Figurationen des Experten 1800-1850. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise zwischen Gesellschaft, Politik und Verwaltung

Figurationen des Experten 1800-1850. Ambivalenzen der wissenschaftlichen Expertise zwischen Gesellschaft, Politik und Verwaltung

Organizer(s)
Volker Hess, Ulrike Thoms und Eric Engstrom
Location
Berlin
Country
Germany
From - Until
13.03.2003 - 15.03.2003
Conf. Website
By
Carsten Reinhardt, Wissenschaftsgeschichte, Universität Regensburg

"We tell you", so lautet der Slogan eines Internetportals für Ratsuchende in allen Lebenslagen. Im Gegenzug für erhaltene Information und Wissen wählen die Ratsuchenden den 'Experten der Woche' und bewerten die Qualität der Expertise, entscheiden letztendlich über Status und Glaubwürdigkeit des Experten.

Volker Hess, der die Tagung gemeinsam mit Ulrike Thoms und Eric Engstrom organisierte, nutzte dieses Beispiel, um in einige der Figurationen und Ambivalenzen des Expertentums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einzuführen: Experten sind Äußerungsformen der Zivilgesellschaft; Expertenwissen wird durch Nachfrage bestimmt; Expertise ist eine Form sozialer Interaktion. Experten gelten als Sachwalter eines besonderen Wissens, das in einem paradoxen Spannungsverhältnis zwischen Universalität des Anspruchs und Exklusivität der Generierung steht. Experten, und dies wird durch das "We tell you"-Portal mehr als deutlich, sind nicht notwendigerweise an Professionen und wissenschaftliche Disziplinen gebunden.

Als Zugang zur Historisierung der Wissensgesellschaft haben Thoms, Engstrom und Hess Interaktionsmuster und Verflechtungsprozesse historischer Ensembles vorgeschlagen. Zum ersten der Bürgergesellschaft, die sich in Deutschland zwischen 1800 und 1850 ausbildete und deren Leitvorstellungen von Individualität, Öffentlichkeit, Allgemeinwohl und Fortschritt in der Person des Experten ihren Ausdruck fanden. Der Begriff der persona, so wurde im letzten Beitrag der Tagung von Joachim Westerbarkey deutlich, kommt von der Gesichtsmaske antiker Schauspieler, durch die die Stimme des Trägers hindurchdrang, 'personierte'. Demgemäß wäre die Rolle des Experten Bestandteil einer Inszenierung, betrieben durch Hin- und Ablenkung, Mimikry und Verdeckung.

Zum zweiten entwickelte sich das Expertentum in Anlehnung an und Auseinandersetzung mit dem expandierenden Verwaltungsstaat. In einer Zeit, in der der absolute Anspruch monarchischer Gewalt und deren von Gott stammende Legitimität zerbrach, bedurfte der Staat neuer Legitimationsquellen. Die Öffentlichkeit, das Allgemeinwohl, vor allem aber die Naturwissenschaft konnten dies teilweise leisten, und die Akquisition von Experten auf diesen Gebieten brachten für den Staat nicht nur funktionale Gewinne, sondern durchaus einen Zuwachs an Legitimität. In diesem Prozeß ergaben sich für diese Experten trotz staatlicher Unterdrückung Handlungsspielräume für den Aufbau quasi-autonomer Bereiche auch außerhalb der Universitäten.

Zum dritten steht die Genese des Experten in Zusammenhang mit der zeitgleich stattfindenden Ausbildung wissenschaftlicher Disziplinen, der Ablösung informeller Kontakte durch geordnete Diskurse und Institutionen. Der von den Naturwissenschaften erhobene Anspruch auf Universalität, Objektivität und Unparteilichkeit musste jedoch immer wieder durch Herstellung von Öffentlichkeit (oder die Vorspiegelung einer solchen) erreicht, verteidigt und in Form von Institutionen verstetigt werden.

1. Staat, Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit

Entstehung und Wandel der Bürgergesellschaft seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurden in der Tagung vor allem mit den Begriffen der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit nach Jürgen Habermas analysiert. Thomas Broman (Madison, USA) fragte nach der Herausbildung einer Experten-Sphäre in der literarischen Kritik und der medizinischen Publizistik am Ende des 18. Jahrhunderts. Die öffentliche Meinung brachte den Typus des Experten nicht ursprünglich hervor, konnte ihn aber wesentlich prägen und beeinflußen. Der Diskurs der Expertise schuf dagegen Öffentlichkeit; Expertenwissen wurde zu öffentlichem bzw. veröffentlichtem Wissen. Für die Zuweisung von Autorität kam der Kritik als vornehmsten Instrument der Aufklärung eine ausschlaggebende Rolle zu. Literaturkritiker vertraten eine aufgeklärte Öffentlichkeit, sie sprachen für eine entpersonifizierte Gemeinschaft von Lesern, die sich in Kaffeehäusern, Freimaurerlogen und Lesezirkeln traf und die kollektive Stimme der öffentlichen Meinung bildete. In ähnlicher Weise galt dies für die medizinische Publizistik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diese stellte einen wissenschaftlichen Diskurs dar, der weiterhin Offenheit für 'Kenner' und solche, die es werden wollten, suggerierte. Diese Offenheit schuf die Voraussetzung für die wesentliche Funktion dieses Diskurses als Marktplatz neuer Arzneimittel und Heilpraktiken. Die Medikalisierung der Gesellschaft bestand also weniger in der Professionalisierung der Medizin als vielmehr der Herstellung von Öffentlichkeit durch die Presse. Genau hier liegen, nach Broman, die gemeinsamen Wurzeln von literarischer und medizinischer Autorität.

Publizistik einer ganz anderen Art, nämlich die Öffentlichkeitspolitik der preußischen Regierung um 1800 war Thema des Beitrages von Andrea Hofmeister (Oldenburg). Dieses neuartige Instrument staatlicher Politik konnte nur durch externe Fachkompetenz in die Tat umgesetzt werden. Praktiker und Professoren stritten dabei um die Meinungshoheit. Angefacht durch militärische Bedrohung und Konfrontation mit der französischen Revolution (einschließlich einer unterschiedlichen Zensur) wandten Politiker ursprünglich in der Außenpolitik entwickelte Techniken der aktiven Meinungssteuerung nach innen. Vor allem unter Hardenberg sollten "Männer der Praxis" als Meinungsmacher zum Zuge kommen, während Altenstein sein Augenmerk auf die "Hauptmänner der Literatur" und damit auf wissenschaftliches Renommee richtete. Die "Belehrung und Berichtigung" der preußischen Öffentlichkeit, wie sie von den Reformern vor 1815 vorangetrieben wurde und die eine partielle Unabhängigkeit zuließ, fand schließlich ihr Ende in den Karlsbader Beschlüssen von 1819. Da nun nicht einmal mehr der Anschein von Unabhängigkeit gewahrt werden konnte, war dies auch das Ende der Kooperation von Publizisten und Politikern, zumindest bis 1848.

Wilhelm von Humboldts aus dem Jahr 1792 stammende "Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" stellten im Gegensatz zu den staatserhaltenden Public Relation-Maßnahmen Preußens den Staatsbegriff in damals üblicher Form in Frage. Vollständig wurden Humboldts Ideen 1841 veröffentlicht und entfalteten erst dann ihre bis heute andauernde Wirkung als "Gründungstext des deutschen Linksliberalismus". Susanne Deicher (Wismar) legte Humboldts Ablehnung eines als Maschine verstandenen Staates dar und schilderte kurz die Entwicklung dieser liberalen Staatstheorie von der Utopie zur Illusion (Habermas). Im Gegensatz zu diesem Verständnis von Humboldts Schrift legte Deicher den Schwerpunkt ihrer Interpretation auf Humboldts Verständnis der Bürgergesellschaft als Solidargemeinschaft unter Rückgriff auf christliche Tugenden. Experten kommen als Garanten des Erhalts dieser Solidargemeinschaft ins Spiel, als sokratische Mediatoren, die der Gesellschaft ein Selbstbewußtsein als handelnde Subjekte in der Geschichte vermitteln sollen. Daher rührte auch Humboldts Betonung der Altertumswissenschaft und seine Unterstützung der Berliner Historiker Wolf und Niebuhr. Öffentliche Aufnahme und Bestätigung diente der Legitimation der Erkenntnisse der Alterumswissenschaft und zugleich ihrer Einbindung in das Bewußtsein der Gesellschaft.

2. Regierung, Verwaltung und Bürokratie

"Vom Misthaufen sollte eine Revolution ausgehen", so begann Stefan Brakensiek (Kassel) seinen Vortrag zu den Agrarreformen um 1800. Im 18. Jahrhundert machten sich Kameralisten wie Johann Heinrich Gottlob von Justi, Projektemacher wie Johann Christian Schubart und Landgeistliche wie Johann Friedrich Mayer einen Namen als Agrarreformer und verdrängten dabei die praktischen Landwirte. Eine zentrale Bedeutung für den entstehenden Diskurs nahmen die ökonomischen Sozietäten ein, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in großer Anzahl gegründet wurden. Erst mit der Reformära in Preußen und einer rigide vorangetriebenen Privatisierung gemeinschaftlichen Besitzes kam es allerdings zu einer Umsetzung auf breiter Basis. Die Landwirtschaft wurde dabei, frei nach Adam Smith, auf ökonomische Zusammenhänge fixiert. Eine zentrale Figur in diesem Prozeß war Albrecht Daniel Thaer, der die englische Landwirtschaft und Ökonomie in Deutschland popularisierte. Mustergüter lieferten die empirischen Daten, Thaers Professur an der Berliner Universität brachte Prestige und seine Funktion als Staatsrat ermöglichte die Durchsetzung. Der so in Gang gesetzte bürokratische Prozeß verlagerte die "heroische Expertise" von der Agrarstruktur hin zu den Naturwissenschaften.

"Felder des Bergbaus", das Thema Jakob Vogels (Berlin), skizzierte die Vorbildfunktion der Freiberger Bergakademie für die Bergbauwissenschaft in Preußen, Frankreich und Österreich. Abgelöst wurden "private Wissensunternehmer" wie es noch Leibniz war, durch spezialisierte Bergbauexperten, die einer eigenständigen wissenschaftlichen Gemeinschaft angehörten. Damit wenden wir den Blick auf die Experten im Staatsdienst, die sich ein beträchtliches Maß an Autonomie sichern konnten. Zentral dafür war das breite Ausbildungsprofil, das Mathematik und Naturwissenschaften ebenso einschloß wie Bergrecht und kameralistische Bergwirtschaft. So brachten es die preußischen Bergbaubeamten fertig, ihrem Tätigkeitsfeld die einträgliche Salzgewinnung einzuverleiben, obwohl faktisch keine technischen Ähnlichkeiten zu Kohle- und Erzbergwerken bestanden. Dabei konnten sie sich gegen die Konkurrenz der juristischen Experten durchsetzen, mußten ihr wirtschaftliches Monopol aber Ende des 19. Jahrhunderts an 'freie' Unternehmer abtreten.

Statistische Projekte und ihre Akteure um 1800 waren das Thema Karl Hildebrandts (Potsdam), mit dem Verständnis der Statistik als beschreibender Staatenkunde. Das Ideal des Statistikers war dabei, so eine eine zeitgenössische Beschreibung, eine Art Meta-Experte, der die Erkenntnisse der Wissenschaften bewertete und auswählte. Die Realität sah freilich anders aus, und die überbordende Menge der Details führte zur Einführung graphischer Auswertungsmethoden. In diesem Prozeß wurde der Statistiker immer mehr anonymisiert und durch die "Datengier" des Staates zu einem reinen Datenlieferanten degradiert.

3. Visualisierung, Regulierung und Legitimierung

Die Übertragung von aus der experimentellen Naturforschung stammenden Techniken, wie des "virtual witnessing", auf gesellschaftliche Reformen behandelte Anna Märker (Ithaca, USA). Am Beispiel der Tätigkeit des amerikanischen Militärberaters Benjamin Thompson, Graf Rumford, in der Reform der Armenfürsorge der Stadt München in der Zeit um 1790 stellte sie dar, wie Rumford versuchte, seine Reformen durch Anlehnung an experimentelle Erfahrungen zu legitimieren. Grundlage dafür war die -- nach Ansicht Rumfords -- Geltung mechanistischer Gesetzmäßigkeiten sowohl in der Natur als auch in der Gesellschaft, verbunden durch die zentralen Begriffe der Ökonomie, des Experiments und der Maschine. Um seine Position als Experte zu rechtfertigen, sowie das Projekt wirtschaftlich zu stabilisieren, setzte Rumford auf die Bezeugung seines sozialen Experiments eines Arbeitshauses als "Wohlfahrtsmaschine" durch das Publikum, sei es durch direkte Anschauung oder Publikationen. Politik erweckte damit ebenso wie die Natur den Anschein, ein beobachtbarer Vorgang zu sein.

Die Arzneimittelaufsicht im frühen 19. Jahrhundert war das Feld von Konflikten und Konvergenzen zwischen Medizinern, Pharmazeuten, Herstellern von Geheimmitteln und staatlichen Behörden, so Ulrike Thoms (Berlin) in ihrem Beitrag. Galt die Pharmazie als Handwerk, und die Pharmazeuten damit als Experten zweiter oder sogar dritter Klasse, so wurde bis 1800 die Erstellung der preußischen Pharmakopöen von Medizinern dirigiert. Damit waren die Apotheker als Adressaten dieser Gesetz- und Rezeptbücher zugelassener Arzneimittel, die zugleich Träger des Wissens der Herstellung dieser Mittel waren, der Aufsicht anderer Experten unterworfen. Dies änderte sich nach 1800, als die Erfahrungen der Apotheker stärker gefragt waren. Die Pharmazie konnte sich so als "technische Hilfswissenschaft" durchsetzen. Dabei konkurrierten die verschiedenen Expertengruppen um Entscheidungskompetenz für die Regulierung, sowohl beim Staat als auch in der Bevölkerung. Ulrike Thoms regte an, mit Hilfe eines dynamischen Expertenbegriffs auf die Interaktionen mit zahlreichen Ebenen einer ausdifferenzierten Öffentlichkeit zuzugreifen.

Als von Machtzentren konstruierte Chimäre entlarvt wurde die Position des wissenschaftlichen Experten im Beitrag von Stefan Haas (Münster) über den Diskurs über den Scheintod. Obwohl die Diskussion um den Scheintod eher ein Randphänomen blieb, läßt sich an den Begräbnispraktiken die Durchsetzung administrativer Ansprüche zeigen. Es ging um die Legitimierung eines bürokratischen Verfahrens, festgehalten in Tabellenform in einem Totenschein, angeordnet von der Verwaltungsmacht und ausgestellt durch einen medizinischen Experten. Die Verwaltung trat die formale Entscheidung an einen Arzt ab und gewann dadurch an Legitimität in den Konflikten mit Kirche und Dorfgemeinschaft.

4. Maskerade und Kommentar

Experten sind, so Joachim Westerbarkey (Münster) nach Franz Kafkas 'Der Prozeß', mächtige Türhüter, die den Zugang zum Gesetz kontrollieren. Experten sind auch Meister von Maskierung und Beeinflussung, sie helfen, die Macht der gesellschaftlichen Eliten zu verschleiern. Der Täuschungsmöglichkeiten gibt es viele, ausgenutzt wird der Wirklichkeitsglaube und der Respekt vor Prominenz. Eliten genießen dabei eine funktionale Autorität, die soweit sie nicht in hierarchische Herrschaft umgewandelt werden kann, immer wieder erneuert werden muß und damit sozialer Kontrolle unterliegt. Dauerhafte Macht hat nur der, der das Publikum hindern kann, hinter die Kulissen zu schauen. Experten der Massenmedien gewinnen so an Einfluß.

Jakob Tanner (Zürich) gab den umfassendsten Kommentar dieser Tagung, indem er nach alternativen Figuationen fragte: dem Intellektuellen, dem Unternehmer, dem Reformer. Der Experte schien in allen diesen Alternativen enthalten zu sein und damit das ideale Vehikel für eine Archäologie der modernen Wissensgesellschaft zu bilden. Während die Sozialgeschichte in Form einer challenge/response-Strategie den Experten als Antwort auf gesellschaftliche Probleme sieht, postuliert die Kulturwissenschaft, daß Experten diese Probleme erst generieren. Die Inflation der Experten in den 1960er Jahren und ihre zunehmende Konkurrenz untereinander führte schließlich zu Verknappungsmechanismen von Expertise durch neue Legitimationsstrategien, und die Übernahme neuer Rollen und Aufgaben.


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