Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin
non finito, unfinished, unfertig: Fluchtlinien des Kreativen in Kunst, Literatur und Wissenschaft
»Ein Werk zu vollenden, heißt es zu töten.« Ein Kraftzentrum der Kunstmoderne manifestiert sich in Sätzen wie diesem. Das non finito - die Vorstellung des nicht zu vollendenden Werkes - hat die Künstler seit der Renaissance aktiviert und fasziniert. Der Entwurfcharakter von Leonardos Werk steht im Zeichen der prescienca, dem Vor-Wissen angesichts der stets zu erahnenden Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit der Natur. Die Moderne lenkt die Aufmerksamkeit auf das Prozessuale, die bild- und textgenetische Dimension des Kreativen. Zum Eklat des Unfertigen - der Unmöglichkeit, die lebendige Natur in der Kunst nachzubilden und zu übertreffen – kommt es in Balzacs Künstlernovelle Le Chef-d’œuvre inconnu von 1830. Die Unmöglichkeit, die Vision des Künstlers in einem Werk zu vergegenständlichen, animiert die Einbildungskraft auf dem Weg zur abstrakten Kunst der Moderne. In der literarischen Gefolgschaft dieses Umbruchs lässt sich die Revision des Werkcharakters verfolgen, wie Deleuze sie retrospektiv formuliert hat: das »Schreiben ist eine Sache des Werdens, stets unfertig, stets im Entstehen begriffen.« Valéry notiert, dass »das Werk niemals notwendigerweise vollendet« sei, der Künstler »gewinnt daraus die Mittel, es zu vernichten und noch einmal zu machen.« Kafkas erzählerische Welt ist geprägt vom unentwegten Aufschub in Raum und Zeit. Es ›verzehrt‹ sich auf einzigartige Weise im Iterativen und Seriellen, im Supplement. Umberto Eco hat in seinem für die moderne Kunst, Literatur und Literaturtheorie inzwischen kanonischen Opera aperta von 1962 die Paradigmen des Werkganzen und der Autorschaft grundsätzlich in Frage gestellt, aber weiter als Referenzrahmen gelten lassen. In der bildenden Kunst und Malerei setzt der Verzicht auf die Finalität des Schaffensprozesses Energien frei für einen anderen Umgang mit der Materialität: die Experimente des Übermalens und Überblendens bei Gerhard Richter beispielsweise. Die moderne Musik verabschiedet in ihren Experimenten - mit der fortlaufenden Erweiterung, Korrektur und Ergänzung des vorgegebenen Materials - die ultimative Geltung des vollendeten Werks. Für die seit den neunziger Jahren von Literatur und Kunst inspirierte Wissenschaftstheorie der »Experimentalkulturen« ist der Kerngedanke des unfinished eine selbstverständliche Voraussetzung des prozessualen Denkens. In diesem Programm der Mosse-Lectures soll es im Rückblick auf die Vorgeschichte des modernen infinito um eine erweiterte Spurensuche der hier wirksamen kreativen Energien gehen, um künstlerische, literarische und medial inspirierte Versuche und Praktiken dieser Figuration in neuerer Zeit. Und in neuester Zeit? Es spricht vieles dafür, das Unfertige gewähren zu lassen und das Perfekte zu meiden.