Das Markenzeichen des Sozialismus. Sozialpolitik der DDR als politisches und gesellschaftliches Spannungsfeld

Das Markenzeichen des Sozialismus. Sozialpolitik der DDR als politisches und gesellschaftliches Spannungsfeld

Organisatoren
Institut für Zeitgeschichte München-Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.12.2002 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Michaela Maria Müller, Berlin; Ulrike Schulz, Berlin

Das Markenzeichen des Sozialismus. Sozialpolitik der DDR als politisches und gesellschaftliches Spannungsfeld. Eine Fachtagung des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin am 3. Dezember 2002 in Berlin

Sozialpolitik hatte in der Geschichte der DDR einen unterschiedlichen Stellenwert, aber stets eine systemstabilisierende Funktion. Wenn auch die SED in den fünfziger Jahren aus ideologischen Gründen auf die Herausstellung des Sozialpolitik-Begriffes weitgehend verzichtete, so reagierte sie in der Praxis mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auf wachsenden sozialpolitischen Handlungsdruck. Nach einer sukzessiven Aufwertung des Politikfeldes war Sozialpolitik insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren weit mehr als ein Politikbereich neben anderen, rückte sie doch ins Zentrum des Selbstverständnisses des "real existierenden Sozialismus" auf deutschem Boden. Sozialpolitik wurde in mehrfacher Hinsicht entgrenzt: Nicht nur in begrifflicher Hinsicht fusionierte sie mit der Ökonomie zur "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik". Weitgehend parallel wurde sie aufgewertet zu einer "Superpolitik", die zunehmend alle materiellen Lebensverhältnisse der Bevölkerung einschließlich Einkommen und Konsum steuern sollte. Das damit verbundene Versprechen rasch und stetig steigenden Wachstums wurde primär in systemstabilisierender Absicht bis 1989 in regelmäßigen Abständen erneuert. Gleichzeitig erhielt Sozialpolitik einen umfassenden gesellschaftlichen Gestaltungsauftrag: Sie galt als Mittel zur Verwirklichung des ideologisch indizierten Ideals gesellschaftlicher Gleichheit. Sie war damit im Kern des machtpolitischen und des sozialen Konzepts von "Sozialismus" angekommen.

Die jüngere Forschung zur DDR-Sozialpolitik hat beachtliche Ergebnisse zu einzelnen Phasen und zu verschiedenen Handlungsfeldern erbracht. Darauf aufbauend sollten im Rahmen einer Tagung des Instituts für Zeitgeschichte München - Berlin, die am 3. Dezember 2002 in Berlin stattfand, zentrale Strukturelemente der DDR-Sozialpolitik unter systematischen Gesichtspunkten längsschnittartig diskutiert werden. Dabei wurde Sozialpolitik in mehreren Spannungsfeldern verortet: zwischen Politik, Ökonomie und Gesellschaft, in Zielkonflikten divergierender politischer Vorgaben, im System konkurrierender und kooperierender Politikfelder, im Bereich intendierter und nichtintendierter Folgen. Die Tagung verfolgte das Ziel, einen neuen Blick auf den Untersuchungsgegenstand zu werfen, indem sie mit ausgewählten Fragestellungen den jeweiligen Standort von Sozialpolitik in Politik und Gesellschaft der DDR zu bestimmen suchte. Um nicht in eine statische Betrachtungsweise zu verfallen, sollte in den Beiträgen das Prozeßhafte, d.h. der Entwicklungscharakter der DDR-Sozialpolitik in den Vordergrund gestellt werden. Darüber hinaus ging es den Organisatoren der Tagung, Dierk Hoffmann, Michael Schwartz und Peter Skyba, darum, statt allzu eindeutige Antworten zu geben, auf Ambivalenzen und inhärente Widersprüche der DDR-Sozialpolitik hinzuweisen.

In seiner Begrüßung machte der stellvertretende Institutsdirektor Prof. Udo Wengst (München) darauf aufmerksam, dass nahezu alle Referenten aufgrund ihrer Mitarbeit am vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit und dem Bundesarchiv herausgegebenen "Handbuch zur Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945" mit der Tagungsthematik vertraut seien. 1 Im Anschluss daran erläuterte André Steiner (Potsdam) das spannungsreiche Verhältnis von Sozialpolitik und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit in der DDR. Dabei zeigte er, dass die Finanzierung der sozialen Leistungen, die auch die indirekten Leistungen einschlossen den Staatshaushalt zunehmend belastete. Besonders seit dem Regierungsantritt Honeckers Anfang der siebziger Jahre stieg sowohl der Anteil der Sozialleistungen am Bruttoeinkommen der Bürger als auch der Anteil der Sozialausgaben an der gesamten Wertschöpfung der Wirtschaft steil an. Dadurch wiederum wuchsen die Sozialleistungen stärker als das leistungsbezogene Einkommen der Bürger. Hier stellt sich laut Steiner die Frage, inwiefern die Sozialpolitik hemmend wirkte, denn durch die daraus resultierende Diskrepanz zwischen Einkommen und Ausgabemöglichkeit des einzelnen Arbeitnehmers fehlten Arbeitsmotivation und Leistungsanreize. Im Ergebnis folgerte Steiner, dass die zunehmende Belastung des Staatshaushaltes in keinem Verhältnis zu den verfolgten "sozialpolitischen Effekten" gestanden habe und damit letztlich ökonomisch hochgradig ineffizient gewesen sei.

In seinem Vortrag "Gleichheit und Ungleichheit: Gesellschaftsinterpretation und interventionistische Sozialpolitik" ging Peter Skyba (Berlin) auf die unterschiedliche Rolle und Bedeutung von Sozialpolitik ein, die ihr im Verlauf der DDR-Geschichte beigemessen wurde, um sie in den Kontext der jeweiligen Gesellschaftsinterpretation zu stellen. Für die einzelnen Zeitabschnitte lassen sich bemerkenswerte Umdeutungen von Funktion und Relevanz der Sozialpolitik ablesen. In den vierziger und fünfziger Jahren standen vor allem der Um- und Ausbau der Sozialversicherungssysteme und die damit verbundene kompensatorische, soziale Risiken abfedernde Funktion der Sozialpolitik im Vordergrund. Damit wurde ihr eine untergeordnete Rolle im Gesellschaftsumbau zugewiesen. Erst in den sechziger Jahren rückte Sozialpolitik im Zuge der Realisierung des "Neuen ökonomischen Systems" in der DDR stärker ins Zentrum, vor allem zur "Erschließung neuer Potenzen für die Wirtschaft". Hinzu traten Initiativen untergeordneter Institutionen wie des FDGB, um erwerbsbeschränkte Gruppen wie etwa Rentner sozial besser abzusichern. So zeigte sich gegen Ende der Ära Ulbricht ein "sozialpolitischer Januskopf": Zum einen kompensatorische Abfederung von Modernisierungsfolgen und Ausgleich sozialer Ungleichheit, zum anderen Verstärkung sozialer Ungleichheit zur Steigerung ökonomischer Potenzen. Skyba hob die starke Zäsur hervor, welche die Relevanz von Sozialpolitik mit Beginn der Regierung Honecker 1971 erlebte. Seither sei Sozialpolitik zur "Hauptaufgabe" des neuen Gesellschaftskonzeptes avanciert und vor allem mit dem Ziel der Steigerung allgemeinen Wohlstands verknüpft gewesen. Die einstige Unterordnung unter ökonomische Belange habe sich zugunsten der Lebensstandard-steigernden Funktion von Sozialpolitik verschoben. Das marxistische Kernversprechen sozialer Gleichheit habe die Führung der SED immer mehr unter Zugzwang gesetzt, suchte doch die Hegemonialpartei der DDR ihren Anspruch sowohl auf fortgesetzte Wohlstandssteigerung als auch auf weitere gesellschaftliche Entdifferenzierung zu halten, obwohl schon Mitte der siebziger Jahre gerade eine gegenteilige Redifferenzierung zur Freisetzung dringend erforderlicher Leistungspotentiale in der sich verschärfenden Wirtschaftskrise notwendig schien und diskutiert worden sei. Allerdings sei es bis 1989 weder gelungen, das Spannungsverhältnis von "Homogenisierung" und "Differenzierung" konzeptuell in den Griff zu bekommen, noch die wachsende Fehlallokation von Ressourcen in der Praxis zugunsten zielgerichteten Ausgleichs sozialer Ungleichheit abzubauen. Als wesentlichen Grund hierfür benannte Skyba, dass die Prämisse der zunehmend an das Versprechen stetig steigenden Wohlstands gebundenen Herrschaftssicherung sowohl die konzeptuelle Diskussionen als auch die praktischen Entscheidungsprozesse überformt und deformiert habe.

Als regelrechtes Aushängeschild der DDR-Sozialpolitik galt gemeinhin die als Gleichstellungspolitik konzipierte Frauenpolitik, mit der sich Michael Schwartz (Berlin) in seinem Beitrag "Emanzipation und Bevormundung: Bedingungen und Grenzen von Gleichstellungspolitik" befasste. Die Frauenerwerbsquote der DDR lag im Jahr 1988 bei im internationalen Vergleich exorbitanten 81 Prozent und markierte somit einen außerordentlichen Erfolg einer auf Arbeitsmarktintegration basierenden Emanzipationspolitik. Bei genauerem Hinsehen trübt sich das Bild dieser progressiven Frauenpolitik jedoch. So war die hohe Frauenerwerbsquote schlichtweg eine arbeitsmarktpolitische Notwendigkeit: Der millionenfache Arbeitskräfteverlust, der bis zum Mauerbau in der DDR durch massenhafte "Republikflucht" erfolgte, erforderte schon frühzeitig gezielte Maßnahmen zur beruflichen Integration von Frauen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit angestiegen, mit der Rückkehr vieler männlicher Kriegsgefangener in den Erwerbsprozess jedoch deutlich wieder zurückgegangen war. Die zunächst auf quantitative Integration, seit etwa 1960 aber auch verstärkt auf Qualifizierung setzenden SED-Kampagnen verfehlten langfristig ihre Wirkung nicht. Letztere nutzten (zwangsläufig) primär nachrückenden, jüngeren Frauenkohorten und schufen damit generationelle Ungleichheit. Der Anteil weiblicher Studenten stieg in der DDR stetig an und erreichte Mitte der siebziger Jahre 60 Prozent. Im Arbeitsleben änderte sich jedoch für viele Frauen nur wenig, denn ungleiche geschlechtsspezifische Strukturen am Arbeitsplatz blieben hartnäckig bestehen. Oftmals wurden Frauen nur zu gering qualifizierten Arbeiten herangezogen, der Aufstieg in Führungspositionen blieb ihnen tendenziell verwehrt. Lohn- und Gehaltsdifferenzen zu den Männern blieben daher in der DDR bestehen, wenn sie zuletzt auch deutlich geringer ausfielen als in der Bundesrepublik. Noch wichtiger aber war Schwartz zufolge, dass der Doppelbelastung von Frauen durch die sich immer genereller durchsetzende Kombination von Familien- und Erwerbsarbeit seitens der SED-Politik lange kaum und niemals hinreichend Rechnung getragen wurde. Allerdings wurde 1972/76 der mit dem bis dahin restriktiven Abtreibungsrecht gegebene staatliche "Gebärzwang" durch individuelle Wahlfreiheit ersetzt, wobei das "Ja zum Kind" durch wachsende sozialpolitische Leistungen erleichtert werden sollte. Indem die SED-Gleichstellungspolitik sich wandelte, bis zuletzt jedoch letztlich staatspaternalistisch agierte, war die Soziallage der Frauen in der DDR laut Schwartz letztlich durch eine bleibende Spannung zwischen Individualisierung und Standardisierung charakterisiert.

Anhand des Arbeitsrechts, der Beschäftigungspolitik sowie der Sozialversicherung und der Sozialfürsorge setzte sich Dierk Hoffmann (Berlin) in seinem Vortrag "Leistungsprinzip und Versorgungsprinzip: Widersprüche der Arbeitsgesellschaft" mit den Ambivalenzen der DDR-Arbeitsgesellschaft auseinander. Arbeit als Selbstverwirklichung - das war erklärtes ideologisches Ziel, blieb aber über weite Strecken Utopie. Was letztendlich blieb, waren die ökonomischen Anforderungen (Kriegsfolgelasten, Altersstruktur der Bevölkerung, Reparationen etc.), auf welche die SED-Führung Antworten finden musste. Oberste Maxime war schließlich die Mobilisierung der arbeitsfähigen Bevölkerung für die Ziele der Wirtschaftspläne. Kennzeichnend für das Arbeitsrecht war der Wandel von "harten" zu "weichen" Maßnahmen. Bis Ende der vierziger Jahre dominierten repressive Bestimmungen mit Zwangscharakter, wie Arbeitszuweisungen oder die Einführung des Arbeitsbuches. In den Folgejahren sei jedoch ein Instrumentenwandel zu beobachten, betonte Hoffmann. Der Zwangscharakter schwächte sich ab, statt dessen wurde ein Anreizsystem errichtet. Die massiven Migrationswellen sowie die immensen Reparationsforderungen der Sowjetunion hatten ebenfalls Einfluss auf die Arbeitskräftelenkung. Die Sozialversicherung mit dem stabilen Beitragssatz von 10 Prozent und der fixen Beitragsbemessungsgrenze von 600 DM war nur durch steigende Subventionen finanzierbar. Betrug der Anteil des Zuschusses aus dem Staatshaushalt 1959 noch 14 Prozent, so war er 1970 schon auf 34,8 Prozent angestiegen und erreichte 1989 den Stand von 48,2 Prozent. An eine Verteilung der Lasten auf Staat, Beitragszahler und Rentner war nicht zu denken. Das freiwillige Rentenversicherungsprogramm der siebziger Jahre, das als zusätzliches System installiert wurde, drohte ebenfalls defizitär zu werden. Die Sozialversicherung, so Hoffmann, entwickelte sich darüber hinaus zu einer "Staatsbürgerversorgung", da sie auch andere Aufgabenbereiche übernehmen musste (z.B. Versorgung der ehemaligen Beamten). Damit hatte die Hegemonialpartei mit diversen Zielkonflikten auf diesem sozialpolitisch bedeutsamen Feld zu kämpfen.

Mit der These, dass der Staat zum Getriebenen selbst gestellter Aufgaben wurde, wie es bereits im Vortrag von Skyba anklang, begründet auch Peter Hübner (Potsdam) in seinem Vortrag "Zentralismus und Partizipation: Soziale Interessen im vormundschaftlichen Staat" den im Verlauf der DDR-Geschichte zu verzeichnenden fehlenden Ausgleich von staatlichem Steuerungswillen und der Befriedigung sozialer Bedürfnisse seiner Bürger. Die eine Frage lautete demnach, wie weit der vormundschaftliche Anspruch ging, um das soziale Interesse, welches nach Auffassung der SED zwischen Staat und Bevölkerung grundsätzlich identisch sein müsse, zu bestimmen und zu regulieren. Auf der anderen Seite stand die Frage, welche Partizipationsmöglichkeiten boten sich, für wen und wie wurden diese ausgenutzt. Hübner kommt zu dem Ergebnis, dass für die Artikulation sozialer Interessen die "Betriebsförmigkeit der sozialistischen Gesellschaft" eine erhebliche Rolle gespielt hat, in deren Hierarchien es begrenzte Partizipationsmöglichkeiten gegeben hat, es aber auch zu keiner "offenen Interessenskonkurrenz" kam. Die erwerbstätigen Teile der Bevölkerung hatten demnach besonders im Betrieb Möglichkeiten der Artikulation ihrer Interessen, die erwerbsbeschränkten Teile wie Rentner jedoch wesentlich geringere Spielräume. Betont werden muss, laut Hübner ebenfalls, dass der Ausgleich sozialer Interessen durch die Bürger vermehrt auf lokale Arrangements auswich, auf die Ebene des so genannten "Mikrokorporatismus", von dem allerdings auch keine wirksame Beeinflussung auf den Staat ausgehen konnte. Der Staat wiederum verfügte über keine formalisierten Instrumente des Interessensausgleiches und dementsprechend kamen die Informationen in einer gefilterten und stark konzeptionellen Form an. Da er sich in seinem Handeln im Einverständnis mit seinen Bürgern wähnte, existierten gravierende Differenzen offiziell nicht und wurden ignoriert oder entsprechend als unbegründet oder gar feindlich taxiert. Im Großen und Ganzen verlegte sich der Staat seit Mitte der fünfziger Jahre darauf, soziale Angebote zu machen und die Reaktionen abzuschätzen, was zur Folge hatte, dass er diese Angebote selbst weder einzulösen noch zu reformieren vermochte.

Mit seinem Beitrag "Bedürfnisse und Bedarfszuweisung: Konsumpolitik als Sozialpolitik" ging Judd Stitziel (Washington) auf die Strukturmerkmale der DDR-Konsumpolitik zur Befriedigung der so genannten "höheren Bedürfnisse", der dafür erforderlichen Preispolitik und die Entwicklung der Exquisitläden in der DDR ein. Trotz der hohen Bedeutung, die die politische Führung der Befriedigung von "Grundbedürfnissen" (Nahrung, Kleidung, Wohnen) als wesentliches Prinzip von Sozialpolitik beimaß, wurde bereits in den fünfziger Jahren gerade im Hinblick auf die Konkurrenz mit dem westlichen Standard das Augenmerk auch auf die Weiterentwicklung von Konsumgütern gerichtet. Dies führte, so Stitziel, allerdings zu einer paradoxen Entwicklung, da gerade dieses konsumpolitische Eingehen auf die Konkurrenz mit dem Westen den wirtschaftlichen Zielsetzungen, den Realitäten der Planwirtschaft und gerade den sozialpolitischen Versprechen zuwiderlief. Indem es soziale Distinktion förderte, entstand ein Widerspruch zum Gleichheitspostulat der "sozialistischen Gemeinschaft". Am Beispiel der Bekleidungsindustrie und über den theoretischen Zugang des Begriffes "Bedürfnis" erläuterte Stitziel diesen Zusammenhang. Während Produkte der Grundbedürfnisse in der Bekleidungsindustrie auf einem stabilen und möglichst niedrigen Preisniveau gehalten werden sollten, erhielt "hochmodische" Kleidung, die man ab 1961 in den so genannten "Exquisitläden" erwerben konnte, einen Preisaufschlag von 15 bis 30 Prozent. Diese Läden waren in der Bevölkerung bald anrüchig, da zum einen ihr Angebot nicht die West-Qualität erreichte, zum anderen jedoch ihr erhöhtes Preisniveau ungleichen Zugang zu begehrten Waren erzeugte. Im Laufe der Entwicklung wurde dieses "Luxusangebot" jedoch als normal wahrgenommen, die preiswerten Produkte hingegen als minderwertig angesehen. Aus diesem Grunde verlor laut Stitziel das Regime an Legitimität, da es weder in der Lage war ein zum Westen vergleichbares Angebot zu machen noch das Versprechen, die Grundbedürfnisse eines jeden Bürgers zu bedienen, einzuhalten vermochte.

In seinem Vortrag "Verflechtung und Abgrenzung: Sozialpolitische Beziehungen innerhalb des RGW" entwickelte Christoph Boyer (Frankfurt am Main) ein komplexes Begriffs- und Kategorienschema für die künftige Erforschung der sozialpolitischen Beziehungen innerhalb des RGW. In dem Vergleich zog Boyer für seinen Analyserahmen die Nationalstaaten DDR, Polen, die CSSR und Ungarn heran. Bis in die sechziger Jahre hätten die "Pfade" noch eng beieinander gelegen, seien aber zusehends divergiert. Die "Pfade" liefen in zwei Richtungen: In der DDR und der CSSR sei auf die Aufbauphase eine Reformphase gefolgt, die dann im Realsozialismus gipfelte. Polen und Ungarn jedoch blicken in den achtziger Jahren auf eine sukzessive Rücknahme staatlicher Einflussnahme zurück, das in einem "finalen Stadium der Erosion" sein Ende fand. Die Zusammenarbeit auf dem sozialpolitischen Sektor innerhalb der RGW ging über Konsultationen nicht hinaus und nahm in den achtziger Jahren weiter ab.

Abschließend stellte Prof. Dres. h.c. Gerhard A. Ritter (Berlin) seine "Thesen zur Sozialpolitik der DDR" vor. Die Sozialpolitik habe kurz- und mittelfristig zur Stabilisierung der DDR beigetragen, langfristig jedoch die innere Krise nur verstärkt, so Ritter. Als 1976 mit dem offiziell verabschiedeten Grundsatz der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" die letztere eine Schlüsselrolle erhielt, bedeutete dies für die Wirtschaft eine noch größere Belastung. Subventionen wurden nach dem "Gießkannenprinzip" verteilt, so dass von einer massiven Fehlallokation der Sozialleistungen ausgegangen werden muss. Im Jahr 1989 betrugen die Subventionen ein Viertel der gesamten geplanten Staatsausgaben: ein Anteil, der eindringlich belegt, dass die Steuerungsinstrumente der Politik versagt hatten. Die DDR-Bürger wurden von den Führungseliten auf eine bloße Konsumentenrolle festgelegt. Einer Anpassung der veränderten Konsumwünsche konnte durch die starren Vorgaben nicht Rechnung getragen werden. Die Vorgaben orientierten sich an einer Absicherung des Existenzminimums, das wenig Platz für individuelle Vorlieben des Konsumenten ließ. Das schwächte die Eigeninitiative des einzelnen Bürgers und verstärkte gleichzeitig seine Anspruchshaltung. Das "Prunkstück der Sozialpolitik" blieb vor und nach der Wende das Recht auf Arbeit. Wie sich jedoch nach der Wende herausstellte, war die personelle Überbesetzung der Betriebe unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht tragbar. Positiv hob Ritter das Arbeitsrecht der DDR hervor. Es war klarer und übersichtlicher als jenes der Bundesrepublik gestaltet und wurde 1977 zusammen mit dem Sozialrecht im Arbeitsgesetzbuch kodifiziert. Jedoch war es hochgradig politisiert und im Falle eines Konflikts mit der Parteispitze nicht einklagbar. Das Arbeitsrecht der Bundesrepublik war im Gegensatz dazu in eine unüberschaubare Fülle von Gesetzen und Rechtsentscheidungen zersplittert. Als "Achillesferse der Sozialpolitik" gilt neben der Überforderung der Wirtschaft die mangelhafte Absicherung der Rentner und Invaliden. Auch die gesetzlichen Renten der DDR orientierten sich lediglich an einer Grundsicherung auf niedrigem Niveau. Besonders klar trat dies nach der ersten Erhöhung am 1.12.1989 hervor. So lag die Maximal-Rente nach 50 Versicherungsjahren, in denen der Höchstbetrag eingezahlt worden war, auch nach der Erhöhung bei lediglich 510 Mark.

Die unterschiedlichen Zugänge und die Themenvielfalt der Beiträge dieser Tagung haben gezeigt, dass das Forschungsfeld zunehmend ausdifferenziert worden ist und auf diesem Entwicklungsstand wesentliche Erkenntnisse auch zur allgemeinen Geschichte der DDR gewonnen werden können. Besonders die Finanzierbarkeit der Sozialpolitik in der sozialistischen Planwirtschaft sowie die Steuerung des Arbeitsmarktes, aber auch die sozialgeschichtlichen Aspekte der Gleichstellung der Frauen, die oftmals prekäre finanzielle Situation der "erwerbsfernen" sozialen Gruppen oder das Konsumverhalten der Bevölkerung bieten solche Anknüpfungspunkte. Ebenso gewährt der zunehmende Wissensstand über die Konzeptionalisierung von Sozialpolitik durch die Führungsschicht der DDR und ihre Distanz bzw. Diskrepanz zur sozialistischen "Realität" und deren Wahrnehmung durch die Bürger wichtige Einblicke in die soziale und mentale Verfassung der DDR-Gesellschaft. Ein Tagungsband ist in Vorbereitung.

Anmerkung:
1 Von diesem auf insgesamt 11 Bände angelegten Handbuch sind bereits erschienen: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, hrsg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und vom Bundesarchiv, Bd. 1: Grundlagen der Sozialpolitik. Baden-Baden 2001; Bd. 2/1: Die Zeit der Besatzungszonen 1945-1949. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten, Bd. 2/2: Dokumente, Bandverantwortlicher: Udo Wengst, Baden-Baden 2001.

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