Das unvollständige Ganze. Die unendliche Rede in Marcel Prousts ›Recherche‹

Das unvollständige Ganze. Die unendliche Rede in Marcel Prousts ›Recherche‹

Veranstalter
Mosse-Lectures
Veranstaltungsort
Senatssaal, Unter den Linden 6
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.11.2017 -
Website
Von
Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin

Prousts großes Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (À la recherche du temps perdu) steht unter dem Vorzeichen eines Widerstreits: dem Antagonismus zwischen dem Willen zur geschlossenen Form und der Tendenz zur grenzenlosen Plauderei, zum endlosen Geschwätz. Dieser Widerstreit lässt sich bereits an der Werkgenese beobachten: Proust schrieb den Anfang und den Schluss des Romans zuerst. Er setzte mit der »wiedergefundenen Zeit« einen meta-physischen Rahmen, um dann die Erfahrung machen zu müssen, dass sein Werk aus der Mitte heraus zu einem endlosen Quell des Schreibens mutierte. Das Ausufern der Erzählung lässt sich in den ins Manuskript eingeklebten »Paperoles« bereits auf materieller Ebene nachvollziehen. Die von Proust intendierte metaphysische Rettung verlorener und vertaner Zeit im Romankunstwerk erweiterte sich im Prozess des Schreibens zu einem Unternehmen, dem nichts zu unwichtig, zu entlegen, zu ephemer sein konnte, um Erwähnung zu finden. Der Roman öffnet sich für die großen Fragen der Kunst, des Lebens und Sterbens ebenso wie für den ganz und gar unmeta-physischen Klatsch, Tratsch und das Rauschen alltäglicher Kleinigkeiten. Es ist die die endlose Plauderei, die in Prousts Roman Regie führt.

Barbara Naumann ist Professorin für deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich seit 2000, zuvor in Hamburg, Habilitation am Peter-Szondi-Institut der FU Berlin mit einer Arbeit über Ernst Cassirer und Goethe; Arbeitsschwerpunkte u.a. die Beziehungen der Literatur zu Musik und bildender Kunst, Poetik des Romans; Veröffentlichung u.a. "Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaft" (hg. 2005), "Bilder-Denken. Bildlichkeit und Argumentation" (hg. mit Edgar Pankow, 2004), Bildkritik im Roman" (2012), "Ein Unendliches in Bewegung. Das Ensemble der Künste im Wechselspiel" (hg. mit Margrit Wyder, 2012).

Beginn: 19:00

Programm

non finito, unfinished, unfertig: Fluchtlinien des Kreativen in Kunst, Literatur und Wissenschaft

»Ein Werk zu vollenden, heißt es zu töten.« Ein Kraftzentrum der Kunstmoderne manifestiert sich in Sätzen wie diesem. Das non finito - die Vorstellung des nicht zu vollendenden Werkes - hat die Künstler seit der Renaissance aktiviert und fasziniert. Der Entwurfcharakter von Leonardos Werk steht im Zeichen der prescienca, dem Vor-Wissen angesichts der stets zu erahnenden Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit der Natur. Die Moderne lenkt die Aufmerksamkeit auf das Prozessuale, die bild- und textgenetische Dimension des Kreativen. Zum Eklat des Unfertigen - der Unmöglichkeit, die lebendige Natur in der Kunst nachzubilden und zu übertreffen – kommt es in Balzacs Künstlernovelle Le Chef-d’œuvre inconnu von 1830. Die Unmöglichkeit, die Vision des Künstlers in einem Werk zu vergegenständlichen, animiert die Einbildungskraft auf dem Weg zur abstrakten Kunst der Moderne. In der literarischen Gefolgschaft dieses Umbruchs lässt sich die Revision des Werkcharakters verfolgen, wie Deleuze sie retrospektiv formuliert hat: das »Schreiben ist eine Sache des Werdens, stets unfertig, stets im Entstehen begriffen.« Valéry notiert, dass »das Werk niemals notwendigerweise vollendet« sei, der Künstler »gewinnt daraus die Mittel, es zu vernichten und noch einmal zu machen.« Kafkas erzählerische Welt ist geprägt vom unentwegten Aufschub in Raum und Zeit. Es ›verzehrt‹ sich auf einzigartige Weise im Iterativen und Seriellen, im Supplement. Umberto Eco hat in seinem für die moderne Kunst, Literatur und Literaturtheorie inzwischen kanonischen Opera aperta von 1962 die Paradigmen des Werkganzen und der Autorschaft grundsätzlich in Frage gestellt, aber weiter als Referenzrahmen gelten lassen. In der bildenden Kunst und Malerei setzt der Verzicht auf die Finalität des Schaffensprozesses Energien frei für einen anderen Umgang mit der Materialität: die Experimente des Übermalens und Überblendens bei Gerhard Richter beispielsweise. Die moderne Musik verabschiedet in ihren Experimenten - mit der fortlaufenden Erweiterung, Korrektur und Ergänzung des vorgegebenen Materials - die ultimative Geltung des vollendeten Werks. Für die seit den neunziger Jahren von Literatur und Kunst inspirierte Wissenschaftstheorie der »Experimentalkulturen« ist der Kerngedanke des unfinished eine selbstverständliche Voraussetzung des prozessualen Denkens. In diesem Programm der Mosse-Lectures soll es im Rückblick auf die Vorgeschichte des modernen infinito um eine erweiterte Spurensuche der hier wirksamen kreativen Energien gehen, um künstlerische, literarische und medial inspirierte Versuche und Praktiken dieser Figuration in neuerer Zeit. Und in neuester Zeit? Es spricht vieles dafür, das Unfertige gewähren zu lassen und das Perfekte zu meiden.


Redaktion
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Land Veranstaltung
Sprach(en) der Veranstaltung
Deutsch
Sprache der Ankündigung