3. Pforzheimer Gespräche zur Sozial-, Wirtschafts- und Stadtgeschichte: Der Lastenausgleich. Aspekte und Probleme der historischen Entwicklung seit 1949
In einer Bilanz von Richard Löwenthal und Hans-Peter Schwarz zum 25jährigen Jubiläum der Bundesrepublik war über den Lastenausgleich zu lesen, dass er weder eine „fühlbare“ Vermögensumschichtung noch eine Änderung der Sozialstruktur bewirkt und auch nicht zu „bleibenden inneren Parteiungen“ oder Unruhen geführt habe. Allerdings habe das entsprechende Gesetz in beträchtlichem Maße dazu beigetragen, die Wirtschaft anzukurbeln, den Wohnungsbau zu forcieren, die Gemeinden finanziell zu entlasten und die drohende „Vermassung der Opfer von Vertreibung, Flucht und Bombenkrieg“ zu verhindern. Angesichts dieser zumindest mit Blick auf die wirtschaftlichen Effekte ausgesprochen positiven Bilanz verwundert es schon, dass die Forschung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, seither um dieses Thema einen weiten Bogen gemacht hat. Erst seit kurzer Zeit, angeregt wohl auch durch das große Projekt zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, nimmt das Interesse am Lastenausgleichsgesetz (LAG) wieder deutlich zu. Insofern kam der von Paul Erker (München) aus Anlass des 50. Jubiläums des LAG organisierten und von der Stadt Pforzheim finanzierten Tagung – zugleich die dritte Veranstaltung im Rahmen der jährlich stattfindenden „Pforzheimer Gespräche zur Sozial-, Wirtschafts- und Stadtgeschichte“ – auch die Aufgabe zu, eine erste Zwischenbilanz dieser neuerlichen Bemühungen um eine archivgestützte Aufarbeitung des Lastenausgleichs zu ziehen.
In seiner Einführung erläuterte Erker die aktuellen Forschungstrends. Er erwähnte insbesondere die Ausweitung des Untersuchungszeitraums bis in die Gegenwart und damit das wachsende Interesse an Wirkungsanalysen, die Verschiebung der Perspektive von der bundesweiten und volkswirtschaftlichen auf die regionale und branchenspezifische Ebene und die stärkere Einbeziehung der DDR sowie neue methodische Zugriffe, etwa die Zuhilfenahme des Generationenansatzes oder des property rights-Konzepts. Außerdem gab er den Tagungsteilnehmern einige Leitfragen vor: Stimmt das Bild von der „größten Wirtschafts- und Finanztransaktion“ der deutschen Geschichte vor 1989/90? Handelte es sich tatsächlich um eine „Eigentumsrevolution“? Überwogen die psychologischen oder die realwirtschaftlichen Effekte? Enthielt der Lastenausgleich gar Elemente einer Wiedergutmachung?
In der ersten Sektion setzten sich Wolfgang Rüfner (Köln), Manuela Hoffmann und Jürgen Nautz (beide Kassel) mit den rechtlichen Aspekten des LAG auseinander. Dabei wurde deutlich, dass man von „dem“ LAG gar nicht sprechen kann, da es mindestens 34 Änderungsgesetze gab. Bewohner der DDR kamen nicht in der Genuss des Lastenausgleichs, erst seit 1961 wurden Zuwanderer berücksichtigt. Rüfner betonte, dass das LAG kein gezielter Versuch zur Umgestaltung der Sozialordnung gewesen sei, aber durch soziale Befriedung und die Erleichterung der Eingliederung beträchtlich zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik beigetragen habe.
Die Referenten der zweiten Sektion widmeten sich den wirtschaftlichen Implikationen: Alfred Reckendrees (Köln) untersuchte die Auswirkungen des LAG auf Unternehmen der Textil- und Chemieindustrie, Lutz Wiegand (München), einer der Pioniere der Erforschung des LAG, richtete den Blick auf die volkswirtschaftliche Aspekte, und Andreas Eichmüller (München) beschäftigte sich mit der Landwirtschaft. Sowohl Reckendrees als auch Wiegand hoben die positiven Effekte für den Wohnungsbau hervor, letzterer erinnerte allerdings daran, dass die Geschädigten die Unterstützung in Form von Steuern teilweise selbst bezahlten. Im Durchschnitt seien Vermögen mit ca. 10 Prozent belastet worden, während die Verlust zu höchstens 30 Prozent entschädigt worden seien. Die in Unternehmerkreisen dominante Erwartung sozialintegrativer Folgen des LAG unterstrich Reckendrees mit einem Zitat von Robert Pferdmenges: „Wenn wir knausrig sind, schlagen uns die Kerls die Fenster ein!“ Unter den Landwirten artikulierte sich, initiiert von den Bauernverbänden, mitunter heftiger Protest gegen die vermeintliche soziale Unausgewogenheit des LAG, das gelegentlich als „Würgeengel des Bauernstandes“ attackiert wurde; im Grundsatz, so Eichmüller, habe jedoch die Zustimmung überwogen.
Sozial- und kommunalpolitische Aspekte standen im Mittelpunkt des dritten Teils der Tagung. Joachim Tautz (Oldenburg) stellte am Beispiel Bremens mit den „Fliegergeschädigten“ eine besondere Empfängergruppe vor, die sich überwiegend aus dem deutschnationalen Milieu rekrutierte, Carl-Jochen Müller (Mannheim) schilderte den bürokratischen Vollzug des LAG in seiner Heimatstadt und Georg Wagner-Kyora (Halle) behandelte den Einsatz von Mitteln aus dem Lastenausgleich im sozialen Wohnungsbau. Wie gespannt das Verhältnis zwischen Geschädigten und Behörden mitunter sein konnte, veranschaulicht die Bemerkung eines Beamten zu einem Spätheimkehrer: „Sind Sie froh, dass Sie überhaupt da sind – andere kommen gar nicht mehr...“ Auch konnte, vermutlich nicht nur in Mannheim, von einem harmonischen Verhältnis zwischen den verschiedenen Geschädigtengruppen, insbesondere zwischen „einheimischen“ und „fremden“ Geschädigten, oft keine Rede sein. Mit Blick auf den Wohnungsbau zog Wagner-Kyora hingegen eine überwiegend positive Bilanz: Der Lastenausgleich habe in hohem Maße zur Wohnungsversorgung der Vertriebenen beigetragen, auch sei die Bereitstellung von Wohnungen durch konkurrierende Interessen oder komplizierte Antrags- und Bewilligungsverfahren nicht nennenswert behindert worden.
Die Referate der letzten Sektion beschäftigten sich mit der Entwicklung in der DDR. Marcel Boldorf untersuchte die „Verdrängung“ der Kriegsgeschädigtenproblematik in der SBZ/DDR, während Michael Schwartz die ostdeutsche Diskussion rekapitulierte. Obwohl ein LAG fehlte, kümmerten sich die Behörden um die Bewältigung der sozialen Kriegsfolgelasten. Allerdings blieb die Kriegsopferversorgung in der SBZ/DDR grundsätzlich diskreditiert, und Schwerbeschädigte wurden oft als „Militaristen“ diffamiert. Trotzdem, so Boldorf, sei ein höherer Anteil von Schwerbeschädigten an Betriebe vermittelt worden als in Westdeutschland. Wie Schwartz zeigen konnte, wurde die Diskussion über eine Entschädigung der Flüchtlinge und Vertriebenen nach Gründung der DDR „von oben“ beendet, zumal für die SED mit der „Enteignung der Kriegsverbrecher und Konzernherren“ der eigentliche Lastenausgleich bereits verwirklicht war. In die angestrebte „egalitäre Leistungsgesellschaft“ sollten sich alle, ungeachtet ihrer Vergangenheit, einreihen. Und im Gegensatz zur Bundesrepublik, wo bei Vertriebenen und Einheimischen der Wunsch nach Rückkehr dominierte, herrschte in der DDR die Überzeugung vor, dass die Vertriebenen dauerhaft bleiben würden.
In seinem Schlussvortrag würdigte Michael Hughes (Wake Forest University) den Lastenausgleich in der Bundesrepublik als erfolgreichen Versuch zur Bewältigung der Kriegsschäden: Der mehr oder weniger freiwillige Beitrag der Nichtgeschädigten habe geholfen, die westdeutsche Gesellschaft zu konstituieren. Die abschließende Diskussion drehte sich unter anderem um die Rolle der Alliierten, um Vorbilder des Lastenausgleichs, um Kontinuitäten und Zäsuren und um die Funktion der Vertriebenen im Kalten Krieg. Immerhin erfolgte, wie Wagner-Kyora in Erinnerung rief, weder eine Militarisierung der Kriegs- und Fluchtgeschädigten noch eine Radikalisierung nach Rechts. Über den beachtlichen Ertrag der Tagung, der durch eine Übersicht über die Bestände des LAG-Archivs in Bayreuth und einzelne Quellenfunde noch eine Steigerung erfuhr, wird sich die interessierte wissenschaftliche Öffentlichkeit im kommenden Jahr (2003) ein eigenes Bild machen können, wenn der geplante Sammelband erschienen sein wird.