Wissenschaftliche Konferenz am ZZF Potsdam
Daß der Zeitzeuge als ärgster Feind des Historikers gilt, ist bekanntermaßen eine ironisierende Umschreibung der Probleme, mit denen sich vor allem die Zeithistoriker bei der Ausübung ihrer Arbeit konfrontiert sehen. Ihre sorgsam ausgearbeiteten Analyserahmen werden allzuoft durch singuläre Erinnerungen daran, wie es denn eigentlich gewesen ist, gesprengt. Zurück bleibt häufig genug eine Historikerzunft, die ausschließlich untereinander über die Geschichte und Erfahrungen der "Anderen" kommuniziert und die der Präsenz von Geschichte in den medial inszenierten Öffentlichkeiten der Gegenwart skeptisch gegenübersteht, da sie nur selten einen angemessenen Rahmen für die Vermittlung historischen Fachwissens bieten. Dieser Umstand rückt allerdings in ein gänzlich anderes Licht, wenn die Historiker beginnen, sich über die Geschichte ihres eigenen Faches und der öffentlichkeitswirksamen Fachdiskussionen zu verständigen, die sich in Deutschland bis heute vor allem um den Nationalsozialismus als Leitthema der Zeitgeschichte bewegen. In diesem Falle wird der Zeithistoriker selbst zum Zeitzeugen, noch mehr: seine eigene Biographie kann darüber hinaus zum Erklärungshintergrund für das streitige Verhalten in der fachlichen Auseinandersetzung werden. Zudem öffnet sich dabei der Blick auf die Gemengelage von Politik und Öffentlichkeit wie von selbst. Die Auseinandersetzungen mit den politischen Zumutungen innerhalb einer medial inszenierten Öffentlichkeit konstituieren überhaupt erst das besondere Selbstverständnis einer Zeitgeschichte, die sich als Teil der politischen Kultur in einem pluralistischen Gemeinwesen begreifen lernt.
Somit war es naheliegend, daß die vom 20. bis 22. Juni 2002 am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung stattfindende Konferenz, die unter dem Titel "Zeitgeschichte als Streitgeschichte" eine historisch-vergleichende Rückschau auf die großen historischen Fachkontroversen in Deutschland, Frankreich, Polen und in der Schweiz bot, auf eine sich bereitwillig dem Gebot der Selbsthistorisierung stellende Historikerschar traf, die zahlreich angetreten war, ihr Verhältnis zu Politik und medialer Öffentlichkeit gemeinsam zu verhandeln. Möglich wurde die Tagung durch die finanzielle Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung; als weitere Sponsoren waren zudem die Dresdner Bank sowie der Verein der Freunde und Förderer des ZZF gewonnen worden.
In seinem Grußwort gratulierte Staatssekretär Christoph Helm (MWFK) dem ZZF zu seinem neuen Domizil am Neuen Markt. Durch die Konzentration mehrerer geisteswissenschaftlicher und kultureller Einrichtungen an diesem schönsten Platz Potsdams seien die Voraussetzungen geschaffen, den Ort zu einem der geistigen Zentren der Stadt zu machen. Die Konferenz diene neben der Frage nach der Bedeutung historischer Fachkontroversen für die politisch-demokratische Kultur der Bundesrepublik vor allem auch der historischen Selbstreflexion der Zunft, verdeutlichte der geschäftsführende Direktor des ZZF, Konrad Jarausch, in seiner Eröffnungsansprache das Anliegen der Veranstalter. Ko-Direktor Christoph Kleßmann (Potsdam) widmete sich in seinem Eröffnungsvortrag der Frage nach dem Stellenwert von "Zeitgeschichte als wissenschaftlicher Aufklärung" im Zeitalter der Postmoderne. Die systematische Erschließung neuer Themen durch die Zeitgeschichte und die postmodernen Infragestellungen hätten der traditionellen Erwartung wissenschaftlicher Objektivierbarkeit bewußt die Vielfalt divergierender Geschichten und Erfahrungen gegenübergestellt. Die Suche nach Wahrheit und Objektivität, die Unterscheidung von Lüge und Wahrheit bleibe allerdings nach wie vor die regulative Idee einer an wissenschaftlicher Aufklärung sich orientierenden Zeitgeschichtsforschung, so Kleßmann. Gleiches gilt für die kritische Historisierung, die eine unverzichtbare wie schwierige Aufgabe der Zeitgeschichte bleibt und zu den unterschiedlichen individuellen und kollektiven Erinnerungen der Zeitzeugen in Beziehung gesetzt werden muß. Die Erinnerungen könnten eben nicht allein zum Gegenstück objektiver Geschichte erklärt werden, sondern müßten integraler Bestandteil fachwissenschaftlicher Analysen sein, "weil nur so Aufklärung sich ihrem selbstgesetzten Ziel wenigstens annähern kann."
Mit der "Fischer-Kontroverse" als einer Schlüsseldebatte der Vergangenheitspolitik in der frühen Bundesrepublik beschäftigte sich Konrad Jarausch im ersten Vortrag der Sektion "Fachdebatten und Öffentlichkeit", die von Christoph Classen (Potsdam) moderiert wurde. Jarausch betonte den kanonischen Status der Kontroverse innerhalb der Historiographiegeschichte der Nachkriegszeit sowie ihren nachhaltigen Einfluß auf die Veränderung der bundesdeutschen Geschichtskultur in den sechziger Jahren. Im Verlauf der Kontroverse verband sich eine selbstkritische Sicht eines Teils der Historikerzunft auf das deutsche Kaiserreich mit einem allgemeinen politischen Klimawechsel. Darin liege, so Jarausch, der Grund für das Zusammenfallen von Fachdebatte, öffentlichen Medienkampagnen und politischen Machtkämpfen während der Fischer-Kontroverse. In seinem Kommentar zum Vortrag relativierte Imanuel Geiss (Bremen) die von Jarausch vorgebrachte moralische Aufladung der Kontroverse durch die Fischer nahestehenden Historiker. Ein "Hantieren mit der Kriegsschuldthese" hätte nicht im Interesse Fischers und seiner Schüler gelegen.
Über eine ebenso emotional beladene und kontrovers geführte fachliche Auseinandersetzung der Historiker, den Streit um die Geschlechter- und Alltagsgeschichte in den achtziger Jahren, referierte im Anschluß daran Adelheid von Saldern (Hannover). Ihre Ausführungen beruhten auf einer eigens durchgeführten Umfrage unter Historikern über die Innovationsfähigkeit der deutschen Geschichtswissenschaft. Diese sei vor allem durch die spezifische Wissenschaftskultur und den traditionellen Habitus der deutschen Professorenschaft im Fach Geschichte gehemmt. Die Vorläufigkeit ihrer Untersuchungen hervorhebend, machte von Saldern darüber hinaus zwei Aspekte für die Schwierigkeiten des Faches Geschichte mit neuen Herausforderungen wie der Alltags- und Geschlechtergeschichte verantwortlich: die politische Dimension des Holocaust in der deutschen Nachkriegsgeschichte sowie die fachliche Etablierung der Gesellschaftsgeschichte in den sechziger und siebziger Jahren als "schwere Geburt". Letztere müßten nun auch die neuen methodischen Ansätze über sich ergehen lassen. In seinem Kommentar zum Vortrag bestritt Jürgen Kocka (Berlin) die These, daß sich die deutsche Fachhistorie im Vergleich zu Frankreich, den USA und Großbritannien durch größere Innovationshemmnisse "auszeichne". In seiner Gegenrede plädierte Kocka für ein größeres Maß an Streitkultur innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft, warnte aber ebenso vor den "negativen Auswirkungen des Streits". Fundamentalistische Debatten und programmatisch ausgerichtete Positionen ließen die Kosten des Streits für die Wissenschaft immens werden. So wäre es nach 1989 fruchtbarer gewesen, den nationalgeschichtlichen Rahmen der Zeitgeschichte zu transnationalisieren, als die innerfachlichen Debatten um postmoderne Ansätze der Geschichtswissenschaft fortzusetzen. Im Hinblick auf die Alltags- und Geschlechtergeschichte verdeutlichte von Saldern in ihrer Replik allerdings noch einmal den Sonderweg der deutschen Geschichtswissenschaft und betonte vor allem die individuellen Kosten, die mit der verzögerten Öffnung der Historie gegenüber anderen Perspektiven verbunden wären.
War in der Diskussion der Fischer-Kontroverse bereits angedeutet geworden, wie sehr historische Fachdebatten der außerfachlichen Öffentlichkeit bedürfen, so rückte die folgende, von Klaus Große Kracht (Potsdam) moderierte Sektion "Auf dem Weg in die Medienkontroverse" das Verhältnis von Medienöffentlichkeit und Fachwissenschaft in den Mittelpunkt des Interesses. Der Vortrag von Ulrich Herbert (Freiburg) über den Historikerstreit von 1986/87 rekonstruierte anhand der langjährigen Auseinandersetzungen über die Genese des Holocaust zwischen Intentionalisten und Strukturalisten zunächst den wissenschaftlichen Kontext für den erbittert ausgetragenen, wenngleich wenig ertragreichen Streit um die durch Ernst Noltes "geschichtsphilosophische Spekulationen" in Frage gestellte Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Judenmordes. Die traditionelle NS-Forschung hätte aber, so Herbert, durch ihre ständige "Konkretionsvermeidung" hinsichtlich der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen einen Ansatzpunkt für Revisionen geboten. Die inhaltlichen Auseinandersetzungen waren vor allem durch die brisante Mischung von Fragen der Moral und der Geschichtspolitik geprägt, die wohl maßgeblich auch das Resultat einer latenten Unsicherheit über die Geschichtspolitik der Regierung Kohl war. Die These von Herbert, daß dieser Streit das Auseinanderbrechen einer Historikergeneration der 1920er Jahrgänge anzeige, die Heftigkeit der Auseinandersetzung somit auch den persönlichen Kriegstraumata einiger Kombattanten geschuldet sei, wurde von Hans Günther Hockerts (München) in seinem Kommentar bereitwillig aufgegriffen. Er charakterisierte die Mehrzahl der Protagonisten des Historikerstreits als "gebrannte Kinder des NS" und sah in dem eigenartigen "Geknäuel von Wissenschaft, Moral und Politik" den Hauptgrund für eine zunächst eher negative Bewertung des Historikerstreits. Dessen Auswirkungen seien erst in den neunziger Jahren zu spüren gewesen, als der Holocaust verstärkt ins Zentrum der NS-Forschung rückte.
An diesem Punkt setzte Norbert Frei (Bochum) mit seiner Rückschau auf die Goldhagen-Debatte im Sommer 1996 ein. Das sogenannte "Goldhagen-Phänomen" präsentierte sich für ihn als ein "eindrucksvoller Sog der medialen Konkretion nationalsozialistischer Gewaltverbrechen", die ihre Vorläufer in den Spielfilmen "Holocaust" und "Schindlers Liste" hatte, und durch die sich der Holocaust in der breiteren Rezeption letztendlich als Kernereignis der NS-Zeit darstellte. Es war, so resümierte Frei, vor allem die in der wissenschaftlichen Holocaust-Literatur bis dahin unbekannte Anschaulichkeit der Darstellung, ihre filmische Plastizität und Simplizität, die den beispiellosen Erfolg des Goldhagen-Buches in der Bundesrepublik begründet hat. Allerdings zeigte sich am Beispiel der Wochenzeitung "Die Zeit" zum ersten Male deutlich, daß historische Kontroversen auch von den Medien initiiert und gesteuert werden können. Volker Ullrich (Hamburg), der den Kommentar zum vorangegangenen Vortrag lieferte, hatte im April 1996 voreilig vom "neuen Historikerstreit" gesprochen, der sich um das von der überwältigenden Mehrheit der Fachhistoriker abgelehnte Buch entzünden sollte. "Die Zeit" druckte in der Folge Stellungnahmen namhafter deutscher Zeithistoriker zur Grundthese Goldhagens ab, der Holocaust sei, angetrieben von einem "eliminatorischen Antisemitismus", ein kollektives und nationales Projekt der Deutschen gewesen. Das eigentliche "Goldhagen-Phänomen" spielte sich allerdings weniger in den Feuilletons, sondern vielmehr während der Deutschland-Tournee Goldhagens ab. Die Buchvorstellungen und Diskussionsrunden mit Historikern gerieten zu Sympathiebekundungen ungekannten Ausmaßes für den jungen amerikanischen Politologen. Frei sah darin vor allem das Ritual einer Erneuerung der moralischen Selbstbindung der deutschen Gesellschaft an eine unterdessen historisch gewordene Kollektivschuld am Werk.
Daß aber auch noch in den neunziger Jahren heftig in der Öffentlichkeit über die NS-Gewaltverbrechen gestritten werden konnte, zeigte das Beispiel der "Wehrmachtsausstellung", das Hans-Ulrich Thamer (Münster) in seinem Vortrag behandelte. Die Auseinandersetzungen übertrafen die vorangegangenen Debatten an Dauer und Intensität um ein Vielfaches. Selbst das Moratorium der Ausstellungsmacher im November 1999, nachdem es auch von fachhistorischer Seite Kritik an der Dokumentation der Gewaltverbrechen der Wehrmacht gegeben hatte, konnte die öffentliche Debatte nicht beenden. Thamer zufolge hatte die Ausstellung zwei vergangenheitspolitische Zielsetzungen: Es ging um eine veränderte Zuschreibung des historischen Ortes von Krieg und Wehrmacht als Teil der NS-Politik und eine kritische Auseinandersetzung mit tradierten Geschichtsbildern in der Bundesrepublik. Allerdings bedurfte es für die bundesweite Aufmerksamkeit der "Fundamentalopposition" eines Peter Gauweiler in München. Fortan fand ein Prozeß der "kumulierenden Neugierde" statt: Die Ausstellung war immer schon Thema, bevor sie überhaupt da war, und die langen Warteschlangen verdeutlichten die hohe Aufnahmebereitschaft der Öffentlichkeit für dieses kontrovers diskutierte Thema.
Den Abschluß des langen Konferenztages bildete der Abendvortrag von Reinhard Koselleck (Bielefeld) über "Mahnmalstreit und historische Identität". Er rekonstruierte ausführlich die Entwicklung und den Wandel historischer Denkmäler im internationalen Vergleich, vom allegorischen und herrschaftsorientierten zum kritischen Denkmal. Am Beispiel der Auseinandersetzung um das Mahnmal Neue Wache erneuerte Koselleck seine Kritik am künstlerischen und politischen Gehalt des Denkmals. Nicht nur sei die Pieta unsinnigerweise vergrößert worden, die Formel "Den Opfern der Gewaltherrschaft" verunmögliche zudem auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Ebenso deutliche Kritik übte Koselleck auch an dem Entwurf Eisenmans für das Zentrale Holocaust-Mahnmal in Berlin. Hier würde eine amerikanische Betroffenheitsperspektive auf den deutschen Erinnerungskontext übertragen und mit dem Gebot der Nichtdarstellbarkeit des Holocaust gebrochen. Zudem verdeutliche der Denkmalsentwurf in problematischer Weise die Singularisierung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen auf den Mord an den Juden.
Deutlicher als am Vortag geschehen, widmete sich die von Jürgen Danyel (Potsdam) moderierte Sektion "Die Herausforderung der Selbsthistorisierung" am zweiten Konferenztag dem Problem des Zeithistorikers als reflektierendem und beteiligtem Zeitgenossen. Martin Sabrow (Potsdam) versuchte in seinem Vortrag über den "Umbruch von 1989 und die Historiker", einfache Deutungen hinsichtlich des Streits um die Abwicklung der ostdeutschen Historikerzunft und die Infragestellung der westdeutschen DDR-Forschung zu vermeiden. Der Historisierung dieser häufig auf die Frage "Wer darf die DDR-Geschichte erforschen?" vereinfachten Debatte stehen, Sabrow zufolge, die unmittelbare zeitliche Nähe und die fehlende Distanz des beteiligten Historikers entgegen. Die Historikerdebatte sei zudem eine Stellvertreterdebatte um die DDR-Vergangenheit in toto gewesen und verband sich vor allem für die DDR-Historiker immer auch mit der Sicherung oder dem Verlust der eigenen institutionellen Stellung und sozialen Reputation. Fünf Jahre nach Ende der Debatte zeigt sich dagegen überraschend deutlich, daß die ehemals miteinander konkurrierenden, "apologetischen wie akkusatorischen Deutungsmuster" heute im "großen Basislager einer kritischen Historisierung" aufgegangen seien. Daß die Auseinandersetzungen um den Umbruch von 1989 für die Historie eine fundamentale Identitätskrise darstellten, wollte allerdings weder dem Publikum noch dem Kommentator Wolfgang Mommsen (Düsseldorf) gänzlich einleuchten. Dabei würde es sich vielmehr um einen längeren Prozeß als um einen tiefen Bruch handeln. Die Krise verdeutlichte sich für Mommsen eher in der Fixierung auf nationalgeschichtliche Perspektiven und einen starren Blick nach Westen.
"Die Chiffre 1968 ist inhaltsleer", charakterisierte Ingrid Gilcher-Holtey (Bielefeld) die Folgen der nicht stattgefundenen fachlichen Auseinandersetzung mit den Ereignissen von 1968. Die von ihr im folgenden skizzierten Gründe für das Ausbleiben der Debatte betrafen allerdings nicht allein die Zeitgeschichte, sondern gleichermaßen auch die Blockaden einer distanzierenden, sich selbst in Frage stellenden Betrachtung bei den Akteuren sowie die politischen Wahrnehmungsblockaden dieses Ereignisses (Terrorismus). Die professorale Etablierung vieler Beteiligter von 1968 in den siebziger und achtziger Jahren mag ein Grund für die fehlende Berücksichtigung der 68er-Ereignisse gewesen sein: Sie hätten sich dabei mit ihren früheren politischen Einstellungen auseinandersetzen müssen. Den Umstand einer ausgebliebenen Zeitgeschichtskontroverse nahm Thomas Lindenberger (Potsdam) in seinem Kommentar zum Anlaß, nach den generellen Gründen für die Ermöglichung zeithistorischer Debatten zu fragen. Bedürfe es für diese nicht immer eines Vorlaufs an wissenschaftlicher Forschung sowie die Involvierung der Historiker auf einem "gewissen kritischen Niveau"? Beides hätte im Fall 1968 nicht vorgelegen.
Dem vielfach auf der Tagung geäußerten Gebot, das Verhältnis von Zeitgeschichte, Öffentlichkeit und Politik im europäischen Kontext zu historisieren, entsprach die von Simone Barck (Potsdam) moderierte Sektion, die sich unter dem Titel "Tabu und Kontroverse in vergleichender Perspektive" zentralen geschichtspolitischen Debatten in Polen, Frankreich und der Schweiz widmete. Die bis in die Gegenwart hinein wirkenden Auseinandersetzungen in Frankreich um die Deutung der Vichy-Zeit (1940-44) und des Algerienkrieges (1954-62) wurden von Étienne François (Berlin/Paris) auf ihre Gemeinsamkeiten befragt. Die "obsessive Gegenwart der Vergangenheit" in Frankreich in den letzten zwanzig Jahren stellte nicht nur die Politik vor die Aufgabe, die historische Identität und politische Kultur der IV. und V. Republik neu zu verhandeln, sondern bedeutete auch für die Zeithistorie in Frankreich eine bisher ungeahnte Herausforderung: Historiker werden zu Experten in der juristischen Aufarbeitung. Für die verspätete Wiederkehr der Vergangenheit lieferte Peter Schöttler (Berlin/Paris) in seinem Kommentar ein überzeugendes Argument. Der Wegfall der ideologischen Fronten zwischen KPF und der französischen Rechten nach 1989 bewirkte in diesem Fall, daß nun auch über den Kolonialismus und die Résistance entspannter geredet werden konnte.
Über einen noch nicht abgeschlossenen Historikerstreit mit großer Öffentlichkeitswirksamkeit referierte im folgenden Wlodzimierz Borodziej (Warschau). Der durch das Buch "Nachbarn" des polnischen Soziologen Gross aufgebrachte Streit um das Verhältnis zwischen Polen und Juden während der deutschen Besatzungszeit im II. Weltkrieg weise durchaus Parallelen zu deutschen Debatten auf, so Borodziej; allerdings sei die politische Dimension dieses Streits weitaus größer einzuschätzen, wie die Stellungnahme des polnischen Staatspräsidenten Kwasniewski zeige. Das kontrovers diskutierte Buch von Gross hat der Zeitgeschichte in Polen aber nicht nur eigene Versäumnisse präsentiert, es spaltet sie nach dem Umbruch von 1989 auf neue Weise und führt bis zu "personenbezogenen Emotionen und Kommunikationslosigkeit". Zugleich hat es den schmerzvollen Prozeß eines Abschieds von der "martyrologischen" Legitimationsstrategie innerhalb der polnischen Gesellschaft herausgefordert, dessen Ende allerdings noch nicht absehbar sei. Auf die aktuellen Probleme der polnischen Transformationsgesellschaft vor den goldenen Pforten der EU ging auch Gesine Schwan (Frankfurt/Oder) in ihrem Kommentar ein. Die Frage der europäischen Sicht auf Polen bestimme maßgeblich auch die geschichtspolitische Auseinandersetzung. Hinsichtlich der Pluralisierung von Geschichtsbildern und Identifikationsfolien sah sie Polen gegenüber vielen westeuropäischen Gesellschaften deutlich im Rückstand.
Somit blieb nur noch die Schweiz als Sonderfall zu thematisieren. Daß es "Kleinstaaten in historischem Sinne in sich haben", zumal wenn sich, wie im Fall der Schweiz, das positive Image aus der Nichtbeteiligung an der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts herleitet, wie Jakob Tanner (Zürich) es formulierte, wurde im vorangegangenen Vortrag von Sacha Zala (Bern) über die "Geltung und Grenzen des schweizerischen Geschichtsmanagements" überdeutlich. Der aktuellen "Monetarisierung und Verrechtlichung der Geschichte" ging eine lange Phase der staatlichen Unterbindung zeithistorischer Erforschung der schweizerischen Geschichte im Hinblick auf den Nationalsozialismus voraus. Die von Tanner in seinem Kommentar ausführlich berücksichtigte "Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg" könne aber als beredtes Zeugnis dafür gelten, daß auch die Geschichtspolitik der Schweiz in der Gegenwart angekommen sei.
Nach dem umfangreichen und interessanten Programm der vorausgegangenen Konferenztage fehlte der abschließenden Podiumsdiskussion, die von Hans-Hermann Hertle (Potsdam) und Ralph Jessen (Berlin) moderiert wurde, die nötige Brisanz, um dem Thema "Historiker in der Streitkultur der Gegenwart" gerecht zu werden. Deutlich wurde allemal, daß das Selbstverständnis einer Zeitgeschichte als Streitgeschichte ohne die Medienpräsenz und gesellschaftliche Anteilnahme nicht überzeugend zu formulieren ist. Die vierzigjährige Geschichte des Streitens über geschichtspolitisch brisante Fragen lehre aber auch, so Jessen, daß es für Zeithistoriker häufig notwendig ist, die Gemengelage von Geschichtsmoral, fachlichen und politischen Aspekten überhaupt erst einmal zu trennen. Ob die Zeithistoriker die Lust am Streiten verloren hätten, mochte Brigitte Seebacher-Brandt (Bonn) nicht beantworten. Ihrem Eindruck nach hätte die Mediengesellschaft eher die Lust auf die Zeithistoriker verloren, sie brauche keine Vergangenheitsvergewisserung. Dem widersprach Ute Frevert (Bielefeld) mit dem Hinweis auf die Präsenz von Historikern im öffentlichen Gespräch. Allerdings müßten diese den Umgang mit den Medien jenseits des Feuilletons noch lernen. Knut Nevermann (Berlin) gab zu bedenken, daß sich auch die Medien und damit die Aufnahmefähigkeit für historische Themen in den letzten 20 Jahren entscheidend verändert haben. Ein Film wie "Holocaust", der 1979 im ersten Programm lief und anschließend in den dritten Programmen noch wiederholt wurde, könnte heute keinesfalls ein derartiges Medienereignis werden. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der europäischen Zeitgeschichtskultur verdeutlichte das Beispiel Polen, das Adam Krzeminski (Warschau) anführte. Dort ständen sich im Hinblick auf die Zeitgeschichte derzeit zwei unterschiedliche Polen gegenüber, ein weltoffenes mit Empathie für die "Anderen" und ein nationalkatholisches. Überhaupt verspricht die Europäisierung der Zeitgeschichte noch ein hohes Maß an Streit, wie Jürgen Kocka am Beispiel der Vertreibungsdiskussion in Erinnerung brachte. Ob zeithistorische Debatten in der Öffentlichkeit denn wenigstens den Museen hohe Besucherzahlen brächten, ließ sich durch Rainer Eckert (Leipzig) aus erster Hand verneinen, und er räumte sogleich mit einer anderen Illusion der Zeithistoriker auf, dem Glauben an politische Einflußnahmen auf die historische Arbeit in Museen. Eckert hob dagegen noch einmal die Rolle von Schulen und Museen für die Vermittlung von Geschichtskenntnissen hervor, da konnte Nevermann nicht widerstehen, auf den Nutzen der Historiker für den Geschichtsunterricht zu insistieren. Die Diskussion schien sich irgendwo in den siebziger Jahren zu bewegen, da half auch Freverts Hinweis auf die ausgewählten Öffentlichkeiten der Chatrooms nicht weiter. Somit wirkte die Bemerkung Adelheid von Salderns am Ende einer langen Konferenz doch irgendwie befreiend: "So viel Historiker wie möglich in die Talkshows!" Denn in den Elfenbeinturm der fünfziger Jahre wünschen sich die Zeithistoriker wohl kaum zurück.