Ausgangspunkt:
Die feministische Forschung hat deutlich gemacht, daß eine Auseinandersetzung mit den vielfachen Verknüpfungen und Interferenzen zwischen den Begriffen “Geschlecht” und “Nation” produktiv ist. Dies gilt sowohl für die Untersuchung der unterschiedlichen Konstruktionen und Erfahrungen von Geschlechterverhältnissen wie auch für die Analyse von Konzeptionen politischer Legitimität, unter denen jene der “Nation” im 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle einnimmt. “Geschlecht” ist nicht unabhängig von den politischen, ökonomischen und kulturellen Verhältnissen, in denen es entworfen und erfahren wird, nationale Identitäten und ihre politischen und sozialen Realisierungen sind nicht geschlechtsneutral. Wir gehen vielmehr von der These aus, daß die Kategorie “Geschlecht” ein Schlüsselelement von Nationskonzeptionen und Nationalismen darstellt.
Zeit und Raum:
Dem Terminus “Zwischenkriegszeit”, der die (regional nicht gänzlich identische) Zeitspanne zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet, ist die historische Perspektive inhärent – wie die Zeitbestimmungen “Mittelalter” oder “vor der Revolution” setzt er ein Wissen voraus, das den ZeitgenossInnen nicht zugänglich war. Die Frage nach Zwischenkriegszeiten verweist daher immer auch auf vergangene Zukunftsperspektiven: auf Hoffnungen und Entwürfe möglicher anderer Verläufe der Geschichte. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war in Mittel- und Osteuropa dadurch geprägt, daß sich hier eine Vielzahl von Staaten mit unterschiedlichen politischen Systemen neu konstituierte, die sehr unterschiedliche politische, ökonomische und kulturelle Entwicklungen durchmachten, schwere politische und ökonomische Krisen eingeschlossen. Diese Entwicklungen wurden durch den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen dramatischen Veränderungen unterworfen oder überhaupt abgeschnitten. Welche Rolle dabei das Konzept der Nation spielte, und ob und inwiefern ihm die Logik des Krieges bereits in Friedenszeiten innewohnte und welche Konsequenzen dies für das Geschlechterverhältnis hatte, sind zentrale Fragen der historischen Auseinandersetzung mit dieser Zeit. Mit der Auflösung der Sowjetunion und einer Reihe von Neukonstituierungen von politischen Systemen und (national begründeten) Staaten gewinnt das historische Interesse an der Auseinandersetzung mit dieser Zeit und diesem Raum neue Bedeutungen, die von der Legitimation aktueller Nationalisierungen bis zur radikalen Kritik nationalstaatlicher Politikkonzeptionen reichen.
Ziele:
Die Tagung “Zwischen Kriegen: Nationen, Nationalismen und Geschlechterverhältnisse” will
sich intensiv und ausführlich mit ausgewählten Fallbeispielen auseinandersetzen,
die unterschiedlichen Bezüge und Wechselwirkungen zwischen den Identitätskonzepten “Nation” und “Geschlecht” ins Zentrum der Diskussion stellen,
gemeinsam an Begriffen und theoretischen Konzepten arbeiten und überprüfen, inwieweit die vorherrschenden theoretischen Modelle, die – mit wenigen Ausnahmen – sowohl in der feministischen Forschung wie in der Nationalismusforschung stark von Beispielen außerhalb Mittel- und Osteuropas geprägt sind, hier tragfähig sind,
die kritische Reflexion der Rolle der Geschichtswissenschaft im Zusammenhang mit nationalistischen Begründungen politischer Strategien und Systeme vorantreiben.
Themenschwerpunkte:
Ausgangspunkt für die Diskussion soll zum einen die Frage nach Prozessen der Aushandlung von Geschlechterverhältnissen in den neuen, nationalstaatlich konstituierten, politischen Einheiten sein, zum anderen sollen Geschlechterbilder und geschlechtsspezifische Erfahrungen im Kontext von Nationalisierungsprozessen untersucht werden.
Aushandlung von Geschlechterverhältnissen in neuen politischen Einheiten:
Konzeptionen von Staatsbürgerschaft: Formen, Bedeutung und Grenzen der rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter in den unterschiedlichen neuen politischen Entwürfen und Realisierungen; Chancen und Grenzen der politischen Partizipation von Frauen
Re/Konstruktionen der Kategorie Geschlecht in nationalstaatlichen Kontexten: zivilrechtliche Definitionen, Kulturpolitik, Sozialpolitik, Familienpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Bevölkerungspolitik
“Alte” Frauenbewegungen in neuen Staaten: neue Definitionen; Übernahme von Argumenten, Rhetoriken, Organisationsformen der Frauenbewegungen durch soziale und politische Bewegungen oder Regierungen; daraus erwachsene Handlungsspielräume und Beschränkungen für Frauen
Wechselwirkungen zwischen politischen Umbrüchen (von demokratischen zu autokratischen Systemen) und Transformationen der Geschlechterverhältnisse
Prozesse der Nationalisierung: Geschlechterbilder und geschlechtsspezifische Erfahrungen:
Geschlechtsspezifische Bilder als Metaphern politischer Machtverhältnisse und Formen der Symbolisierung ethnischer/nationaler Zugehörigkeit
Frauen als Akteurinnen und Trägerinnen nationalistischer Politik, als Vermittlerinnen von nationaler Kultur, als Reproduzentinnen von “vorgestellten Gemeinschaften”
Minderheitenpolitik und deren Folgen für die Geschlechterverhältnisse: ethnisch oder konfessionell gemischte Ehen; Rolle von Frauen in Akkulturationsprozessen; geschlechtsspezifische Betroffenheiten von Dissimilationsprozessen
Rolle des Antisemitismus bei der Herstellung und Affirmation nationaler Identitäten: geschlechtsspezifischer Antisemitismus/Geschlechterbilder des Antisemitismus
Gelobte Länder‘: Geschlechterverhältnisse und geschlechtsspezifische Handlungsräume im Kontext von Auswanderungsbewegungen; Entwürfe eines neuen Geschlechterverhältnisses in einem neuen Land? (Zionistische Bewegungen, Amerikawanderungen, politisch und ökonomisch motivierte Auswanderungen von KommunistInnen in die SU)
Erzwungene Wanderungen, Massenrepressionen – geschlechtsspezifische Dimensionen
Die geplante Tagung schließt an eine 1998 vom DHI Warschau durchgeführte Konferenz an, bei der ForscherInnen aus Polen, Rußland, Tschechien, der Ukraine, Lettland, Deutschland und Österreich sich mit “Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848-1918” auseinandergesetzt haben. Um sowohl inhaltlich als auch personell für Kontinuität zu sorgen, sollen einige TeilnehmerInnen der ersten Konferenz wieder eingeladen werden. Außerdem wollen wir uns im wesentlichen auf die Auseinandersetzung mit exemplarischen Fallanalysen aus dem gleichen geographischen Raum beschränken: europäischer Teil der Sowjetunion, Baltikum, Polen, Tschechoslowakei, Deutschland, Österreich.
Simultanübersetzungen in/aus dem Russischen, Polnischen, Englischen und Deutschen werden bei der Tagung gewährleistet sein. Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant.
Wir bitten um die Einreichung von Vorschlägen für Beiträge zu einem der angegebenen Fragenkomplexe.
Umfang: 1 Seite
Sprachen: Englisch, Deutsch
Termin: 31. 7. 1999
Adressen: Deutsches Historisches Institut Warschau (Sophia Kemlein)
Institut für Zeitgeschichte Wien (Johanna Gehmacher)
Rückantwort: bis 15. 9. 1999
Medien: Folien, Dias, Videos etc. sind willkommen; konkrete technische Bedürfnisse bitte frühzeitig mit den Veranstalterinnen abklären