Tagung der Abteilung fuer Osteuropaeische Geschichte an der Heinrich-Heine- Universitaet Duesseldorf sowie der Adalbert-Stiftung Krefeld
Grenzen finden gerade in juengster Zeit wiederholt die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Oeffentlichkeit.1 Neben dem uebergreifenden Motiv, dem grundlegenden Angewiesensein des Menschen auf Grenzen, spielt sicherlich die immer naeher rueckende Erweiterung der Ostgrenze der Europaeischen Union eine wichtige Bedeutung. Wie die Veranstalter bereits im Vorfeld verdeutlichten, wollte die internationale Tagung die Grenze als Raum von Handlungen und Uebergaengen thematisieren. Nicht die nationalstaatlich definierte Grenze stand daher im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern vielmehr die vielfache Bedeutung von Grenze, "an der und durch die sich gesellschaftliche Zusammenhaenge konstituieren".
Der wissenschaftliche Leiter der Tagung, Professor Hans Hecker, fuehrte in einem Eroeffnungsvortrag in die Fragestellung und Begrifflichkeit ein und setzte damit zugleich auch den Rahmen ("Grenze, Raum und Geschichte oder: Ist ein Leben ohne die andere Seite moeglich?"). Die Grenze wurde zunaechst von ihrer grundlegenden Bedeutung her verstanden und die Geschichte der Erde und des Menschen als eine Geschichte der Grenzen bezeichnet. Die Tagung wollte daher historische, zeitliche, raeumliche und soziale Grenzen beruecksichtigen. Gleichwohl blieb Hecker nicht an der Grenze stehen, er hob deren Dynamik und vielfache Funktionen hervor. Menschen sind einerseits existentiell auf die andere Seite jenseits der Grenze angewiesen, leben also stets ueber die Grenze hinaus, sie koennen sich aber andererseits von der Grenze nicht loesen und ohne sie nicht leben. Gerade das 20. Jahrhundert führte dazu, wie Hecker auch mit Beispielen erlaeuterte, dass das Abschaffen von Grenzen oder nur der Versuch neue Grenzen setzte. Dies verdeutlichten Hecker zufolge insbesondere innergesellschaftliche Grenzen. Identitaeten, kollektive wie individuelle, orientieren sich an Grenzen, lassen aber keineswegs ,reine' Formen entstehen. Vielmehr galt es den Blick auf Prozesse der Transfiguration zu werfen, auf das Entstehen von Gesellschaft, von "hybriden Kulturen", ueber Grenzen hinweg, d.h. die Aufmerksamkeit richtete sich auf konkrete historische Erscheinungsformen "transkultureller, transnationaler und transterritorialer Prozesse".
Von den insgesamt zwoelf Referaten standen die ersten vier Beitraege unter dem Titel "Grenzziehung, Grenzregime und Grenzuebergang". Michael G. Esch (Berlin) wandte sich einem zentralen Phaenomen der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert zu, dem "Traum von der hermetischen Grenze". Die Bestrebungen, staatliche und ethnische Grenzen zur Deckung zu bringen, d. h. aeussere wie innere Hermetisierung, stellte Esch am Beispiel des radikalsten staatlichen und gesellschaftlichen Experimentes, des NS-Staates, dar. Im Inneren sollte nach dem Konzept der "Volksgemeinschaft" die Aussonderung der Nichtzugehoerigen erfolgen, um die "Reinheit" zu wahren. Die Nuernberger Gesetze, die Siedlungspolitik im besetzten Polen und die Ghettoisierung standen fuer diese Politik, in deren Folge jedes Mitglied der Gesellschaft einer bestimmten Gruppe zugeordnet werden sollte.
Eine Reaktion auf diese staatlich veranlassten Massnahmen stellten in gewisser Weise die anschaulichen Ausfuehrungen von Marita Krauss (Bremen) dar ("Innensichten. Grenzueberschreitungen von Emigranten der NS-Zeit"). Die aus der "voelkischen Gemeinschaft" Ausgesonderten wurden zu Verfolgten und Fluechtlingen. Ihrem Erleben und ihrem Wahrnehmen des Grenzuebergangs widmete die Referentin ihre Aufmerksamkeit. Fuer die ca. 500.000 Emigranten aus dem NS-Staat wurde der Abschied von der Heimat zu einem traumatisierenden Erlebnis. Mit der Grenze verbanden viele Angst, Gefahr, Abschied. Die Grenze wurde zu einem Ort der Pruefung und zu einem Ort der Wandlung. Auch die Rueckkehr erlebten viele Emigrantern nach dem Zusammenbruch des totalitaeren Staates als traumatisch. Die Grenze entpuppte sich als Teil des eigenen Lebens als angstbeladenes Uebergangsritual.
Deutlich auf innergesellschaftliche Grenzen konzentrierte sich Dieter Nelles (Wuppertal), der Klassengrenzen am Beispiel des oberschlesischen Syndikalismus nachging ("Internationalismus im Dreilaendereck. Alfons Pilarski und der Syndikalismus in Oberschlesien in der Zwischenkriegszeit"). Im Mittelpunkt stand dabei das Aufzeigen des Spannungsverhaeltnisses zwischen der theoretischen Utopie der Grenzenlosigkeit und der Praxis des Anarchosyndikalismus, einer besonderen Form des Syndikalismus. Gerade in Oberschlesien, einem ethnisch gemischten Gebiet, zeigte das Vorgehen der Vereinigten Arbeiterunion in Oberschlesien ein immer staerkeres Ineinandergreifen von Klassenkampf und nationalem Kampf.
Wie sehr Grenze zum transkulturellen Raum werden kann strich Ruth Leiserowitz (Berlin) heraus, indem sie sich dem Schmuggel in der zweiten Haelfte des 19. Jahrhunderts an der historischen Grenze zwischen Preussen und Litauen, bzw. zwischen Deutschem Reich und Russland zuwandte ("Schmuggel als Lebensform an der Grenze"). Aus dem Beduerfnis der Grenzbewohner heraus, ihre Lage wirtschaftlich aufzubessern, entstand der Schmuggel als grenzueberschreitender Warenverkehr. Waehrend der Schmuggel somit aus der Perspektive der staatlichen Zentrale illegal war, uebte er aus der Sicht der Grenzbewohner eine lebensnotwendige Funktion aus. Von den wirtschaftlichen und politischen Aspekten ausgehend, rueckte Leiserowitz am Beispiel der Buecherschmuggler berechtigterweise die kulturelle Komponente in den Vordergrund. Die Schmuggler, die die Grenzbevoelkerung zu sozialwirtschaftlichen Rebellen und Helden hochstilisierten, stellten regelrecht "Kulturvermittler" im preussisch-zaristischen Grenzgebiet dar. Auch die Quellenbeispiele vermittelten einen Eindruck darueber, wie es den Schmugglern gelang, die Grenze fuer sich zu nutzen und eine eigene Grenzkultur zu entwickeln.
Im zweiten grossen Tagungsblock standen "konfessionelle, soziale, kulturelle Grenzen und Uebergaenge" im Mittelpunkt. Als ein geradezu spezifisches Phaenomen des "Grenzraumes des Abendlandes", wie der polnische Historiker Oskar Halecki Ostmitteleuropa bezeichnete, gelten die griechisch-katholischen Kirchen. Oleh Turij (Lemberg) hat sich des Themas angenommen und dabei den Fokus auf das Verhaeltnis von griechisch-katholischer und roemisch- katholischer Kirche gerichtet ("Grenzueberwindung? Das Verhaeltnis von Unierten und Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert"). Der Beitrag spannte einen weiten Bogen von der Entstehung der mit Rom unierten Kirche bis ins 20. Jahrhundert. Die Union von Brest-Litovsk 1596 hatte nicht zu einer Einheit, sondern lediglich zu einer Verschiebung der konfessionellen Grenzen gefuehrt. Die Entfremdung der beiden Kirchen war nicht nur in der habsburgischen Zeit vorhanden - auf nationalpolitischer wie kultureller Ebene wurden auch weiterhin unterschiedliche Traditionen betont -, sie blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehen. Mit der Entstehung des unabhaengigen Staates Ukraine sah Turij neue Chancen einer Annaeherung zwischen den beiden Kirchen. Die Gegnerschaft beschraenke sich lediglich auf eine "strategische Konkurrenz" der beiden Riten. Ausserdem sei die griechisch-katholische Kirche darum bemueht, eine Vermittlerposition zwischen Ost- und Westkirche einzunehmen.
Ebenfalls die Grossregion Ostmitteleuropa in den Mittelpunkt stellend, berichtete Robert Traba (Warschau) aus einem neuen Forschungsprojekt zu Grenzraeumen und Grenzgebieten ueber Akkulturation und Assimilation in Ostpreussen und Masuren ("Identitaet und Kontakt - Ostpreussen und Masuren"). Um die gegenseitige Beeinflussung unterschiedlicher Gruppen und die Transformation von Kulturwerten sowie die Wandlung der Identitaet beschreiben zu koennen, konzentrierte sich Traba auf fuenf Kontaktebenen: die Saison- Migration, die grenzueberschreitende Zusammenarbeit auf Jahr- und Wochenmaerkten, die Wallfahrten und Pilgerreisen, die Ansiedlungsbewegungen an der Grenze und die Lage nach dem Ersten Weltkrieg.
Die letzten beiden Beitraege beleuchteten Aspekte der Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. Witold Stankowski (Bromberg) behandelte ein zentrales Thema, die Vertriebenenproblematik aus der Sicht der polnischen oeffentlichen und historiographischen Propaganda ("Die Vertriebenenproblematik - Polen und die Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg"). Er skizzierte dabei die Etappen der Entwicklung des Konzepts der "neuen Grenze", dem die Piasten als Vorbilder galten und das Fragen der politischen, der natuerlichen sowie der Grenze der Mentalitaeten tangierte.
Um die Grenze im Kopf, um die imaginierte Grenze, ging es vor allem Heidi Hein (Duesseldorf) in ihren Ueberlegungen zu antemurale-Vorstellungen ("Antemurale christianitatis: Grenzsituation als Selbstverstaendnis"). Das in der Geschichte Europas von verschiedenen Laendern verwendete Bild vom "Bollwerk der Christenheit" findet sich in vorbildlicher Weise in der Geschichte Polens wieder. Der antemurale-Terminus, der im engen Zusammenhang mit der Christianisierung Polens steht, fand seine Anwendung erstmals gegen die Gefahr, die vom Osmanischen Reich im 15. Jahrhundert ausging. Der Mythos vom auserwaehlten Volk wandelte sich im Laufe der Jahrhunderte sowohl gegen den Westen als auch gegen den Osten staendig. Hein ging ausfuehrlicher auf die antemurale-Vorstellung waehrend der Zwischenkriegszeit, insbesondere waehrend des autoritaeren Pilsudski-Regimes, ein. In den Schriften der Zeit wurde verstaerkt das Bild von Polen als Mauer des Westens gegen die bolschewistische Gefahr hervorgehoben. Der Mythos des antemurale christianitatis, der Mythos von der Lage Polens an der oestlichen Peripherie der westlichen Kultur, war wichtig fuer die polnische Identitaet und das nationale Selbstverstaendnis; er sollte die nach Groesse ringende Nation staerken, motivieren und mobilisieren.
Im dritten und letzten Themenblock ",mobile' und ,stabile' Grenzen" behandelte zunaechst Christoph Pallaske (Siegen) die Migration von Polen nach Deutschland in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ("Zuwanderungsstrategien und -moeglichkeiten osteuropaeischer Migranten vor und nach dem Fall des ,Eisernen Vorhangs' - Polen und Deutschland"). Die langfristige Migration in den 80er Jahren wie die Arbeitsmigration in den 90er Jahren hatten unterschiedliche Auswirkungen auf die Bedeutung der Grenze. Insbesondere mit der Pendelmigration haengt das Phaenomen des Transnationalismus zusammen, der an verschiedenen Orten angesiedelt ist. Die Migranten werden zu Mittlern zwischen den Gesellschaften und bilden selber eine Mikrogesellschaft. Voraussetzungen dafuer sind die Durchlaessigkeit der Grenze sowie die Existenz von Netzwerken.
Eine neue regionale wie auch strukturelle Komponente brachte Desanka Schwara (Basel) in die Tagung ein ("Venedig, Triest, Ragusa, Odessa: Das Meer als fliessende Grenze, als Chance und als Herausforderung"). Zunaechst breitete sie die Welt der Levante aus, die die oestliche Kueste der Adria und des Mittelmeeres ausmachte. Die Geschichte der Levante entpuppte sich dabei als Geschichte einzelner Staaten mit mehr oder weniger festen Grenzen. Eine maßgebliche Rolle spielte die von der Beschaffenheit der Küste vorgegebene natürliche Grenze. Weder das sprachliche noch das religioese Moment waren als Grenzen auszumachen. Als bestimmendes Merkmal der Levante hob Schwara "die homogene Entfaltung der Heterogenitaet" hervor. Die Levante kann somit den Anspruch erheben, mit seinen kosmopolitischen Kuestenstaedten einen Gegenentwurf zu den Nationalstaaten zu bieten. Deren Aufkommen im 19. Jahrhundert bedeutete zugleich den Niedergang der Levante. Die Levante war somit eine Region, die nicht nur ohne Grenzen gedacht und ohne staatliche Grenzen verstanden werden musste. Sie unterschied sich auch von den ideologischen oder untersuchungstechnisch bedingten Kunstgebilden Osteuropa, Ostmitteleuropa oder Suedosteuropa.
Pavel Donec (Charkov) weitete zum Schluss noch einmal den Blick ueber historisch-geographische Grenzen hinaus ("Grenze - Versuch einer semantischen Komponentenanalyse"). Indem er aus sprachwissenschaftlicher Sicht die Zerlegung des Wortes "Grenze" in kleinste Elemente verfolgte, schlug er den Bogen zu den Ergebnissen mehrerer Referate der Tagung. Das Wort "Grenze" beinhaltet zunaechst das Ununterbrochene und Trennende einer Linie. Doch neben Barriere und Damm kann Grenze auch Pfropfen oder Membrane bedeuten. Grenze trennt das Eigene vom Fremden. Mit der Ueberschreitung der Grenze tritt der Verfremdungseffekt auf. Zugleich wird Grenze als Mythos aufgefasst. Grenze ist schliesslich ein Ordnungsfaktor der Welt, der das Chaos ueberwinden hilft.
Die Abschlussdiskussion fasste die drei auf der Tagung thematisierten Grenzen noch einmal zusammen (politisch-administrativ, sozialgesellschaftlich und imaginiert), wobei die Betonung auf der innergesellschaftlichen Grenze lag. Alle drei Funktionen von Grenze betraf letztendlich die Beobachtung, dass der Bedarf nach Grenzen in einer Zeit, die von einem dauernden Verlust von Grenzen betroffen ist, um so mehr vorhanden ist.
Eine Veroeffentlichung der Beitraege, die die Forschungslandschaft zu Grenzen, Grenzregionen, Grenzraeumen ergaenzen und bereichern werden, ist geplant.
Anmerkung:
1 Dazu die Tagungsberichte von Peter Haslinger ueber "Identitaetenwandel und nationale Mobilisierung in Regionen ethnischer Diversitaet. Ein regionaler Vergleich zwischen Westpreussen und Galizien am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts". In: HABSBURG@H-NET.MSU.EDU v. 24. Oktober 2001 sowie von Matthias Mesenhoeller: Die Grenzen der Nationen und Nationalstaaten: Regionalismus in europaeischen Zwischenraeumen von der Mitte des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Berlin 9.-10.2.2001. Tagungsbericht. In: http://hsozkult.geschichte.hu- berlin.de/beitrag/tagber/mema0301.htm. Vgl. auch den Tagungsband Grenzkultur - Mischkultur? Hg. v. Roland Marti. Saarbruecken 2000.