Die Europäizität der ostmitteleuropäischen Zeitgeschichte

Von
Christoph Boyer, Universität Salzburg

Für die europäische Nachkriegsgeschichte konstatiert Boyer zwei grundlegende Makromodelle: den demokratisch-marktwirtschaftlichen Wohlfahrtsstaat in Westeuropa einerseits und die staatssozialistischen Modelle in Mittel- und Ostmitteleuropa andererseits. Die beiden Modelle unterschieden sich dabei weniger grundsätzlich, wie oft angenommen wurde: Beide antworteten auf die Krise des Kapitalismus und Liberalismus seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und beide Modelle wollten Gesellschaften, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, planen, regulieren, transformieren, modernisieren und dadurch Wohlstand schaffen. Die Frage nach der „Europäizität Ostmitteleuropas“ ist für den Autor ein komparativer Forschungsansatz, mit dem die unterschiedlichen Entwicklungen, die die jeweiligen Länder unter diesen Makromodellen vollzogen haben, untersucht und mit anderen europäischen Regionen verglichen werden sollten.

Noch nicht lange zurück liegt der Medienskandal, den der Sohn des britischen Thronfolgers durch seinen Auftritt in Wehrmachtsuniform mit Hakenkreuzbinde ausgelöst hat. Als Reaktion hierauf hatten die EU-Justizminister in Brüssel über ein europaweites Verbot von Symbolen beraten, die „zu Haß und Gewalt aufrufen“. Zwei Beobachtungen knüpfen sich an diese Begebenheit: zum einen forderten die Europaabgeordneten aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten ein analoges Verbot der Parteiinsignien des Kommunismus, von Hammer und Sichel. Schließlich seien die millionenfachen Morde unter Stalin und die Gewalt in Berlin 1953, Budapest 1956 und Prag 1968 eng mit ebendiesen verknüpft. Zum anderen reagierten die indischen Medien mit Besorgnis auf ein mögliches Verbot der Swastika in Europa. Im Hinduismus, ebenso wie im Buddhismus steht das Hakenkreuz nämlich für Güte und für das Gute. Buddha soll der Legende zufolge Fußspuren in Form der Swastika hinterlassen haben, und man heiratet in den großen asiatischen Religionen nach wie vor unter dem Hakenkreuz als gutem Omen für eine glückliche Zukunft.

Zweierlei erfährt man hier über Europa. Zum einen: seine Gemeinsamkeiten werden in der Außensicht deutlich, par distance, in den Differenzen etwa zu den asiatischen Kulturen; hier in der „anstößigen“ Wahrnehmung des Hakenkreuzes. Im globalen Maßstab ist Europa eine Art Einheit, wenn auch nur eine unter anderen. Der Nabel der Welt sind wir nicht: die USA halten „uns“ für eher unerheblich, die islamische Welt hält uns für dekadent. Zum anderen: in der Binnenperspektive verweist die Konkurrenz von Hakenkreuz und Hammer und Sichel auf innere Trennlinien. Die Varietäten historischer Erfahrung sind so etwas wie die Spitzen des Eisbergs: sie deuten hin auf unterschiedliche politische Geschichten, sie sind Indikatoren disparater sozialökonomischer und kultureller Welten. Europa mag sich von außen als halbwegs arrondiertes Ganzes ausnehmen; von innen her gesehen ist es mit der Einheit gar nicht so einfach.

I

Wenn ich „Europäizität“ aufsuchen wollte, würde ich ansetzen bei diesen Trennlinien: bei der Vielfalt der Regionen und Nationalgeschichten, der Sprachen, der Konfessionszonen, bei den diversen sozialökonomischen Entwicklungsprofilen. Ich würde fragen, ob nicht etwa in dieser stupenden Vielgliedrigkeit die differentia specifica zum angelsächsischen Nordamerika oder zu Australien, zu Lateinamerika oder zu China liegt. Ich möchte diesen Gedanken allerdings nur vorsichtig ventilieren, denn wahrscheinlich ist meine Kenntnis anderer Kulturkreise nicht differenziert genug. Einen eindeutigen Säkulartrend zum Zusammenfallen dieser innereuropäischen Differenzen, eine Teleologie der europäischen Einigung gibt es nicht; womöglich handelt es sich hier um eine Wellenbewegung. Die Europäische Union erschien noch vor kurzem im Kern fest gefügt. Ihre Renationalisierung ist durchaus nicht ausgeschlossen, der Prozess ist ergebnisoffen.

Nun beruht diese Diversität letztlich doch auf einer Familienähnlichkeit der Europäer. Diese sei, so sagt man, langfristig auf dem gemeinsamen Weg von der griechisch-römischen Antike über das christliche Mittelalter und die Aufklärung mit ihrer Zivilgesellschaft entstanden. Bewegt man sich hier auch auf sumpfigem und unübersichtlichem Terrain, so kommt man um die ganz praktische Frage nach den politisch-ökonomischen und sozialkulturellen Gemeinsamkeiten doch nicht herum: man vergleiche etwa die aktuellen Selbstverständnis-Diskurse im Zusammenhang mit der Debatte über den EU-Beitritt der Türkei oder auch in der Folge der Ablehnung der Europäischen Verfassung. Warnen möchte ich allerdings vor einer Falle: man gleitet auf der Suche nach „Europäizität“ leicht in Essentialismus ab und hält nach einem ahistorischen „Wesen Europas“ Ausschau. Mit der Frage „Was ist Europa?“ sitzt man eigentlich schon in dieser essentialistischen Falle, präsupponiert also die Existenz dessen, wonach man sucht.

Meine Empfehlung wäre, die Problematik nicht nur diskursanalytisch anzugehen, sondern sie vor allem auch sozialökonomisch durchzudeklinieren, d.h. Gemeinsamkeiten „europäischer Gesellschaften“ aufzusuchen und sie in empirischen Hypothesen zu formulieren – wie das etwa die Schule Hartmut Kaelbles tut. Europäische Gesellschaften sind dort, im Globalvergleich, „alte“, gut durchregulierte, sich relativ langsam wandelnde Gesellschaften mit vergleichsweise deutlichen sozialen Scheidelinien; dies ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Ich finde, das ist eine ebenso nüchterne wie bislang ziemlich erfolgreiche Suchstrategie.

II

Unter dem Rubrum „Ostmitteleuropa“ nehme ich im folgenden Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei in den Blick; unbestritten rechnen diese Länder zur Region zumindest im geografischen Sinn. Man wird ihnen, jedenfalls für das 20. Jahrhundert, in gesamteuropäischer Perspektive ein mittleres sozialökonomisches Entwicklungsniveau (im Kaelbleschen Sinn) zubilligen. Rechtstradition und Mentalitäten sind prinzipiell „westlich“, die politische Kultur unterscheidet sich, ungeachtet vielfältiger interner Differenzierungen, fundamental von der autokratischen Tradition des orthodoxen oder des osmanischen Kulturkreises.

Den genannten Ländern Europäizität zu bescheinigen, ist allerdings bloße Etikettenkleberei. Ostmitteleuropa wird mit einer schlichten Feststellung zu Europa addiert; befriedigend ist das nicht. Ostmitteleuropa muss in das Spiel innereuropäischer Differenzen und Gemeinsamkeiten eingebettet, es muss mit Europa komparativ verstrebt werden. „Europäizität Ostmitteleuropas“ wäre dann nicht schon die Antwort auf eine Frage, sondern meint ein Forschungsprogramm. Für dieses kann ich kein epochenüberwölbendes konzeptuelles Raster liefern; als Zeithistoriker bin ich lediglich für die Nachkriegszeit kompetent. Ich skizziere eine „Suchanweisung“ für einen europäischen Gesellschaftsvergleich, der über die ehemalige „Systemgrenze“ hinweg Ostmitteleuropa einbezieht.

III

Zunächst ein Blick auf die übergeordneten Zusammenhänge: die europäische Zeitgeschichte nach 1945 ist, wenn ich dieses Bild einführen darf, eine Straßenkarte. Auf ihr sind verschiedene Wege eingezeichnet. An manchen Stellen laufen sie parallel; sie können sich aber auch verzweigen. Oder: ein Weg mündet in einen anderen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlaufen zunächst zwei große Straßen: eine im Osten: der Staatssozialismus. Eine im Westen: der demokratisch-marktwirtschaftliche Wohlfahrtsstaat: zwei „Makromodelle“ die, jedenfalls in den Tiefenstrukturen, so unterschiedlich gar nicht sind, wie sie auf den ersten Blick anmuten. Sie haben sich als Konkurrenten begriffen, aber sie entspringen ein- und derselben Wurzel. Beide waren Antworten auf die Krise des Kapitalismus und Liberalismus seit etwa dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Beide Makromodelle, West wie Ost, wollen den kapitalistischen Krisenzyklus zumindest steuern, wenn nicht eliminieren. Beide wollen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, Gesellschaft planen, regulieren, transformieren. Beide wollen Wohlstand schaffen. Beide wollen modernisieren. Beide haben, besser: sind auch Visionen. Sie setzen diese in politisch-ökonomisch-sozial-kulturelle Strategien und Programme um.

Beide Makromodelle sind nicht statisch, sondern dynamisch. Beiden wohnt eine Funktionslogik inne; diese entfaltet sich entlang von Entwicklungspfaden, ausgehend von den Struktureigenschaften, mit denen die Modelle angetreten sind. In den vielfältigen nationalen Varianten der beiden Hauptpfade 1 kommt die gesamte Bandbreite europäischer Antworten auf die Herausforderungen und Spannungen der Moderne in den Blick:

a) Der demokratisch-marktwirtschaftliche Wohlfahrtsstaat, in der Großregion von Großbritannien über Frankreich und den Beneluxstaaten bis Deutschland und Österreich, auch im skandinavischen Norden. Sein Beginn liegt, wenn ich das so vereinfachen darf, im Nachkriegs-Wiederaufbau; er führt zur voll entfalteten klassischen Industriegesellschaft. Deren „altmodische“, traditionale Sektoren, etwa das Kleingewerbe, werden beschnitten, planiert, modernisiert. Der Boom leitet eine Ära des Massenwohlstands ein und in der Folge einen Wandel der Werte auf breiter Front. Zur Signatur dieser Epoche, in der die Physiognomien der Staaten und Nationalgesellschaften sich immer ähnlicher werden, gehört nicht zuletzt die rasant sich verdichtende westeuropäische Verflechtung und Integration. Soweit die Skizze dieses (Ideal-)Typs. Zugrunde liegt ein Paradigma: die Kombination von "Produktivitätspolitik" (Charles Maier) und vergleichsweise behutsamer staatlicher Wirtschafts-, Politik- und Gesellschaftssteuerung unter Einbindung der maßgeblichen Interessengruppen; soziale Spannungen werden durch den Sozialstaat und durch Wirtschaftswachstum abgefedert. Vielfältige autochthone Traditionen sind in diesem Modell verarbeitet; aber Geburtshelfer sind vor allem die USA. Sie dringen nach 1945 überall in Europa und insgesamt ziemlich erfolgreich auf die Liberalisierung verkrusteter Strukturen.

b) Der Staatssozialismus in Mittel- und Ostmitteleuropa. Auch Staatssozialismen sind klassische europäische Industriegesellschaften. Entweder waren sie dies, wie die Tschechoslowakei, von Anfang an, oder sie werden, wie Polen und Ungarn, im „Aufbau des Sozialismus“ durchindustrialisiert. Diese Industriegesellschaften sehen sich mit prinzipiell ähnlichen Problemen wie die westlichen konfrontiert; nur sollen sie mit teilweise anderen Methoden gelöst werden. Auch hier gibt es einen paradigmatischen Kern: Staatssozialismen folgen vom „Aufbau des Sozialismus“ über vielfältige Reformversuche bis in ihre krisenhaften Endphasen einer Systemlogik, die von Parteiherrschaft und zentraladministrativer Planwirtschaft gesteuert ist. Zentral ist das Mega-Transformationsprojekt, das die Arbeiterklasse ins Zentrum des gesellschaftlichen Gefüges rückt. (Mit-)entscheidend ist auch hier ein importiertes Modell: das sowjetische. Es ist repressiver als in Westeuropa das amerikanische, und vermutlich gerade deshalb weniger attraktiv und erfolgreich. Auch von daher ist die Ostintegration im RGW deutlich schwächer als die Westintegration.

c) Soviel zu den beiden Hauptstraßen der europäischen Nachkriegsgeschichte. Man müsste, um im Bild zu bleiben, noch zwei Zubringer in den Blick nehmen. Seit den 1970er-Jahren münden, nach dem Ende der südeuropäischen Faschismen und Autoritarismen, Portugal, Spanien und Griechenland in die westliche Hauptstraße ein. In den 1990er-Jahren folgt, im Zuge der Transformation, Ostmitteleuropa. Zwar gibt es dort nach 1989 auch eine Regression auf alte, unappetitliche nationalchauvinistische Traditionen. Aber im Wesentlichen ist das dennoch, in beiden Fällen, bisher eine Bewegung in Richtung Marktwirtschaft, Demokratie und europäische Einigung gewesen.

Das viel berufene Ende der Geschichte ist mit diesen Konvergenzen nicht gekommen. Zwar sind alte Problemlagen erledigt. Aber das macht die neuen, jetzt gesamteuropäischen umso offensichtlicher: erodierende ökonomische Grundlagen, Beschäftigungskrise, Überlastung des Sozialstaats, die Probleme der Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftssteuerung unter den Vorzeichen der Globalisierung. Die Rede von der neuen Problemlage ist aber eigentlich irreführend. So neu ist diese nämlich nicht; die Inkubationszeit erstreckt sich zurück in die 1970er-Jahre, womöglich in die 1960er. Damals waren im Westen die ersten Verschleißerscheinungen an den Steuerungsmechanismen, die ersten Wucherungen am Sozialstaat aufgetreten; der Sockel der Massenarbeitslosigkeit war noch flach, aber im Aufbau begriffen; die progredierende Staatsverschuldung und die Entmachtung nationalstaatlicher Politik zeichneten sich bereits ab. Es war dies allerdings kein Sonderproblem des Westens: von einer höheren Warte der Abstraktion aus ließe sich sagen, dass an einer ähnlichen Konstellation der ostmitteleuropäische Staatssozialismus gescheitert ist: an den Effizienzproblemen der Ökonomie und den hieraus resultierenden Legitimationsproblemen, an der gravierenden Überlastung der Sozialsysteme. Der Ressourcenimport und in der Folge die Auslandsverschuldung hat die Diktaturen unter das Diktat der Finanzmärkte und schließlich in die Knie gezwungen. Das ist, in nuce, die Geschichte vom Untergang des Staatssozialismus oder jedenfalls ein wesentlicher Teil davon. Zu zeigen war, dass beide Makromodelle – sieht man einmal über eine Menge von Unterschieden im Detail hinweg – in prinzipiell ähnliche Krisen münden. Die Problemlage war und ist systemübergreifend. Der Westen war kurz- und mittelfristig evolutionär erfolgreicher, auch aufgrund seiner höheren ökonomischen Leistungsfähigkeit. Derzeit wird an der Antwort auf die Frage gearbeitet, ob das auch langfristig gilt. Dass in den europäischen Industriegesellschaften in Ost und West praktisch seit Jahrzehnten ähnliche Probleme bearbeitet werden, nur zeitverschoben, relativiert übrigens meines Erachtens den oft emphatisch behaupteten welthistorischen Charakter der Zäsur von 1989. „Der Osten“ war immer in Europa; dorthin „zurückkehren“ musste er im „Epochenjahr 1989“ nicht.

IV

Wie ließe sich auf der Grundlage dieser Landschaftsbeschreibung das angekündigte Forschungsprogramm entwickeln? Bisher war pauschal und stark vereinfachend von den Makromodellen „West“ und „Ost“ die Rede. Diese Makromodelle bilden Varianten aus: die Länderentwicklungspfade. Die Tschechoslowakei, Polen und Ungarn sind solche Varianten des Makromodells „Ost“. Ihre Entwicklungspfade sind ähnlich, aber nicht deckungsgleich; dies zeigt sich vor allem in der Endphase: Die CSSR bewegt sich in einen eigenartigen Finalzustand der politisch-sozial-ökonomischen Stagnation und Verkrustung der offiziellen Strukturen; Ansätze zu einem zivilgesellschaftlichen Habitus bilden sich aus, diese bleiben aber bis kurz vor dem – dann ziemlich plötzlichen – Zusammenbruch subkutan. In Ungarn und Polen hingegen mündet der Pfad in den sukzessiven Rückzug des Parteistaats aus Gesellschaft und Wirtschaft. Keime von Zivilgesellschaft und Marktwirtschaft dringen in der Spätphase in den öffentlichen Raum vor, der Übergang in die Systemtransformation ist gleitend. Auch im Makromodell „West“, den demokratisch verfassten keynesianischen Wohlfahrtsstaaten, gibt es Variationen zum Thema: Die Radikalität der Thatcher-Revolution zum Beispiel kontrastiert mit den weniger entschiedenen oder auch behutsameren, sozialverträglicheren Systemumbauten in Italien, Frankreich oder Deutschland.

Die erste Kern- und Leitfrage an die beiden Nachkriegsgeschichten sollte – sozusagen abteilungsintern: einmal für den Westen, einmal für den Osten – lauten: wie wirken auf den Länder-Entwicklungspfaden systemische Strukturen und nationale Spezifika – komplexe Bündel sozialökonomischer und politisch-kultureller Voraussetzungen – zusammen? Der Vergleich der Länder-Pfade scheidet dann wieder solche Besonderheiten vom Allgemeinen: von dem, was „das System“ überall bewirkt. Auf diese Weise können wir auch die Ursachen, die die Pfadverläufe steuern – die systemischen wie die individuellen – herausschälen.

Der zweite Schritt besteht im überwölbenden Vergleich Ost und West. Hier handelt es sich nicht einfach um eine Extrapolation des ersten Schritts. Die Leitfrage wird jetzt nämlich umgekehrt. Sie lautet: wie werden sozial-ökonomisch-kulturell ähnliche europäische Gesellschaften in Ost und West durch unterschiedliche Systemlogiken moduliert? Hier also werden Länder aus dem Makromodell West mit solchen des Modells Ost, über die früheren Systemgrenzen hinweg, komparativ verstrebt. Mögliche Einheiten dieses Vergleichs sind Länderentwicklungspfade als Ganzes oder äquivalente Abschnitte. Denkbar wäre eine Vielzahl transsystemarer, auch ausgefallener und schräger Versuchsanordnungen: solche mit Makroperspektive, aber auch diverse Partialvergleiche mit präziser zugeschnittenen tertia comparationis. So könnte man etwa – um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen – danach fragen, was aus dem „habsburgischen Fundus“ unter unterschiedlichen Systemvorzeichen geworden ist, etwa in der Republik Österreich einerseits, in der Tschechoslowakei bzw. in Ungarn andererseits. Was, so könnte man weiterfragen, war am Wiederaufbau nach dem Krieg eigentlich makromodelltypisch, was gesamteuropäisch? Die Ausgangsproblemlage teilt der Osten ja so ungefähr mit dem Westen. Aber der „sozialistische Aufbau“ erreicht dann nie das Ausmaß des westlichen Booms. Und wir konstatieren im Ostblock 1953 und 1956 massive Krisen, die es im Westen nicht gibt. Hier müsste die Fahndung nach den systemspezifischen Faktoren beginnen. Ein weiteres Beispiel: die 1960er-Jahre. Hier gibt es politische Umbrüche und soziale Turbulenzzonen, die sich quer durch den Kontinent ziehen: im Westen die Kanzlerschaft Willy Brandts und den französischen „Mai 1968“, im Osten den Prager Frühling und die polnischen Unruhen von 1968. Beide Makromodelle stehen jetzt im Zeichen der Reform; beide Seiten bessern, salopp gesagt, ihre Gesellschaftssysteme nach, aber in systemspezifischer Weise: sozialistische Reformen, etwa die in Prag oder in Budapest, lockern die Zügel; westliche Reformen hingegen, etwa die in Bonn, bauen die Planungs- und Steuerungsinstrumente aus. Auch hier müssten wir zunächst die Spur der systemübergreifenden Problemlagen aufnehmen und dann den systembedingt gegenläufigen Entwicklungen nachgehen.

Das Ost-West-Schema, an dem ich den komparativen Ansatz vorgestellt habe, könnte erweitert und elaboriert werden: durch den vergleichenden Blick auf die südlichen europäischen Länder Spanien, Portugal und Griechenland. Auch hier würde ich die sozialökonomischen Bedingungen in etwa konstant halten und ceteris paribus das Makromodell, die Systemlogik, variieren, also z.B. Polen und Portugal vergleichen. Wie also entwickeln sich so genannte rückständige katholische Agrargesellschaften unter dem Faschismus einerseits und dem Staatssozialismus andererseits? Die Makromodelle dürften eigentlich nicht so starr gegeneinander abgesetzt werden, wie ich das vorerst tue. Von Pfad zu Pfad gibt es, auch in der Zeit des Kalten Krieges, Transfers – von Menschen, Ideen und Ressourcen: etwa die großen Flüchtlingsbewegungen von Ost nach West oder den Einfluss der Westmedien im sozialistischen Osten; auf solchen Transversalen bewegen sich die transnationalen politischen, Business- und Kultureliten, die internationale Gewerkschaftsbewegung usw.usf.

Ich halte sehr viel von der Makro- und Systemperspektive: vom Herausmeißeln der großen Konturen. Man müsste, je näher man der Gegenwart kommt, zusätzlich die Ebene der europäischen Integration und die reziproken Beziehungen zwischen dieser und den Länderentwicklungspfaden in den Blick nehmen. In der aktuellen Krise werden zunehmend nationalstaatliche und europäische Lösungsansätze verschränkt: supranationale Strukturen emergieren aus nationalen Krisenpolitiken und wirken auf die nationale Ebene zurück. „Europa“ ist also, pointiert gesagt, auch eine Antwort auf die Krise europäischer Nationalgesellschaften. Mit ihrem Eintritt in die Europäische Union werden auch die ostmitteleuropäischen Länder in dieses Beziehungsgeflecht immer enger einbezogen. In der umgekehrten Blickrichtung, der nach „unten“, liegen die Mikrokosmen. Auch hier gibt es reziproke Beziehungen: die Makroformationen basieren ja auf den Lebenswelten; die Familie, der Betrieb, die Kommune, die Region: das und anderes mehr sind die Mosaiksteine, aus denen sich die Makroebene zusammenfügt. Umgekehrt sind Lebenswelten keine unpolitischen Idyllen, sie werden durch Politik formiert, die von oben in sie hineinwirkt. Ebendies gilt für die Individuen. Natürlich gibt es da im Ost-West-Vergleich unterschiedliche Grade der Korsettierung: grobschlächtig und plump gehen die staatssozialistischen Diktaturen vor, mit der hohen Feiertagssymbolik von Fahnen und Wappen und einem dichten Netz biografieformierender Zwangsrituale. Auch noch der Alltag der späten, müde gewordenen Staatssozialismen enthält vielfältige, unauffälligere, trotzdem intensive vereinnahmende Institutionen und Arrangements von beträchtlicher habitusformierender Macht: Kinderkrippe und Hausgemeinschaft, Industriebetrieb und LPG. Im Westen, wo die Auflösung der festen Ordnungen der klassischen Industriegesellschaft sehr viel weiter fortgeschritten ist als im ehemals sozialistischen Osten, hat die Flexibilisierung der Erwerbsbiografien, überhaupt das Patchworking der Biografien die individuellen Freiheitsräume vermutlich sehr viel deutlicher erweitert. Ob uns das gut tut, ist hier nicht von Belang. Wichtig ist: wo solche Verschränkungen von Politik und Lebenswelt in den Blick kommen, können wir uns wieder der oben skizzierten komparativen Versuchsanordnungen bedienen. Vieles erschließt sich ja gar nicht im Blick auf die Länder, sondern erst mit Fokus z.B. auf Regionen, Kommunen, auf die kleinen Welten. Die Fragen lauten jetzt: Wie werden, zum einen, unterschiedliche Mikromilieus im Osten bzw. Westen durch ein- und dieselbe Systemlogik, durch ein- und dasselbe Makromodell geformt? Und wie verhalten sich, zum anderen, ungefähr ähnliche Mikrokosmen in Ost und West unter verschiedenen Systembedingungen? Man könnte so die Straßenkarte auch auf der Mikroebene nachzeichnen: man könnte auch im kleinen Maßstab Westen und Osten im Hinblick auf ihre gemeinsame Europäizität in je spezifischen Konfigurationen komparativ verklammern.

Anmerkung:
1 Supponiert werden im Folgenden wohl unterschiedene nationale Entwicklungspfade. Der – leidlich homogene – Nationalstaat ist die zentrale force motrice der europäischen Nachkriegsgeschichte; er stellt eine keineswegs obsolete Real- und Analyseeinheit dar, auch wenn Austausch und Transfer, unilaterale und reziproke Einflussnahmen, mithin transnationale Kommunikation und histoires croisées in Rechnung gestellt werden. Dies gilt ungeachtet des (west-)europäischen Integrationsprozesses. Dieser generiert einen neuen supranationalen Akteur, bringt jedoch keineswegs die Nationalstaaten zum Verschwinden. A fortiori gilt dies für die ostmitteleuropäischen staatssozialistischen Länder und die vom RGW ausgehenden Integrationsimpulse. Ursache für deren relative Schwäche ist, zum einen, die Virulenz nationaler Traditionen. Maßgeblich ist, zum anderen, die generelle Integrationsaversion zentraladministrativ-hierarchisch gesteuerter Systeme. Ähnliche Entwicklungen in staatssozialistischen Ländern können deshalb zwar auf auch transnationale Kooperation oder etwa auch auf sowjetisches Oktroi zurückzuführen sein; vieles ist jedoch „Parallelevolution“: gemeint sind damit gleichgerichtete, durch strukturell ähnliche Problemlagen und ein systemisch vorgegebenes ähnliches Repertoire von Lösungen bewirkte Entwicklungen.

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