Editorial: Das Ende der Urbanisierung? Wandelnde Perspektiven auf die Stadt, ihre Geschichte und Erforschung

Von
Karsten Borgmann

Ein Kooperationsprojekt von H-Arthist (http://www.arthist.net/) und H-Soz-u-Kult
Logos H-ArtHist/HSK

Editorial (11.09.2006):

Liebe Leserinnen und Leser,

unter dem Titel "Das Ende der Urbanisierung?" werden H-Soz-u-Kult und H-Arthist in den folgenden Tagen eine Reihe von Texten zur Geschichte und Erforschung der Stadt veröffentlichen. Der Grund dafür, diese Frage als Motto über einen Themenschwerpunkt beider Netzwerke zu stellen, liegt nicht allein in einer spürbaren Konjunktur von elektronisch publizierten Beiträgen aus dem Umkreis "Stadtgeschichte".1 Anlass war auch die Wahrnehmung, dass die fachliche Beschäftigung mit dem Thema Stadt, ihrer Geschichte und Erforschung aktuell in Bewegung zu sein scheint.

So ist einerseits festzustellen, dass "post-urbane" oder "neo-urbane" Untersuchungsperspektiven in Stadtplanung, Städtebau, Stadtsoziologie, Architektur und Stadtgeschichte vermehrt anzutreffen sind, was die Frage erlaubt, ob der Prozess der "Urbanisierung" als ein vom industriellen Strukturwandel Europas vorangetriebenes Phänomen selber zu historisieren ist. Andererseits feiert das kulturelle Bild der Stadt als Metapher und Leitbild kommunalen Lebens nach oder trotz des genannten Strukturwandels eine Renaissance. Die Auseinandersetzung mit dem imaginären Raum der Stadt beförderte in der Vergangenheit immer wieder die Überwindung von traditionellen Grenzen, und seien es nur die Begrenzungen eingefahrener disziplinärer Sichtweisen.

Die Statements unseres aktuellen Themenschwerpunkts zeigen jedenfalls, dass das Bewusstsein für einen fortgeschrittenen Stand der Urbanisierung von einem gesteigerten Interesse an der Fortentwicklung des Urbanen begleitet wird. Die Beiträge, die teilweise in Reaktion auf den im Januar veröffentlichten Call for Papers eingereicht wurden, teilweise von den Herausgebern auch unmittelbar angefragt worden sind, liefern zumindest keinen Hinweis auf ein Ende von Urbanität als emphatischem Gegenstand kultursoziologischer oder kulturhistorischer Analysen.

Friedrich Lenger, dessen Beitrag zusammen mit diesem Editorial veröffentlicht wird, stellt einleitend die Frage nach "Der Zukunft der europäischen Stadt". Er nennt drei Charakteristika des europäischen Stadtmodells, die bei einer Projektion des Modells auf globale Verhältnisse zu problematisieren sind und die auch in den folgenden Beiträgen des Forums aufgegriffen werden: Suburbanisierung, öffentliche Räume und soziale Polarisierung.

Mit der Suburbanisierung und Schrumpfung von Städten, gesehen als Reaktion auf postindustrielle Strukturveränderungen, beschäftigen sich am Dienstag die Beiträge von Anne Pfeifer und Meik Woyke. Beide wenden sich gegen eine Sichtweise, die diese Prozesse nur als Enturbanisierung und Zerfall des Urbanen wahrnimmt, und plädieren für neue stadtplanerische Handlungsoptionen, bzw. neue Forschungsperspektiven.

Verdichtung des städtischen, aber auch des ländlichen Raums, steht dagegen am Mittwoch im Mittelpunkt der Beiträge von Wolfgang Sonne und Sonja Hildebrand. Beide stellen fast komplementäre Modelle urbanen Raums im Wandel vor, wobei insbesondere die Stadtplanungsgeschichte des 20. Jahrhunderts kritisch reflektiert wird: als reale Entwicklung wie als historiografisches Konstrukt.

Dass eine Kulturgeschichtsschreibung der Stadt - insbesondere des städtischen öffentlichen Raums - alles andere als an ihr Ende gekommen ist, verdeutlicht am Donnerstag die programmatische Musterung dieses Feldes durch Moritz Föllmer und Habbo Knoch. Ihrem "tour d'horizon" ist die Auseinandersetzung mit einem Klassiker der Stadtforschung an die Seite gestellt. Kirsten Wagner untersucht Kevin Lynchs mehrfach aufgelegte und vielzitierte Studie "The Image of the City" (1960), die mit dem Versuch einer Erfassung der Stadt als geordneter Menge von Gestaltelementen nicht nur die Stadtplanung sondern auch die Kulturtheorie inspirierte.

Am Freitag wird das Forum vorerst beschlossen mit drei Beiträgen, die alle auf unterschiedliche Weise die dynamische Veränderung, und auch Neubildung, städtischer Gemeinschaftsformen im Zuge der umfassenden Verbreitung digitaler Kommunikationstechnik betonen. Per-Ru Tsen analysiert die Auswirkungen von Informationstechnologie auf die Stadt als Standort für Börsen-Unternehmen, Stefan Haas schildert die Auflösung traditioneller urbaner Wohnformen von Immigranten/innen und Oliver Frey spürt der fluiden Gruppe der "kreativen Milieus" in der Stadt nach. Alle zeigen wie, u.a. bedingt durch neue Kommunikationswege, neue Formen sozialer Organisation im urbanen Raum entstehen.

Die Beiträge werden bis Freitag dieser Woche per Mail verschickt. Sie sind aber auch bereits jetzt auf dieser Seite abzurufen. Die Texte dieses Forums werden außerdem, wünschenswerterweise ergänzt um weitere Reaktionen, einen weiteren Band der elektronischen Publikationsreihe "Historisches Forum" bilden.2

Ein Ende der Beschäftigung mit der Stadt und ihrer Geschichte ist also nicht abzusehen. Eine vollständige Berücksichtigung aller in diesem produktiven Feld wissenschaftlicher Betätigung laufenden Arbeiten und Ansätze konnte dabei naturgemäß nicht das Ziel dieses elektronischen Diskussionsforums sein, die Anregung weiterer Diskussionen - gerade auch zwischen den Disziplinen - wäre es dagegen in eminenter Weise.

Berlin, im September 2006
Karsten Borgmann, Matthias Bruhn, Sven Kuhrau, Marc Schalenberg

Anmerkungen:
1 Abfrage: "Stadtgeschichte" aus der HSK-Datenbank:
<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/suchen/type=suchen&geschichte=81e=81> (07.09.2006)
2 Vgl. <http://edoc.hu-berlin.de/histfor/archiv.php >

Übersicht über die Beiträge:

Zur Einführung: Das Ende der Urbanisierung? Wandelnde Perspektiven der Stadtgeschichte und Stadtentwicklung
11.09.2006: Karsten Borgmann., Matthias Bruhn, Marc Schalenberg, Sven Kuhrau (Berlin / Zürich), Editorial
11.09.2006: Friedrich Lenger (Gießen), Zur Zukunft der europäischen Stadt

Urbanisierung und Suburbanisierung
12.09.2006: Meik Woyke (Hamburg), Einfamilienhausidyllen, Shopping-Center, Golfplätze. Grundzüge der interdisziplinären Suburbanisierungsforschung und erfahrungsgeschichtliche Perspektiven
12.09.2006: Anne Pfeifer (Zürich), Schrumpfung - Ende der Urbanisierung und Neuschöpfung des Urbanen

Wandelnde Konzepte der Stadtentwicklung
13.09.2006: Wolfgang Sonne (Glasgow), Kultur der Urbanität. Die dichte Stadt im 20. Jahrhundert
13.09.2006: Sonja Hildebrandt (Zürich), Urbane Schweiz. Urbanistische Konzepte für die Schweiz von 1930 bis heute

Kulturtheoretische Überlegungen
14.09.2006: Moritz Föllmer / Habbo Knoch (Berlin), Grenzen und urbane Modernität. Überlegungen zu einer Gesellschaftsgeschichte städtischer Interaktionsräume
14.09.2006: Kirsten Wagner (Berlin), Die visuelle Ordnung der Stadt. Das Bild der Stadt bei Kevin Lynch

Stadt und Kommunikation
15.09.2006: Pe-Ru Tsen (Berlin), Electronic Markets and the City
15.09.2006: Oliver Frey (Wien), Ein neuer Stadttypus in der Wissensgesellschaft: Die amalgame Stadt der kreativen Milieus
15.09.2006: Stefan Haas (Toronto), Designing a Virtual Habitat. Sinngenerierung in posturbanen Migrantenstädten am Beispiel Torontos

Zitation
Editorial: Das Ende der Urbanisierung? Wandelnde Perspektiven auf die Stadt, ihre Geschichte und Erforschung, In: H-Soz-Kult, 10.07.2017, <www.hsozkult.de/text/id/texte-665>.
Redaktion
Veröffentlicht am
Weitere Informationen
Sprache