sie arbeitet heraus, wie vor dem Hintergrund beschleunigten gesellschaftlichen Wandels Zeitschriften der medialen Selbstvergewisserung und der Konstruktion von Sinn dienen, aber auch diversen „Religionsintellektuellen“ ein Forum bieten, soziale Rollenzuschreibung und Deutungshoheiten zu hinterfragen. Dabei betont Panesar in Anlehnung an José Casanova und unter Nuancierung eindimensionaler Säkularisierungsthesen den öffentlichen Charakter der Religionsdiskurse in Zeitschriften. Die Publizierung weltanschaulicher Reflektionen in Gedichten, predigthaften Andachtstexten, normativ-ethischen Sachbeiträgen, Bekenntnissen oder Erlebnisschilderungen diente der Plausibilisierung eines Religionsentwurfes und auch der biographischen Legitimierung. Mit erheblicher Resonanz im Bildungsbürgertum boten sich die Religionsdiskurse der Jahrhundertwende als Forum einer grundsätzlichen Hinterfragung kulturellen und sozialen Grundlagen der Gegenwart an und überschritten damit den Bereich privater Weltdeutung. Zunehmend wurde dabei die Wissenschaftlichkeit der propagierten Weltanschauungsentwürfe eingefordert.

Mit dem „Volkserzieher“ Wilhelm Schwaners, den Publikationen des Monistenbundes sowie Paul Zillmanns „Neuer Metaphysischer Rundschau“ stellt die Autorin exemplarisch drei höchst heterogene Zeitschriftenprojekte in das Zentrum ihrer Untersuchung, deren Lesergemeinden jedoch auch zahlreiche Berührungspunkte aufweisen. Die einzelnen Zeitschriften konnten divergierende Strömungen in ihren Leserschaften durch die hohe Präsenz der jeweiligen Herausgebergestalt, durch Traditionsbildung und Historisierung der eigenen Entstehungsgeschichte, durch ausführliche symbolische Repräsentation der Gruppenidentität in Bildern und Abzeichen sowie durch intensiv geführte Abgrenzungsdiskurse bündeln. Im Gefolge der beschriebenen publizistischen Projekte stellte sich bei der Leserschaft das Bedürfnis nach Intensivierungsangeboten ein, das in ausführlichen Diskussionen um ein Ritual, in der Gründung von Bünden und Ortsgruppen einmündete. Als Gegenpol zur anonymisierenden „Massengesellschaft“ wurde hier religiöse Erfahrung gesucht, neue „Wahlvergemeinschaftungen“ stellten sich dem Individualisierungsprozess von Religion in der Moderne entgegen.

Schwaners 1897 gegründete Zeitschrift „Der Volkserzieher“, ab 1912 vom vierteljährlich herausgebrachten Blatt „Upland“ flankiert, kann einem völkisch-lebensreformerischen Diskursfeld zugerechnet werden. Die Autoren des Blattes entstammten vorrangig einem protestantischen, nationalliberal geprägten Bürgertum, wobei die sich zunehmend professionalisierende Lehrerschaft eine wesentliche Rolle spielte. Die bis 1936 erscheinende Zeitschrift war von einer kontinuierlichen Spannung bestimmt: weltanschaulicher Pluralismus und Ablehnung jeglichen „Dogmas“ stand den Versuchen des Herausgebers gegenüber, aus seiner Lesergemeinde eine durchsetzungsfähige Organisation zu formen. Die bildungsfromm-ethisierende „Volkserzieherarbeit“ der „Selbsterziehung“, pietistisch-ergreifende „Wärmestrahlen“ aus der deutschen Literatur sowie die vielfach unklare, in Abgrenzung zu „Rom“ und der staatstragenden „Orthodoxie“ formulierte „Krist“-Religion Schwaners bildeten das Gerüst, auf dessen Grundlage eine nationale und religiöse Erneuerung erstrebt wurde. Die verschiedenen Versuche, in über die Zeitschrift hinausgehenden Vergemeinschaftungsformen, etwa im „Volkserzieherbund“ oder dem „DOM Deutschmeisterorden“ religiös-weltanschauliche Verbindlichkeit zu schaffen, erwiesen sich jedoch als kurzlebig.

Für den 1906 gegründeten „Deutschen Monistenbund“ waren Zeitschriften ein wesentliches Instrument, im Kontext der freigeistigen Bewegung die sozial und inhaltlich erheblich divergierende Mitglieder- und Interessentenschaft zusammenzuschließen und sein Gewicht als progressiver gesellschaftlicher Faktor zu dokumentieren. Der Monistenbund übernahm die Führungsrolle im 1909 gegründeten „Weimarer Kartell“, einem wichtigen, freigeistigen Zusammenschluß im Rahmen der Gebildeten-Reformbewegung, dem auch in der kirchlichen Presse und von den konservativen Eliten Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Allein vor dem Ersten Weltkrieg vervielfachten, überholten und ergänzten sich sieben teilweise recht auflagenstarke Publikationsprojekte mit mehreren Beilagen, Bundesnachrichten und Jugendblatt, die auf Kursänderungen und Anpassungen in der Bundesleitung reagierten, aber jeweils auch das Fortschrittspathos des „monistischen Jahrhunderts“ ausdrückten und erneuerten. Die Zeitschriften belegen scharfe Auseinandersetzungen zwischen Kirchenangehörigen, Freidenkern, Anthroposophen usw. um die Deutungsmacht über das Verhältnis von Naturwissenschaft, Religion und Weltanschauung. Der Monistenbund legte sich hier zunächst auf Uneindeutigkeit fest. Trotz der recht einheitlichen Absage an die „Jenseitssüchtigen“ im traditionellen Christentum rieb sich das Paradigma der „Herrschaft der reinen Vernunft“ vielfach mit dem Anspruch auf religiöse Zeitgemäßheit, der sich in Übergangsritualen wie Jugendweihen oder „Sonntagsfeiern für freie Menschen“ niederschlug. Allerdings wurde dem Religionsbegriff insofern Mißtrauen entgegengebracht, als er die monistische „Wissenschaftlichkeit“ zu verwässern und eine für überwunden erklärte, irrationale Weltsicht zurückzuholen drohte.

Die „Neue Metaphysische Rundschau“ erschien zwischen 1897 und 1917 und behandelte mit Beiträgen zu Astrologie, Spiritismus, Yoga, Magnetismus, aber auch Rassenkunde einen weitgesteckten thematischen Rahmen. Angefüllt mit Gastbeiträgen und autorisierten Nachdrucken wurde das Blatt im wesentlichen von Paul und Helene Zillmann bestritten – bei Krankheit fiel das Erscheinen aus – und verwies zudem häufig auf die Produktion der Berlin-Zehlendorfer Verlagsbuchhandlung des Herausgeberpaares. Bei zahlreichen Verbindungen zu den ariosophischen Vorstellungen Guido von Lists propagierte Zillmann ein mystisches Religionsverständnis, das die Vielfalt religiöser und kultureller Erscheinungen „aus einem einheitlichen Urgrunde verständlich zu machen“ suchte (162). Die in der Zeitschrift dargestellten unterschiedlichen Praktiken und Welterklärungsansätze wurden dabei nicht als Konkurrenzangebote, sondern harmonisierend als Optionen einer Suche nach der „Essenz des Daseins“ verbreitet. Ansätze zur Organisierung gab es in einer elitären „Waldloge“, einem hauptsächlich brieflich mit der zentralen Figur Zillmann korrespondierenden Zirkel. Der eher auf Sammlung und Integration angelegten Zeitschrift steht die enge Bindung dieser Schülergruppe an Zillmann entgegen, denen er einflußreicher seelsorgerlicher Briefpartner wurde. Am beispielhaft ausgewerteten Briefwechsel Zillmanns mit Wilhelm Hübbe-Schleiden nimmt Panesar hier die Bedeutung von Briefkorrespondenzen als Bestandteil religiöser Kommunikation in den Blick.

Es ist als Gewinn zu betrachten, dass Panesar die zahlreichen Überschneidungen und Doppelmitgliedschaften sowohl unter den beobachteten Lesergemeinden als auch gegenüber insbesondere den protestantischen Kirchen betont. Mit Homi Bhabha operiert sie mit „Denkfiguren von ‚Zwischenräumen’, ‚Spaltungen’ oder ‚Dopplungen’“, nach denen religiöse Identitäten prozesshaft stets neu verhandelt und angepasst werden müssen, was sich in den Zeitschriften niederschlug (33). Von „transzendentaler Obdachlosigkeit“ sahen sich Kirchenmitglieder und Entkirchlichte, neureligiöse Autoren und Pfarrer gleichermaßen bedroht, die ihre Opposition gegen das institutionalisierte Behördenkirchentum durch aktive Beteiligung an vielfältigen publizistischen Religionsprojekten ausdrückten. Es gerät hier jedoch mitunter zu holzschnittartig, wenn Panesar die Abgrenzungsdiskurse innerhalb der einzelnen Zeitschriften untersucht. Trotz großer kulturwissenschaftlicher Methodenfreude sucht sie in der pluralistischen, experimentierenden Farbigkeit der „neuen Religionen“ häufig die feste Struktur „Kirche“ und verstellt sich so den Blick für die Neuaufladung christlicher Sprachbestände, die gerade für die Zeitschriftendebatten konstitutiv blieben. So sah sich z.B. Schwaner, freilich mit zahlreichen rhetorischen Schnörkeln, begeistert als „Protestant“ mit „evangelischen Bündlern und Neuprotestanten” vereint, nachdem er in der Osterwoche 1905 an einem Festgottesdienst des Evangelischen Bundes im Berlin Dom teilgenommen hatte; und der Theosoph Willy Schlüter konnte nicht nur den „Volkserzieher“, sondern u.a. auch die „Ethische Kultur“ und das antikatholische, radikalpietistische „Banner der Freiheit“ des badischen Pfarrers Gottfried Schwarz bestücken.2 Gerade die Übergänge und Allianzen zwischen traditionsbezogenen, randkirchlichen und religiösen Erneuerern machen die komplexe Zeitschriftenlandschaft der Jahrhundertwende für die Religionsgeschichte so aufschlussreich; diese jenseits konfessioneller Engführungen weiter zu untersuchen, regt Panesars Arbeit an.

Anmerkungen
1 Göhre, Paul, Die Kirche im 19. Jahrhundert (Am Anfang des Jahrhunderts 5), Berlin 1902, 60ff.
2 Schwaner, Wilhelm, Protestanten, in: Der Volkserzieher 9 (1905), 72-73; zu Schlüter vgl.: Knüppel, Christoph, Vom Anarchisten zum deutschen Tatdenker. Der Lebensweg Willy Schlüters und seine Freundschaft mit Ferdinand Tönnies, in: Tönnies-Forum 7 (1998), 3-75.