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Titel
Der König und die Bücher. Sammlung, Nutzung und Funktion der königlichen Bibliothek am spätmittelalterlichen Hof in Frankreich


Autor(en)
Kopp, Vanina
Reihe
Beihefte der Francia 80
Erschienen
Ostfildern 2016: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
412 S., 25 Abb.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Brauer, Fachbereich Geschichte, Universität Salzburg

Der französische König Karl V. stellt für viele Forscher eine Lichtgestalt im „finsteren Mittelalter“ dar, da er sich für die Wissenschaften interessiert und mit Gelehrten umgeben habe. Aus französischer Sicht scheint überdies das breite volkssprachige Übersetzungsprogramm des Königs bemerkenswert. Dreh- und Angelpunkt dieser Aktivitäten war die Bibliothek, die in einem Turm der Königsresidenz im Louvre untergebracht war und sogar als Vorbild für die heutige Französische Nationalbibliothek angeführt wird. Diese Louvrebibliothek ist Thema einer neuerschienen Dissertation, in der es Vanina Kopp gelingt, viele dieser Grundannahmen in Frage zu stellen und gleichzeitig neue Zusammenhänge aufzuzeigen. Die übergreifende Fragestellung lautet: „Wie und wann wurde die Wissenssammlung, Wissensordnung und Wissensüberlieferung der Louvrebibliothek für die französischen Könige in ihrem Sinne für kulturelle und politische Handlungen eingesetzt?“ (S. 14) Zur Beantwortung zieht die Autorin wahlweise handschriftenkundliche, bildwissenschaftliche, sozial- und kulturgeschichtliche Methoden heran und berührt Forschungsfelder der Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und politischen Philosophie. Dabei durchzieht ein klarer kulturgeschichtlicher Impuls die Studie, den sie als Beitrag zu einer historisch-anthropologischen Buch- und Bibliotheksgeschichte und zur Wissenschaftsgeschichte bezeichnet. Kopp gliedert ihre Arbeit in drei Hauptteile zu Beständen, Gebrauch sowie Übersetzungen und Auftragsarbeiten, die wiederum in drei Kapitel unterteilt sind, welche jeweils mit einer Zusammenfassung enden. Anhänge zu überlieferten Handschriften, Besitzvermerken und Exlibris sowie Übersetzungen und Aufträgen, ein Register und ein Bildteil mit 25 Farbtafeln komplettieren den Band.

Der erste Teil, „Die Louvrebibliothek in der Geschichte“, beschreibt zunächst die Geschichte königlicher Buchsammlungen in Frankreich, um sowohl Kontinuitäten als auch Besonderheiten der Louvresammlung herauszustellen (Kapitel I). Karl V. übernahm bei seinem Umzug in den Louvre 1368 die bestehende königliche Büchersammlung aus dem Palast der Cité, womit die Louvrebibliothek nicht mehr als voraussetzungsloser Neuanfang gelten kann. Allerdings wuchs der Bestand kräftig, zwischen 1373 und dem Tode Karls V. 1380 von 583 auf 836 Handschriften, und blieb dann bis zur Auflösung durch den Herzog von Bedford 1429 auf ähnlichem Niveau. Durch eine Neuinterpretation der überlieferten Inventare (1373, 1380, 1411, 1424), die geradezu als Hauptquellen der Studie gelten können, gelingt es Kopp erstmals, die räumliche Gliederung der drei Bibliotheksetagen zu rekonstruieren: In der ersten Etage befanden sich vor allem der Krönungsordo und die französischen Übersetzungen; in der zweiten die höfischen Literaturgenres (Ritterromane, Enzyklopädien); in der dritten die astrologisch-astronomischen, divinatorischen und medizinischen Titel. Die Akquisition neuer Handschriften (Kapitel II) lag vor allem in den Händen des ersten Bibliothekars Gilles Malet, der im Auftrag des Königs oder auf eigene Initiative Bücher erwarb. Zusätzlich wurden die Bestände politischer Gegner konfisziert, konnten aber auch zurückerstattet werden, wenn sie wieder in der Gunst aufstiegen. Bekannter, aber weniger zahlreich sind die Bände, die durch königliche Aufträge und Mäzenatentum entstanden. Auch in institutioneller Hinsicht ist die Bibliothek ein relevantes Untersuchungsobjekt (Kapitel III): Nicht nur war die Funktion eines speziellen Bibliothekars an anderen Fürstenhöfen unbekannt, auch der Einbezug von archivalischen Dokumenten aus anderen Institutionen der Zentralverwaltung in die Sammlung und die spätere Aufsicht der Rechnungskammer über die Buchausgaben zeigen deutlich die „herrschaftsstützende Funktion der Louvrebibliothek“ (S. 136).

Der zweite Teil, „Die Louvrebibliothek und die königliche Lektüre“, rekonstruiert vielfältige Gebrauchssituationen der Bücher. Während bekannte Widmungsbilder einen in stiller Lektüre in seiner Bibliothek versunkenen König evozieren, war stilles Lesen tatsächlich der privaten Devotion vorbehalten, während im höfischen Rahmen stets vor Publikum vorgelesen wurde – und dafür bot die Bibliothek gar keinen Platz (Kapitel IV). Karls VI. Vorliebe für Chroniken und Kreuzzugsromane spiegelt den typischen höfischen Geschmack wider, während sein Vater Karl V. ein starkes Interesse an Astrologie und politischer Theorie entwickelte. Die Könige hinterließen außerdem eine Reihe von „Gebrauchsspuren“ in den Handschriften (Kapitel V). So ließen sie wertvolle Bücher in kostbare Stoffe einkleiden, wohl um sie der jeweiligen höfischen Mode anzupassen. Innovativ ist die Analyse der königlichen Unterschrift, die sich in etlichen Handschriften jeweils am Textende befand und von Kopp als Strategie persönlicher Aneignung interpretiert wird, die eine direkte Verbindung zwischen Buch und König dokumentierte. Den Höhepunkt der Untersuchung bildet eine Fallstudie zu handschriftlichen Anmerkungen am „Traité du sacre“ des Jean Golein, die Kopp als Ergebnis einer Diskussion mit Gelehrten vor dem König auswertet, um die Krönung seines Sohnes Karl (VI.) vorzubereiten. Ein gewisser Teil der Bibliothek zirkulierte auch am Hof, sei es als Ausstattung, sei es zur Erziehung, sei es zur Kurzweil (Kapitel VI). Allerdings betraf das nicht die Prachthandschriften, sondern Gebrauchshandschriften, die auch ein geeignetes Mittel der Kommunikation des Königs mit gebildeten Beratern und Bediensteten darstellten.

Der dritte Teil, „Übersetzungen, Aufträge und Rezeption zwischen Topos und Praxis“, unterzieht die bekanntesten Themen der Regierungszeit Karls V. – das Übersetzungswerk ins Französische und seine Darstellung als „weiser König“ – einer Neuinterpretation. In Bezug auf die Wahl des Französischen stellt Kopp – anknüpfend an die Studien von Serge Lusignan1 – fest, dass es nicht um eine Nationalsprache ging, sondern dass die französische Sprache nur in bestimmten politischen Kontexten gewählt wurde, die größere Verständlichkeit am Hof erforderten (Kapitel VII). Anschließend stellt Kopp in Frage, ob die überlieferten literarischen Übersetzungen generell als königliche Aufträge gelten können (Kapitel VIII). Im Anschluss an Caroline Boucher2 spricht sie nur bei klaren Hinweisen von einem Auftrag, andere Übersetzungen seien vielmehr auf Eigeninitiative der Autoren entstanden. So konnten deren Werke eine Gegengabe für frühere Leistungen darstellen oder in der Hoffnung geschaffen worden sein, einen Patron am Hofe zu finden. Auf diese Weise reduziert sich die Anzahl der beauftragten Werke so erheblich, „dass man nur von einem minimal geplanten Übersetzungsprogramm sprechen kann“ (S. 288). Anstatt eines großangelegten programme culturel hätte der König eher politisch-programmatische Schriften initiiert, die der Legitimation des Königtums galten: vor allem die „Grandes chroniques de France“, den „Songe du vergier“ und die Aristoteles-Übersetzungen. Folgerichtig gilt das abschließende Kapitel der Dekonstruktion Karls V. als ‚weisen Königs‘ (Kapitel IX). In Prologen und Widmungsbildern hätten die Autoren den Empfänger als rex philosophus stilisiert, um eine „Plattform zur Selbstdarstellung, aber auch zur weiteren Verbreitung des Werkes“ (S. 326) zu finden. Man dürfe diese Aussagen jedoch nicht so wörtlich nehmen, wie einige Forscher dies noch täten.

Die Studie ist sprachlich fast fehlerfrei und in einem klaren, weitgehend jargonfreien Stil gehalten. Ein gewisses Problem stellen jedoch Redundanzen dar, weil bestimmte Themen an mehreren Stellen auftauchen, etwa der Gründungsmythos der Französischen Nationalbibliothek in der Louvrebibliothek. Was möglicherweise die Zugänglichkeit der Einzelkapitel erhöhen sollte, fällt bei der Lektüre des ganzen Buches störend auf und hätte durch ein besseres Verweissystem oder eine striktere Gliederung vermieden werden können. Insgesamt handelt es sich aber um ein gelungenes Beispiel für einen Blick von außen auf ein nationales Prestigethema, obgleich Kopp im französischen System so beheimatet ist, dass sie manchmal Clovis statt Chlodwig schreibt. Auch wenn sie nicht die einzige kritische Stimme zu Karl V. darstellt3, kann die Autorin auf Grundlage eines innovativen medien- und gebrauchsorientierten Ansatzes, der vor allem durch die detaillierte Auswertung der Bibliotheksinventare Evidenz erhält, wichtige Paradigmen der französischen Forschung zu Karl V. und dem 14. Jahrhundert kritisch dekonstruieren und neue Interpretationen anbieten.

Die Ergebnisse dieser wichtigen Monographie laden zur Diskussion ein, denn aus dem Anschreiben gegen einen positivistischen und identitätsbildenden Mainstream resultiert auch ein gewisses Übermaß an Dekonstruktion: So wichtig die Einsicht ist, dass König Karl V. nicht ein zentrales Kulturprogramm oktroyierte, sondern die Autoren und Übersetzer einen großen Handlungsspielraum hatten und ihrerseits Angebote machten, ist das Profil des Königs jedoch nicht beliebig. So wichtig die Einsicht ist, dass Weisheitstopoi in Dedikationsschreiben nicht wörtlich genommen gehören, ist es nicht unerheblich, welcher König adressiert wird. Denn Kopp selbst stellt heraus, dass Karl V. auf Widmungsbildern häufig als einsamer Gelehrter, sein Sohn dagegen in höfischen Szenen darstellt wurde. In jeder Regierungszeit entwickelte sich ein spezifisches höfisches Klima, ein Möglichkeitsraum, in dessen Rahmen Mäzenatentum funktionierte. Insofern bietet „Der König und die Bücher“ allen Forschern, die am allgemeinen Zusammenhang von Wissen und Politik interessiert sind, eine aufschlussreiche Fallstudie.

Anmerkungen:
1 Serge Lusignan, La langue des rois au Moyen Âge. Le français en France et en Angleterre, Paris 2004.
2 Caroline Boucher, Le mise en scène de la vulgarisation. Les traductions d’autorités en langue vulgaire aux XIIIe et XIVe siècles, unveröff. Doktorarbeit École pratique des hautes études, 5e section, 2005.
3 Vgl. bereits Raymond Cazelles, Société politique, noblesse et couronne sous Jean le Bon et Charles V, Genève 1982; Bernd Carqué, Stil und Erinnerung. Französische Hofkunst im Jahrhundert Karls V. und im Zeitalter ihrer Deutung, Göttingen 2004.

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