G. Ammerer u.a. (Hrsg.): Präzedenz, Netzwerke und Transfers

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Titel
Präzedenz, Netzwerke und Transfers. Kommunikationsstrukturen von Herrscherhöfen und Adelsresidenzen in der Frühen Neuzeit


Herausgeber
Ammerer, Gerhard; Hannesschläger, Ingonda; Hlavačka, Milan; Holý, Martin
Erschienen
Anzahl Seiten
210 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Vít Kortus, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz

Präzedenz, Netzwerke und Transfers – der Titel des schlanken Sammelbandes, dem eine Tagung in Prag im September 2013 zugrunde liegt, verspricht die Abschreitung eines weitläufigen Forschungshorizontes. Jedes Glied jener Begriffstrias verweist auf jeweils einen inzwischen etablierten Forschungsstrang; darum stellt sich die Frage, welcher thematische rote Faden den Band durchzieht. Dem präzisierenden Untertitel zufolge gruppieren sich die zwölf Beiträge um zwei thematische Gravitationszentren herum: Eines davon bilden der frühneuzeitliche (Herrscher-)Hof sowie dessen kleinere Variante in Gestalt von Adelsresidenzen. Dabei interessieren die Beitragenden aus Prag und Salzburg – und dies ist der andere Aspekt – die „inneren und äußeren Kommunikationsstrukturen“ (S. 7) jener Herrschaftszentren. Der Leser ist jedoch mit dieser vagen Formulierung allein gelassen. Die Einleitung bilden lediglich auf zwei Seiten reduzierte Ausführungen, die ohne jeden Verweis auf die bestehende Literatur auskommen; viele Themen der Hofforschung werden zwar angerissen, gleichwohl nicht ausbuchstabiert. Das Buch gliedert sich in vier Bereiche. Die Titel der einzelnen Sektionen – „Zentren und Informationssteuerung zwischen den Höfen“, „Adelsgeschlechter und ihre Netzwerke“, „Künstlerleben, Karrieremodelle und internationale Vernetzungen“ und „Bedienstete, Präzedenz und innerhöfische Netzwerkstrukturen“ – lassen freilich in Bezug auf die einzelnen Beiträge nur eine sehr lose, nach Kumulationsprinzip zustande gekommene Struktur erkennen.

Geht man von den im Titel genannten Termini aus, müsste der vorletzte Aufsatz des Buches zuallererst in den Fokus geraten. Mlada Holá und Martin Holý setzen sich in ihrem Beitrag – in idealtypischer statt empirischer Manier – mit den Huldigungsreisen der böhmischen Könige nach Schlesien auseinander. Einen Schwerpunkt bilden hierbei die Kommunikationsnetzwerke, die notwendig dazu waren, die Dar- und Herstellung der Herrschaft beim Regierungsantritt eines neuen Herrschers vorzubereiten. Die Tatsache, dass es dabei nicht nur darum ging, das Abstraktum des Gemeinwesens zu veranschaulichen, sondern auch die soziale Geltung der einzelnen Akteure untereinander zum Ausdruck zu bringen, ermöglicht den Autoren, Rückschlüsse auf den Wandel in Schlesiens politisch-sozialem Gefüge zu ziehen. Der Frage nach der inneren Ordnungsmechanik der „Bedienstetenhierarchie“ am Salzburger Erzbischofshof geht Gerhard Ammerer mithilfe von Präzedenzordnungen, Dienstinstruktionen, Besoldungslisten und einer Hoftafelordnung nach. Mithilfe der zeremoniellen Grammatik stellt der Verfasser den Hof im Einklang mit neueren Forschungen als Kommunikationszusammenhang vor.

Die meisten Beiträge eint der – allerdings nirgendwo definierte – Netzwerkbegriff. Er kann einen räumlichen Aspekt zum Ausdruck bringen, wenn Kommunikationen über Distanz beschrieben werden. Der Netzwerkterminus umfasst aber auch ein zeitliches Moment, wenn soziale Beziehungen – in Form von Verwandtschaft und Freundschaft – über Generationen „vererbt“ und aufrechterhalten werden. So befasst sich Jiří Hrbek mit der hochadeligen Dynastie der Waldstein und deren Wirken am Wiener Kaiserhof. Er zeichnet anhand von vier Generationen der Waldsteins deren Agieren in Wien nach. In einer abstrahierenden Betrachtung benennt er anschließend die Gründe für ihre höfischen Erfolge. Hrbek zufolge zählten dazu die finanzielle Stabilität der Familie, die sie für die chronisch leeren habsburgischen Schatztruhen attraktiv machte; die wohlüberlegte Heiratspolitik; soziales Kapital, das andere Mitglieder der Familie in den kaiserlichen Diensten ansammelten und das aktivierbar war; die Verdienste in der europäischen Politik; die Familienstrategie, die nachfolgende Generation beizeiten am Hofe einzuführen; und das zielstrebige Erklimmen der höfischen Karriereleiter.

Der räumlichen Schattierung des Netzwerkbegriffs sind diejenigen Beiträge zuzuordnen, die sich mit der frühneuzeitlichen Kunst in ihren unterschiedlichen Ausprägungen befassen. Vera Grund wendet sich der Musikkultur im Parma und Wien des 18. Jahrhunderts zu. Deren Reformen sieht sie als Ergebnis des Wirkens lokaler Personennetzwerke, die in beiden Städten stets vor dem aktuellen politischen Hintergrund agierten. Die Nebeneinanderstellung beider Reformprojekte zeigt eindeutig, dass nicht nur kunstimmanente Gründe, sondern auch die Darstellung des Hofes als Reformtriebkräfte fungierten. Auf das Phänomen der Wandertruppen wirft Daniel Brandenburg anhand der Korrespondenz zwischen Franz und Marianne Pirker einige Schlaglichter. Die Wandertruppen leisteten laut Autor einen entscheidenden Beitrag für die Ausbreitung der italienischen (Opern-)Kultur auf dem europäischen Kontinent und mithilfe der Korrespondenz lassen sich viele Informationen über den Alltag dieser Gemeinschaften gewinnen. Der Zugang zu bestimmten Netzwerken war für die eigene Karriere von entscheidender Bedeutung, wie Elisabeth Fritz-Hilscher am Beispiel des kaiserlichen Hofkapellmeisteramtes und der hierher führenden Karrierewege zu erörtern sucht. Ihren Ausführungen liegt ein abstrahiertes Karrieremodell zugrunde, das an den Viten von Antonio Bertalli, Johann Heinrich Schmelzer, Johann Joseph Fux sowie Georg Reuter dem Jüngeren ausbuchstabiert wird. Den gleichen prosopographischen Zugang wie Fritz-Hilscher wählt auch Anna Mader-Kratky für das Wiener Hofbauamt unter Karl VI. und Maria Theresia; auch sie spricht von Karrieremodellen, auch wenn das Zwischenfazit auf S. 162 und eine Bemerkung auf S. 167 sich vehement gegen eine mögliche Idealtypik wenden. Die Verfasserin konstatiert bei den im Aufsatz analysierten Vorstehern des Hofbauamtes sowie den Hofarchitekten soziale Nähe entweder direkt zum Chef des Hauses Habsburg(-Lothringen) oder zu den mächtigsten Höflingen.

Netzwerke gründen auf Kommunikation. Einem Einzelnen – Kardinal Maurizio di Savoia – im feinen Gewebe geographisch weitgespannter sozialer und kommunikativer Beziehungen nähert sich Martine Boiteux an. Der Kirchenfürst bediente sich der Förderung von Künsten sowie Intellektuellen, um seine soziale Geltung sichtbar zu machen. Eine wichtige Rolle in der Selbstdarstellung des Kardinalsprotektors spielten feierliche Anlässe, zu deren Hauptmerkmalen ostentativer Überbietungswille des Ausrichters zählte. Boiteux beschreibt dies dicht und mit erkenntlichem Genuss. Dabei ist der Leser indes an einigen Stellen verblüfft, wenn die Autorin keineswegs vereinzelt von einer bei Krönungsfestivitäten herzustellenden „nationale[n] Einheit“ (S. 61) im Reich spricht, sie als „Akt der Suche nach der Zustimmung des Volkes“ (S. 61) interpretiert und – wohl aufgrund einer ungeschickten Übersetzung aus dem Französischen – den Herrscher mehrfach als „König der Römer“ tituliert (S. 60, 68, 69, 71).

Handelt es sich im Falle Maurizios um einen Hochadeligen mit etabliertem sozialem Rang, präsentieren Jutta Baumgartner und Ingonda Hannesschläger mithilfe der Bildungsreise von Jakob Hannibal II. Graf von Hohenems die Einführung eines jungen Adeligen in seiner Herkunft entsprechende gesellschaftliche Kreise. Die überlieferte Korrespondenz belegt einerseits, dass die Italienreise in Jakobs Falle akribisch geplant wurde. Andererseits hält sie fest, dass die soziale Initiation des Grafen entlang verwandtschaftlicher Linien stattfand; sie diente auch der Beziehungspflege innerhalb der über Europa verstreuten Familie – eine als notwendig erachtete Arbeit am Sozialen.

Wird in den bisher besprochenen Beiträgen der Netzwerkterminus zur Metapher für soziale Kontakte, fokussiert Ulrike Seeger in ihren Ausführungen eher die Kunsterzeugnisse, setzt sie in Verbindung mit den Militärchargen während der Türkenkriege und überformt somit die geflügelte Sentenz Inter arma silent Musae zumindest partiell zur Kategorie epistemischen Unrechts. Das Feldlager versteht Seeger als einen Umschlagplatz, an dem soziales und symbolisches Kapital ausgehandelt wurde, exklusive Kunstgegenstände vermittelt sowie bestellt und Architekten empfohlen wurden.

Dem dritten Stichwort – Transfer – lassen sich schließlich zwei Beiträge zuordnen. Jaroslava Hausenblasová analysiert im Einklang mit ihrem längerfristigen Interesse an der historiografischen Leerstelle der Herrschaft Ferdinands I. in Böhmen den Warenfluss am Prager Hof und dessen Einbindung in das habsburgische Residenznetzwerk, das sich hauptsächlich zwischen Prag, Wien und Innsbruck erstreckte. Dabei prägten Prags wirtschaftliche Lage nicht nur der Import und die Aufträge für die dort ansässigen Kaufleute und Handwerker, sondern auch der Export an andere Residenzorte der Habsburger. Die Autorin sieht in der wirtschaftsgeschichtlichen Perspektive in der Anwesenheit des Hofes den entscheidenden Faktor im Aufstieg Prags zu einem der florierenden europäischen Herrschaftszentren. Die Spannung zwischen Hof und Stadt am Beispiel des Freiberger Kantorats prägt auch Michael Mauls Mikrostudie. Ihm zufolge scheinen in Hinblick auf die Musikerbiografien Stadt und Hof zwei unterschiedliche, einander weitgehend hermetische Welten gebildet zu haben. Ein signifikantes Merkmal des höfischen Systems war das extensive Empfehlungswesen, das die Zirkulation der Musiker im höfischen Milieu aufrechterhielt und somit den Informationstransfer unterstützte.

Der vorliegende Sammelband ist zweifelsfrei ein willkommener Beweis für die positiv zu wertende und weiterhin zu kultivierende Internationalisierung der historischen Forschung in der mitteleuropäischen Region, seine einzelnen Beiträge erschließen neue Quellenbestände, behandeln vielfältige Themen und nehmen die Frühe Neuzeit in ihrer Gänze vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in den Blick. Doch genau dieser ambitionierte Anspruch, gepaart mit der ausbleibenden Verortung des Buches in der Forschungslandschaft und einer mangelnden inneren Kohärenz wird ihm zum Verhängnis. Er ist deshalb in Hinsicht auf die weitere Entwicklung der Hof- und Residenzforschung nicht mehr als die Summe seiner Beiträge: wieder einmal.

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