Adel im 19. und 20. Jahrhundert, Teil I, Buedingen - 03/2002

Adel im 19. und 20. Jahrhundert, Teil I, Buedingen - 03/2002

Organisatoren
Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 40. Tagung "Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte", veranstaltet von Günther Schulz (Bonn) in Zusammenarbeit mit der Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V., und dem Institut für personengeschichtliche Forschung (Bensheim)in Büdingen.
Ort
Büdingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.03.2002 - 23.03.2002
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Von
Thilo Nowack

Durch die gesellschaftlichen und ökonomischen Umwälzungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert war auch der Adel erheblichem Wandel unterworfen, es kam zu starken Divergenzen zwischen traditionellen politischen Einflussmöglichkeiten und tatsächlicher wirtschaftlicher Potenz. Selbstwahrnehmung, Anspruch und Habitus standen oft im Gegensatz zur Realität eines nicht selten verarmten Adels. Die Frage, wie der Adel vornehmlich im 19. Jahrhundert auf die Transformationsprozesse reagierte, stand im Vordergrund der diesjährigen Gespräche im Büdinger Schloss. Tagungsleiter GÜNTHER SCHULZ (Bonn) skizzierte in seiner Einführung Leitfragen: Wie gewährleistete der Adel als gesellschaftliche Gruppe seinen Zusammenhalt unter den sich wandelnden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umständen? Wie hielt sich der einzelne Adelige in seiner gesellschaftlichen Stellung bzw. wie versuchte er diese zu halten? Mit welchen Mitteln wurden die jeweiligen Anpassungen bewerkstelligt? Somit war der Blick zum einen auf die "harten" Faktoren Vermögen bzw. Einkommen gerichtet, zum anderen auf das Feld der sozialen Einbindung, auf Selbstdefinition und Sozialisation, womit auch der ästhetische Bereich einer literarischen, künstlerischen oder anderen kunstbezogenen Produktion oder Konsumtion des Adels berührt wurde.

Als erste referierte SILKE MARBURG (Dresden) zum Thema "...damit du als Princessin leben kannst." Generierung von Hochadeligkeit am Beispiel König Johanns von Sachsen (1801-1873). Im Gegensatz zu der in der Sozialgeschichte gängigen Auffassung, dass Hochadel eine sekundäre Binnendifferenzierung des Adels im 19. und 20. Jahrhundert dargestellt habe, ging sie in ihrem Beitrag davon aus, dass es sich beim Hochadel um eine eigenständige soziale Gruppe gehandelt habe. Dafür spreche vor allem auch ihre vergleichsweise strikte Endogamie. Schon aufgrund der Tatsache, dass der zahlenmäßig nahezu verschwindende Hochadel über ganz Europa verteilt lebte, hatte seine Binnenkommunikation eine spezifische Prägung. Gerade hierfür schlug der rasante Wandel der Infrastruktur im 19. Jahrhundert deutlich zu Buche. Hochadelige Binnenkommunikation war zunächst an den Standards der europäischen Höfe orientiert. Dort wurde eine hochadelige Lebensweise exemplarisch kultiviert, deren Spezifik sich jedoch nicht in den Formen offizieller Repräsentation erschöpfte. Die hochadelige Binnenkommunikation leistete einen wichtigen Beitrag für die Kohärenz der Gruppe, denn sie war geeignet, die soziale Gruppe ständig zu reintegrieren. Dies gewann mit den eintretenden bzw. befürchteten Thronverlusten im 19. Jahrhundert eine besondere Relevanz, da diese die Ablösung von zunächst garantierten Residua hochadeliger Existenz bedeuteten. Getragen wurde die Kommunikation zu einem wesentlichen Teil von familialen Strukturen. Die Aufrechterhaltung solcher Kommunikationsstrukturen ermöglichte, Hochadeligkeit immer wieder neu herzustellen, im 19. Jahrhundert ebenso wie nach dem Ende der deutschen Monarchien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das rekonstruierte MARBURG exemplarisch, wobei Lebenssituation und Konzepte des Prinzen bzw. Königs Johann von Sachsen (1801-1873) zwischen 1850 und 1873 im Mittelpunkt standen. Dabei erschlossen sich nicht nur Heiratskreise, Brief- und Besuchsverkehr, sondern auch eine bislang unerforschte residenznahe Hochadelsgesellschaft.

Die Herausbildung einer spezifisch landadeligen Kultur stand im Mittelpunkt des Beitrags von EWALD FRIE (Essen) über Ziegel, Bajonett und spitze Feder. Adelskultur in Brandenburg 1790-1830. Kultureller Mittelpunkt der "introvertierten Staatsprovinz" (W. Neugebauer) Brandenburg war Berlin, wo sich auch ausgangs des 18. Jahrhunderts ein Großteil des brandenburgischen Adels aufhielt. Da jedoch im Berliner hochkulturellen Aufbruch der Jahrhundertwende ein eigenständiger Anteil des Adels schwer auszumachen, zugleich aber auch die Stilisierung des Landes als Adelsdomäne eine Erfindung des 19. Jahrhunderts sei, müsse man sich den Adel wesentlich wandelbarer und gerade um 1800 als im Umbruch befindlich vorstellen. Um der brandenburgischen Adelskultur näher zu kommen, verfolgte der Referent in einem biographischen Ansatz die Lebensläufe von Heinrich von Kleist, Friedrich de la Motte-Fouqué und Ludwig von der Marwitz, die das Geburtsjahr 1777, die Militärsozialisation und den Ausstieg aus dem Militärdienst um 1800 gemeinsam hatten, letztlich aber sehr unterschiedliche Adelsexistenzformen entwickelten. Der frühe Eintritt ins Offizierkorps wirkte mentalitätsprägend im Sinne einer Gewöhnung an eine spezifisch adelige Lebensweise, die im ausgehenden 18. Jahrhundert unter Legitimationsdruck kam. Darauf reagierten junge Berliner Offiziere mit Bildungs- und Professionalisierungsanstrengungen und, wie im Falle von Fouqué, Marwitz und Kleist, mit Militäraustritt. Der Wandel des Militärwesens weist auf eine grundsätzliche Veränderung der adeligen Lebensweise seit 1800 hin, als aus prinzipiell wählbaren und zeitgleich ausfüllbaren Elementen einer Lebensweise Berufsrollen wurden. Damit veränderten sich die Selbstbeschreibungen des Adels: aus einem universal verwendbaren Herrschaftsstand wurden sektorale Führungseliten, was sich an der militärischen und ländlichen Memorialkultur und am ländlichen Brauchtum illustrieren lässt. Wer wie Marwitz, Fouqué und Kleist um 1800 in das Erwachsenenleben eintrat, erlebte die Ständegesellschaft als entsichert, konnte jedoch die neuen gesellschaftsstrukturierenden Elemente noch nicht sehen. Die Folge war eine hohe Einschätzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Nach und nach zeigte sich jedoch immer deutlicher, dass die neue funktionale Gesellschaftsdifferenzierung und die sich entwickelnden Berufsrollen die Handlungschancen der Individuen beschnitten. Für wenige der um 1800 in das Erwachsenenleben Eintretenden erfüllten sich die Ich-verhafteten Träume. Auch wenn die Lebensläufe der drei durchaus different waren, lassen sich an ihnen gewisse Tendenzen der Adelskultur in Brandenburg zwischen 1790 und 1830 herausarbeiten. Die ständischen Strukturen zergingen. Sie machten einer Phase der Unübersichtlichkeit Platz, die durch hochkulturelle Entäußerungen enormen Ausmaßes gekennzeichnet war. In ihr war der Adel als eigenständiger Kulturproduzent nur noch schwer erkennbar. Danach erfand sich der Adel als Land-, Offizier- und Beamtenadel neu: als nachständische Elite, die begrifflich und legitimatorisch an das 18. Jahrhundert anknüpfte, von ihm jedoch durch tiefe Differenzen getrennt war. Nun erst entstand jener Landadel, der sich mit seinen Bauern brauchtumsmäßig verband und agrarische Leistung, dörfliche Fürsorge und Dienst am Vaterland legitimatorisch präsentierte. Damit revidierte FRIE bisherige Forschungstendenzen, die im Anschluss an Fontanes Beschreibungen die Entstehung dieses spezifischen Landadels in die Frühe Neuzeit zurückverlagert hatten.

Einen zentralen Ausschnitt aus der Umwandlung eines vormals privilegierten adeligen Landstands zum Rittergutsbesitzer behandelte AXEL FLÜGEL (Bielefeld) in seinem Vortrag Der Rittergutsbesitz des Adels in Sachsen 1800-1870. Unter den Bedingungen ständischer Ungleichheit in der Gesellschaft des Ancien Régime hatte der Adel über eine Reihe von Privilegien verfügt, öffentliche Ämter zu besetzen oder Landtage zu besuchen. In Kursachsen gehörte der Besitz der großen Lehngüter allerdings nicht zu den adeligen Vorrechten, wohl aber die Landtagsteilnahme. Am Ende des 18. Jahrhunderts war die überkommene soziale Stellung des Adels politisch unhaltbar geworden. Adelige Vorrechte der Ämterbesetzung oder Landstandschaft, die als reine Geburtsprivilegien fortbestanden, wurden zunehmend zum Gegenstand einer politischen Kritik, die sich um den gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgte. Zeitgenössische Beobachter wie August Wilhelm Rehberg forderten die Stärkung des Adelsstandes durch eine Öffnung gegenüber den anderen Ständen, insbesondere den Grundbesitzern. Derartige Forderungen wurden mit Einführung konstitutioneller Verfassungen von den Reformern überall nach und nach rechtlich und politisch durchgesetzt. Der Übergang ins 19. Jahrhundert brachte dem Adel im Zeichen der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit daher den Verlust zahlreicher Vorrechte. Andererseits war die konstitutionelle Monarchie immer noch eine auf den ländlichen Grundbesitz fundierte und ausgerichtete Gesellschaft, wie vor allem die Zusammensetzung der Zweiten Kammer der konstitutionellen Landtage programmatisch verdeutlichte, indem sie für die Rittergüter eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten reservierte. Der Adel als traditionell ländlich fundierte Führungsschicht konnte in die neu geschaffene Sozialfigur des Rittergutsbesitzers gelangen, die adelige wie bürgerliche Besitzer umfasste. Man hoffte damit, wie der Freiherr Detlev von Biedermann 1860 schrieb, kräftige "Beförderer des conservativen Prinzips" zu gewinnen. In Sachsen begann die Zeit der konstitutionellen Reformen mit der Verfassung vom 4. September 1831. In zwei Momentaufnahmen aus den Jahren 1828, d.h. am Ende der ständischen Epoche, und 1866, d.h. nach dem Abschluss der Reformmaßnahmen, untersuchte FLÜGEL den Rittergutsbesitz des Adels in den sächsischen Erblanden, wobei er vor allem der Frage nachging, in welchem Maße der Adel die Herausforderungen der konstitutionellen Reformen bewältigen konnte und im Besitz der Lehngüter verblieb.

In der Analyse der Besitzverhältnisse des mecklenburgischen Landadels vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gründung des Deutschen Reiches ging ILONA BUCHSTEINER (Rostock) der Frage nach, wieweit es dem mecklenburgischen Adel gelang, unter den günstigen Bedingungen des Ständestaates sein Bodeneigentum zu erhalten. Mecklenburg gehörte am Ende des 18. Jahrhunderts zu den Regionen mit einem besonders hohen Anteil an Gutsbetrieben, was auch ein Ergebnis des in Mecklenburg nicht vollzogenen Übergangs zum Absolutismus war. Bei einem Vergleich der Jahre 1796 und 1867 wird auf den ersten Blick eine äußerst negative Entwicklung des adeligen Besitzes deutlich: Gehörten 1796 64,9 % aller Rittergutsbesitzer dem Adel an, so betrug sein Anteil 70 Jahre später nur noch 47,2 %. Der adelige Besitz an den ritterschaftlichen Gütern war von 72,4 auf 55,6 % zurückgegangen. Ein tiefergehender Blick zeigt aber auch eine andere Tendenz. Wird die Größe an Güterbesitz des Adels aus dem Jahre 1796 zugrunde gelegt, dann relativiert sich nicht nur der Verlust erheblich, sondern es wird auch deutlich, dass er durch Käufe von Betrieben aus bürgerlicher Hand und der Neubildung von Gutsbetrieben fast kompensiert werden konnte. Zum zweiten resultierten die Ursachen für den Verkauf von Gütern und Flächen auch aus einer vollzogenen Anpassung an die durch die bürgerlich-industrielle Entwicklung veränderten Rahmenbedingungen. Auch der Rückgang der Eigentümerzahl erscheint in einem anderen Licht, wenn die Haupterwerbsquellen des Adels einbezogen werden, denn der Adel differenzierte und professionalisierte sich. Es schieden hauptsächlich solche Familien aus dem adeligen Rittergutsbesitz aus, die ihn nur als Rückhalt für ihre Tätigkeit im Militär, in der Verwaltung oder in der Diplomatie nutzten. Die Professionalisierung und die bedeutende personelle Zunahme der Adelsfamilien im 19. Jahrhundert bedingten, dass nicht mehr der überwiegende Teil der Familienangehörigen mit Boden versorgt werden konnte. Weil nun immer mehr Adelige nicht wie traditionell üblich in der Landwirtschaft ihren Unterhalt fanden, sondern zunehmend in andere, auch bürgerliche Berufe wechseln mussten, wurde der Adel als großer Verlierer angesehen. Dieser Befund ist nach BUCHSTEINER zumindest für Mecklenburg zu differenzieren. Hier waren der Betriebsverlust sowie der Rückgang der Eigentümerzahl bis 1867 nicht nur ein Ergebnis mangelnder Konkurrenzfähigkeit des Adels, sondern in hohem Maße auch der Anpassung an die neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Im Abendvortrag Adelig werden und adelig bleiben. Bindekräfte im niederen Adel im 19. Jahrhundert verfolgte JOSEF MATZERATH (Dresden) Strategien der Selbstdefinition des niederen Adels, dem es auch in der Moderne gelang, als Sozialformation fortzuexistieren. Statt ihn als "Überhang" aus der ständischen Zeit zu betrachten und zu einer aussterbenden und somit zu vernachlässigenden Gruppe zu erklären, ging MATZERATH den Mechanismen nach, mit denen Gruppenzusammenhalt hergestellt wurde. Die Frage, wie im Bewusstsein nachwachsender Generationen die Absicht entstand, ein Leben als Adeliger zu führen, verfolgte er exemplarisch für den niederen sächsischen Adel anhand des Tagebuchs von Curt Robert von Welck. Die Mutter begann mit Aufzeichnungen über das Leben ihres Sohnes am Tag seiner Geburt, später setzten ein Hauslehrer und Curt Robert von Welck selbst das Tagebuch fort. Weder Kindermädchen, Hauslehrer, Schule oder Universität vermittelten intentional typisch adelige Ansichten. Als Personen kamen hierzu neben den Eltern auch andere, vor allem gleichaltrige Adelige in Frage. Auch darf man sich die Erzeugung von Adeligkeit nicht als rational kalkuliertes Erziehungsgespräch vorstellen, etwa im Rahmen des Generationentransfers. Weder formte der Adel als Gruppe allein die Ideen und Interessen des einzelnen Adeligen, noch ließ sich umgekehrt über fixe Ideen oder Interessen bestimmen, was oder wer Adel war. Beide Zugriffe sind zu schematisch. Denn die Zuweisung beispielsweise von magisch-geblütsrechtlicher und somit irrationaler Denkweise an "den" Adel und auf Entzauberung der Welt bedachter und deshalb rationaler Denkweisen an "das" Bürgertum deckt sich nicht mit den Quellenbefunden, noch konstituierten andererseits etwa die Interessen der Großgrundbesitzer den Adel als Gruppe. Vielmehr vermittelten Handlungsordnungen (Institutionen) zwischen Sozialstruktur und Ideen bzw. Interessen. Jedem Handelnden stand es offen, sich bestimmter kultureller Formen (z.B. Tischsitten) zu bedienen. Damit konnte er symbolisch Prinzipien und Geltungsansprüche zum Ausdruck bringen. Eine Tischordnung konnte die Differenz zwischen der adeligen Familie und dem Personal sichtbar machen und schon einem Kind seinen Status vermitteln. Als typische Vermittlungsinstanz von Adeligkeit erwies sich dann etwa, dass Adelige anderen Adeligen besondere Aufmerksamkeit schenkten.

Insofern den Höfen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts bislang im Hinblick auf die gesellschaftlich-politischen Wandlungen nach Ende des Ancien Régime nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde, stößt MARCUS VENTZKE (Jena) mit seinem Beitrag Die Finanzverhältnisse des Weimarer Hofs an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in eine Lücke. Am Beispiel des sogenannten Weimarer Musenhofs untersuchte er insbesondere die organisatorischen, finanztechnischen sowie die Veränderungen im Werte- und Funktionshorizont der ihn tragenden Eliten. Dabei zeigte sich, dass die unter aufgeklärt-absolutistischen Vorzeichen unternommenen Reformen der ersten Regierungsjahre Herzog Carl August bis in den Vormärz hinein die Grundlage für die innere Gestaltung des Hofwesens blieben. Die Hofverwaltung versuchte in Übereinstimmung mit den Angehörigen des Fürstenhauses auch nach 1800, den Hofetat mittels traditioneller Einsparinstrumente unter Kontrolle zu halten. Da die von 1775 bis 1785 unternommenen Bemühungen, den Hof durch stärkere verwaltungstechnische Verflechtung mit der Kammer besser zu kontrollieren, erfolglos blieben, operierte man nach 1800 vor allem mit Globalzuweisungen und einer wieder stärkeren Entflechtung von Hof und Kammer. Dass Weimar bis 1848 keine Zivilliste hatte, lag wohl vor allem daran, dass die mit einem erheblichen Privatvermögen ausgestattete Großherzogin Maria Pawlowna den Hofetat immer stärker stützte. Die gemeinnützigen Funktionen des Hofes mussten nach 1800 gegenüber der entstehenden Öffentlichkeit aktiv dargestellt und verteidigt werden. Fürst und Hofeliten nutzten dafür eine historisierende Argumentation, wobei die Bedeutung Weimars für die gesamtdeutsche Kultur- und Kunstentwicklung hervorgehoben wurde. Dies geschah, obwohl eine finanzpolitische Strategie zur Etablierung eines mäzenatischen oder Musenhofes vor 1800 nicht erkennbar ist.

Strategien des Machterhalts standen im Vordergrund von SIEGFRIED GRILLMEYERs (Nürnberg) Referat Zur Symbiose von symbolischem und realem Kapital am Beispiel Thurn und Taxis zwischen 1800 und 1870. Die Mediatisierung war für die ehemaligen Reichsgrafen und Reichsfürsten ein Trauma, das ihr Handeln und Selbstverständnis im 19. Jahrhundert prägte. Die sogenannten Standesherren bemühten sich ab 1806 immer wieder, in den Kreis des regierenden Hochadels zurückzukehren und versuchten erfolgreich, die Zugehörigkeit zu dieser Adelsgruppe zu behaupten. Diesen Prozess stellte GRILLMEYER am Beispiel des Fürstenhauses Thurn und Taxis dar. Aufgrund der immensen finanziellen Ressourcen war es möglich, gezielte Investitionen sowohl zur Absicherung der politisch-rechtlichen Stellung als auch zur Vertiefung der kulturellen Vorrangstellung in der Gesellschaft zu tätigen. In Anlehnung an die Begriffsbestimmung von Pierre Bourdieu stellte er die These auf, dass gerade die Wechselwirkung von symbolischem und realem Kapital erfolgreich genutzt wurde, um die exponierte gesellschaftliche Stellung zu behaupten. Der Blick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Fürstenhauses im 19. Jahrhundert machte deutlich, dass durch das fortbestehende "Postregal" Einnahmen zur Verfügung standen, die großen Handlungsspielraum eröffneten. Die unterschiedliche Nutzung dieses Handlungsspielraums wurde anschließend mit einem Blick auf die politisch-rechtlichen Bezüge und die soziokulturelle Verortung des Fürstenhauses anhand verschiedener Beispiele dargestellt. Abschließend wurden die vorgestellten Befunde hinsichtlich der übergeordneten Fragestellung nach der Beharrungskraft des Adels im bürgerlichen Zeitalter bewertet.

Den Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von STEPHAN MALINOWSKI (Berlin): Der Zerfall einer "Familie". Soziale Heterogenität und ideologische Homogenisierung im deutschen Adel nach 1918. Er analysierte den adeligen Familienbegriff als wichtigen Faktor dafür, dass "der" Adel bis ins 20. Jahrhundert hinein zusammengehalten habe. Ungewöhnlich seien einerseits Definition, Zusammenhalt und Funktion der adeligen Familien, andererseits die Vorstellung von einer "Familie des Adels". Die im Vortrag beschriebenen Besonderheiten des adeligen Familienbegriffes basierten auf gemeinsamen materiellen Mindeststandards, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschüttert und nach 1918 weitgehend zerstört wurden. Der für die Mehrheit des Kleinadels unvergleichlich tiefe Sturz von 1918 führte zu einem dramatischen Anwachsen von Adelsgruppen, die sich mit einem zeitgenössischen Begriff als "Adelsproletariat" bezeichnen lassen. Es waren zweifellos diese, in der auf adelige Anpassungsleistungen konzentrierte Forschung bislang weitgehend vernachlässigten Gruppen, welche die "Familie" des Adels vor die größten Schwierigkeiten stellten. Es waren diese Gruppen, die vor und nach 1918 die stärkste soziale und ideologische Dynamik entwickelten, auf welche auch die stabilsten Teile der adeligen "Familie" reagieren mussten. Während die Familie des Adels durch die immensen Unterschiede zwischen ihren reichsten und ihren ärmsten Mitgliedern faktisch immer stärker auseinandergerissen wurde, stiegen Bedürfnis und Bereitschaft zu ideologischer Geschlossenheit und symbolischer Solidarität überall spürbar an. MALINOWSKI beschrieb die Voraussetzungen der Schieflage, die zwischen faktischer Heterogenität und ideologischer Homogenisierung entstand. Den Adelsgruppen, die den Anspruch auf die "Führerschaft" zur Überwindung der "Herrschaft der Minderwertigen" (Edgar J. Jung) am aggressivsten formulierten, war an Machtressourcen wenig mehr als die hartnäckig verteidigte Zugehörigkeit zur "Familie" des Adels geblieben. Abstrahiert von der adeligen Minderheit, die in Landwirtschaft, Reichswehr und Verwaltung weiterhin Elitepositionen innehatte, wird man von einer erfolgreichen "Modernisierung" des Adels vor 1945 kaum sprechen können. Die in den Familien und Adelsverbänden betriebene Umformung des Herrschaftshabitus unter dem Leitbegriff "Führung" erschwerte den konstruktiven Umgang mit den politischen und sozialen Realitäten nach 1918. Die hier festgeschriebenen Wahrnehmungs- und Realitätsverweigerungen - so die These des Verfassers - blockierten modernefähige Koalitionen mit dem Großbürgertum und prädestinierten für eine Annäherung an den radikalisierten Mittelstand.

Mit diesem letzten Beitrag wurde in der Chronologie der Tagung gewissermaßen eine Brücke geschlagen zur Fortsetzung der Büdinger Vorträge im nächsten Jahr. Unter der Leitung von Markus A. Denzel wird dann der Adel vornehmlich im 20. Jahrhundert thematisiert. Vorgesehener Termin: 10. - 12. April 2003. Es ist vorgesehen, die Referate der Doppeltagung 2004 in einem gemeinsamen Tagungsband zu publizieren.


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