An der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung hat sich eine Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung pädagogischer Organisationen und Institutionen zusammengefunden, die auf einer Tagung am 23. Mai 2003 in den Räumen der Bibliothek in Berlin ihre ersten Arbeitsergebnisse vorstellte. Ausgangspunkt für die Bildung der Arbeitsgemeinschaft war die Überlegung, dass gerade dieser Bereich der Bildungsgeschichte noch einigen Forschungsbedarf aufweist und dass insbesondere noch große Quellenbestände der Erschließung und Auswertung harren. Als Forschungsbibliothek ist die BBF ein geeignetes Zentrum solcher Untersuchungen.1
So bot der erste Vortrag von Ulrich Wiegmann (»Die Hitler-Jugend als Gegenstand bildungsgeschichtlicher Forschung und Publikation in der Bundesrepublik 1945–2001«) eine interessante bibliometrische Analyse der Literatur zur Hitler-Jugend – ausgehend von den Beständen der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, die sich im Vergleich mit Standardbibliographien zum Thema als repräsentativ herausgestellt haben.2 Die Publikationstätigkeit zur Hitlerjugend erreichte zu Beginn der 1990er Jahre ihren Höhepunkt und blieb auch danach auf zahlenmäßig hohem Niveau, trotz des gleichzeitigen Booms der historischen Bildungsforschung zu DDR-Themen. Durchaus überraschend war das Ergebnis der Auswertung der jeweils angeführten Primär- und Sekundärliteratur: Ein relativ großer Teil der Literatur zur Hitlerjugend führt keine oder nur eingeschränkte Quellen- und Literaturnachweise auf und ist somit eher der Publizistik als der wissenschaftlichen Forschung zuzurechnen. Dabei kann noch längst nicht alles einschlägige Quellenmaterial als erschlossen gelten, denn ein knappes Drittel der zeitgenössischen Literatur zur Hitlerjugend aus dem Bestand der BBF ist in keiner der ausgewerteten Monographien verzeichnet.
Auch Christian Ritzi (»›Die nationalsozialistische Staatsführung hat sofort erkannt, welche Dienste ihr die Auskunftsstelle für Schulwesen leisten konnte‹: Zur Nützlichkeit einer pädagogischen Behörde in vier politischen Systemen«) ging von Beständen der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung aus und stellte anhand der dort aufbewahrten Archivalien die 1899 gegründete Auskunftsstelle (seit 1936: Reichsstelle) für Schulwesen vor. Sie führte ihre Arbeit, die vor allem in statistischen Auswertungen des höheren Schulwesens bestand (später auch anderer Schulbereiche), vom Kaiserreich über Weimarer Republik und Nationalsozialismus praktisch bruchlos fort. Eine deutliche politische Positionierung konnte die Einrichtung vermeiden, und erst unter den Bedingungen der deutschen Teilung verlor sie ihre überregionale Bedeutung als pädagogische Dokumentationsstelle. Das Rohmaterial der von der Auskunftsstelle/Reichsstelle angelegten Datensammlungen ist im Archiv der BBF zu großen Teilen erhalten und der Forschung zugänglich.
Der politischen Lenkung des Bildungswesens im Nationalsozialismus waren noch weitere Vorträge gewidmet. Friedhelm Schütte und Gerhard Kluchert beschäftigten sich mit der Rolle von zwei Behörden der Bildungsverwaltung zwischen 1933 und 1945. Schütte (»Maßnahmen und Politik der ›Abteilung für berufliches Ausbildungswesen‹ im Reichserziehungsministerium 1934–1944 [Abteilung IV im Amt für Erziehung]«) stellte die für Berufsbildung zuständige Abteilung des von Bernhard Rust geleiteten Ministeriums vor, die 1934 aus dem preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe überführt wurde. Er gliederte ihr Wirken in drei Phasen: Radikalisierung 1933/34, als eine Fülle von Erlassen die politische Neuausrichtung des Staatsbürgerkundeunterrichts sichern sollte; Rationalisierung von 1935 bis 1938, eine Zeit, in der die Abteilung IV zunehmend in die Defensive geriet; und die Phase des völligen Bedeutungsverlustes während des Krieges. Der knappe Überblick wies auf einige Desiderata der Forschung hin, zum Beispiel im Hinblick auf die mögliche Anwendung der Polykratiethese und die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen der handelnden Personen.
Eine Ebene tiefer in die Bildungsverwaltung führte der Vortrag von Kluchert (»Politisierung der Schulaufsicht? Das Provinzialschulkollegium Berlin-Brandenburg im Nationalsozialismus«), der von der Frage ausging, inwieweit bestehende preußische Behörden von den Nationalsozialisten für die Ziele ihrer Politik funktionalisiert wurden. Die Mittelbehörde des Provinzialschulkollegiums war für die Aufsicht des höheren Schulwesens zuständig. Die erhaltenen Revisionsberichte zeigen ebenso wie das Eingreifen der Aufsichtsbehörde bei Konflikten innerhalb einzelner Schulen, dass eine politische Beeinflussung teilweise erkennbar ist, zumindest bei der Rekrutierung des Personals des Provinzialschulkollegiums und bei der Beurteilung von Unterrichtskonzeptionen.
Die beiden einander ergänzenden Vorträge von Christine Lost (»›… als Ende der belastenden Gleichschaltung begrüßt‹: Zur Vor- und Nachgeschichte der Selbstauflösung des ›Deutschen Fröbelverbandes‹ 1938«) und Sylvia Wolff (»Die Selbstauflösung des Bundes Deutscher Taubstummenlehrer [1933] und die Folgen für die Gehörlosen«) beschäftigten sich mit einem lange verdrängten Kapitel aus der Geschichte pädagogischer Berufe. Beide von den Referentinnen thematisierten Verbände ordneten sich nach der ›Machtergreifung‹ ohne große Widerstände den Zielen des Nationalsozialismus unter, die teilweise sogar ausdrücklich begrüßt wurden. Nach einer mehr oder weniger langen Übergangsperiode der Gleichschaltung blieb beiden Vereinen nur noch die Selbstauflösung und Übertragung von Mitgliedern, Vermögen, Aufgaben und Verbandszeitschriften an den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB). Aus Sicht des NSLB war der Deutsche Fröbelverband lediglich für die historisch ausgerichtete Fröbelforschung nützlich. Zahlreiche im Bund Deutscher Taubstummenlehrer organisierte Hörgeschädigtenpädagogen traten aktiv für die rassenhygienischen Ziele des Nationalsozialismus ein und lieferten die ihnen anvertrauten Gehörlosen der Zwangssterilisation aus. Nach 1945 wurde mit Neugründungen der beiden Verbände versucht, an die Geschichte vor 1933 anzuknüpfen und die Zeit des Nationalsozialismus auszublenden. Wie in vielen vergleichbaren Fällen hat erst in jüngster Zeit eine eingehendere Auseinandersetzung mit dieser Phase der Vereins- und Berufsgeschichte begonnen.
Auch Sabine Harik (»Nur Kalkül? Zur Selbstauflösung des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnen-Vereins und zur Zwangsbeurlaubung von Frauen des ADLV im Jahre 1933«) schilderte die Selbstauflösung eines pädagogischen Berufsverbands angesichts drohender Gleichschaltung, doch ergab sich hier ein deutlich anderes Bild. Der Vorstand des Dachverbandes zahlreicher Lehrerinnenvereine versuchte offenbar bewusst, die Eingliederung in den männlich dominierten NSLB zu boykottieren. Das Vereinsvermögen wurde mitsamt Archiv und Bibliothek in eine private, nach der Vereinsgründerin Helene Lange benannte Stiftung überführt und blieb so bis Kriegsende unangetastet. Die im Berliner Landesarchiv erhaltenen Aktenbestände des Vereins erlauben einen faszinierenden Einblick in eine Möglichkeit oppositionellen Verhaltens im beginnenden Nationalsozialismus.
Der abschließende Vortrag kehrte zu den Archivbeständen der BBF zurück: Ursula Basikow, die Leiterin des Archivs, untersuchte aus den dort aufbewahrten Nachlässen von Pädagoginnen und Pädagogen einige Fallbeispiele unter dem Aspekt, wie weit die Einbindung in ›informelle Netzwerke‹ z. B. bei Emigration oder Widerstandsarbeit erkennbar wird (»›Auf einmal hörte alles auf …‹: Informelle Netzwerke von Pädagogen und Pädagoginnen in der Zeit des Nationalsozialismus am Beispiel von Nachlässen aus dem Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung«). Auch wenn die Nachlässe oft noch nicht vollständig erschlossen sind und vor allem nur eingeschränkt originales Material aus der NS-Zeit enthalten, erlauben die zahlreich vorhandenen Lebensläufe, Erinnerungen und Privatbriefe dennoch einige Aussagen über die vielfältigen Verhaltensweisen angesichts eines solchen Umbruchs, wie ihn die NS-Herrschaft gerade für politisch engagierte Pädagogen darstellte. Auch in der Schlussdiskussion wurde deutlich, wie manche dieser Netzwerke in der Nachkriegszeit weiterwirkten – gerade auch in der DDR.
Insgesamt kann die Tagung als erfolgreicher Auftakt der »Arbeitsgemeinschaft Erforschung pädagogischer Organisationen und Institutionen« gelten. Besonders die quellennahen Untersuchungen haben verdeutlicht, wieviel Material für die historische Forschung noch erschlossen werden könnte. Auch bei der Betrachtung von Einrichtungen des Bildungswesens zeigt sich, dass eine von klaren methodischen Vorgaben geleitete und neue Quellenbestände erschließende Forschung auch siebzig Jahre nach der ›Machtergreifung‹ noch immer zu neuen, teilweise überraschenden Erkenntnissen führen kann. Ferner ist deutlich geworden, dass eine Spezialdisziplin wie die Bildungsgeschichte, die institutionell nach wie vor im Wesentlichen von den Erziehungswissenschaften getragen wird, auch zum allgemeinen historischen Fachdiskurs interessante Beiträge zu liefern vermag. Deswegen wäre eine stärkere Beteiligung von Zeithistorikern bei späteren Tagungen sehr wünschenswert.
Ausführlichere Druckfassungen der Referate sollen noch in diesem Jahr als Sammelband erscheinen.
Anmerkungen:
1 Zur Geschichte der Bibliothek siehe einen aus einer früheren Arbeitsgemeinschaft hervorgegangenen Sammelband: Christian Ritzi, Gert Geißler (Hrsg.), Wege des Wissens: 125 Jahre Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Berlin 2001, 2. Aufl. 2003 (i. E.).
2 Das Verzeichnis der Hitlerjugend-Bestände in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung wird voraussichtlich Mitte 2003 erscheinen.