Wem gehoert der 17. Juni?

Wem gehoert der 17. Juni?

Organisatoren
Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.06.2003 - 06.06.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Marianne Zepp, Heinrich Böll Stiftung, Berlin

Befindet sich das historische Datum des 17. Juni auf dem Weg zu einer Neubewertung - als (sozialdemokratischer) Volksaufstand, als radikaldemokratischer Arbeiteraufstand, als antikommunistische Revolte gegen die Besatzungsmacht und Bekenntnis zur deutschen Einheit, um nur ein paar Interpretationsvarianten zu nennen. Oder ist der 50. Jahrestag des Ereignisses die letzte Gelegenheit, das Ereignis "zu Tode zu feiern"? Für die letztere Annahme hatte die Historikerin Dorothee Wierling ein gewichtiges Argument: der von der Körberstiftung ausgeschriebenen Schülerwettbewerb habe bemerkenswert geringe Resonanz gezeigt, sowohl, was die Anzahl der eingegangenen Beiträge wie deren Qualität angehe. Besonders gering sei die Beteiligung aus dem Osten der Republik ausgefallen. Offensichtlich trug die Verdrängung des Datums im Osten ebenso zu dessen Eliminierung bei wie die geschichtspolitische offizielle Besetzung im Westen mit einer zunehmend entwerteten Wiedervereingungsrhetorik. Allerdings sei sie angesichts der Fülle der Veranstaltungen und der Bandbreite der Auseinandersetzung mit dem Thema bereit, dieses Urteil zu revidieren. Offensichtlich ist, das zeigte die zweitägige Veranstaltung, die die Heinrich-Böll-Stiftung und "Gegen das Vergessen - Für Demokratie e.V." am 5. und 6. Juni gemeinsam in Berlin durchführten, 13 Jahre nach der deutschen Vereinigung der zeitliche Abstand zu den ideologischen Aufladungen des Kalten Krieges denen die beiden deutschen Staaten ausgesetzt waren, so groß, daß neue Sicht- und Interpretationsweisen möglich sind.

Besonders der generationelle Wechsel, der in der Zwischenzeit stattgefunden hat, ließ es sinnvoll erscheinen, die Verarbeitung des Geschehens am 17. Juni 1953 nicht nur anhand der Zeitzeugenberichte darzustellen, sondern auch die Alltags- und Politikgeschichte der DDR und der Bundesrepublik auf ihre Wahrnehmungen und Interpretationen hin zu überprüfen. In einem Drei-Generationengespräch, das die Veranstaltung einleitete, wurde deutlich, daß die beiden "Nachgeborenen-Generationen", d. h. die heute um die 50jährigen und die Anfang Dreißigjährigen, ähnliche Wahrnehmungen entwickelt hatten: Dorothee Wierling diagnostizierte, als Westsozialisierte mit keinerlei Verbindungen zum Osten, eine zunehmende "Derealisierung" der DDR in der Alltagswahrnehmung der Westdeutschen.

Annette Leo, deren kommunistisch-jüdische Familie Anfang der 50er Jahre die DDR als Alternative zum Westen gewählt hatte, wuchs auf mit der Akzeptanz der offiziellen Version, daß der Aufstand ein faschistischer Putsch zur Beseitigung der DDR gewesen sei. Diese Sichtweise wurde durchaus auch durch die Angst jüdischer NS-Verfolgter vor einem Pogrom unterstützt. Währenddessen bekundete auch ihr jüngerer Kollege Jens König, vor 1989 Chefredakteur der Jungen Welt und heute taz-Redakteur, den 17. Juni nicht mehr als eigene zu deutende Geschichte wahrgenommen, sondern ihn in der Version der "Konterrevolution" eingerastert zu haben. Ulrike Allroggen, Westberliner Politologin und generationengleich in den 70er und 80er Jahren politisch geprägt, bekundete die Nichtwahrnehmung des Staates, an dessen Grenzen sie unmittelbar lebte, während ihre politische Sozialisation und damit auch ihr Interesse sich auf "positive Revolten", auf das westliche Ausland über Westdeutschland hinaus bezog.

Anders die "Erlebnisgeneration". Herbert Priew, der als Student während der großen Demonstration in Halle freie Wahlen in einem vereinten Deutschland forderte und eines der Opfer der anschließenden Verhaftungswelle war, artikulierte nicht nur seine Enttäuschung über die jahrzehntelange Verdrängung, er sieht die Beteiligten nach wie vor nicht angemessen in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen im vereinigten Deutschland repräsentiert. Als ein Beispiel für die gegenläufige Biographie kann der im Westen als linker Satiriker und Graphiker bekanntgewordene Klaus Staeck gelten. Als 15jähriger in der Bitterfelder Provinz mit dem Aufstand konfrontiert, sah er in den Aufständischen nicht nur die Revolten der 20er Jahren wiedererstehen, er lebte fortan mit der totalen Ablehnung des DDR-Regimes. Er verließ die DDR nach dem Abitur, um anschließend im Westen dessen "Verlogenheit" im Umgang mit dem 17. Juni zu erfahren. Seine Bemühungen, der offiziellen "Einheitsrede" die tatkräftige Kontaktpflege mit dem Osten gegenüberzustellen, stießen nicht nur bei Linken auf Unverständnis.

Überhaupt der Umgang des Westens mit dem Datum! Hier begannen sich Eindeutungen aufzulösen, Selbstbefragungen setzten ein und scheinbar so gesicherte Deutungsmuster lösten sich auf, wenn in der abschließenden Podiumsdiskussion Ralf Fücks, Vorstand der HBS sich bekannte, die DDR-Bürgerrechtler der Wende als "Kyffhäuser-Fraktion" tituliert zu haben. Nachdem mit Heinz Suhr ein Vertreter der ersten Parlamentariergruppe der GRÜNEN von seiner innerparteilichen Isolierung sprach, als er mit der Oppositionsbewegung des Osten zusammenarbeiten wollte, differenzierte sich das Bild in der Diskussion dahingehend, daß der historische Kontext ausgedeutet wurde. So argumentierte Fücks, ähnlich wie Hans Misselwitz, dafür, die Bedingungen der Vereinigung 1989 genauer im Kontext der Gorbatschowschen Reformpolitik und des Endes der Sowjetunion zu betrachten. Damit habe die nationale Frage einen anderen Stellenwert erhalten als dies noch in der Phase der Blockkonfrontation möglich gewesen sei.

Die unterschiedlichen Stadien der Aneignung, der geschichtspolitischen Nutzung und Tradierung waren in zwei historischen Beiträgen zuvor eingehend erörtert worden. Edgar Wolfrum, dessen Habilitationsschrift zur Geschichtspolitik der westlichen Nachkriegsgesellschaft vor einigen Jahren erschienen ist, 1 bezeichnete in seinem Vortrag den Umgang des Westens als eine "publicitywirksame Sakralisierung" der Ereignisse. Der Aneignungsprozeß sei in mehreren Stufen erfolgt: nachdem bereits kurz nach den Ereignissen Gräfin Dönhoff in einem Leitartikel der ZEIT einen Nationaltag des wiedervereinigten Deutschland gefordert hatte, setzte sich diese Deutung - eine Revolution für die deutsche Einheit - durch. Die Forderung nach der Einheit wiederum verlor im Zuge der politischen Entwicklung immer mehr an Glaubwürdigkeit, bis sie 1964 von Rudolf Augstein im SPIEGEL gänzlich in Frage gestellt wurde. Von Interesse, so Wolfrum, sei in den 50er Jahren die Haltung der Sozialdemokratie unmittelbar nach den Ereignissen gewesen, die sich von der späten Ostpolitik Willy Brandts deutlich durch eine nationale Note unterschied. Sie habe durch den Aufstand die nationale Zuverlässigkeit der Arbeiterschaft unter Beweis gestellt gesehen und in den Adenauerschen Westverträgen, in Verkehrung der späteren CDU-Polemik gegen die Ostverträge, den Vorwurf des nationalen Verrats in Anschlag gebracht.

Das verhinderte allerdings nicht die Sinnentleerung des nationalen Feiertags, an dem auch die affektive Aufladung, zum Beispiel durch das Anfachen von Mahnfeuern an der Zonengrenze, durch das Errichten von Wiedervereinigungsdenkmälern und das Verkaufen von Anstecknadeln, nichts änderte, bis der Mauerbau und schließlich die Neue Ostpolitik ihn vollends zur Makulatur werden ließen. Der Generationenwechsel Ende der 60er Jahre verhalf der These, nach der die deutsche Teilung das Ergebnis der verhängnisvollen deutschen Sonderentwicklung gewesen sei, zur bestimmenden Deutung des westdeutschen nationalen Bewußtseins. Die Verbindung, die hergestellt wurde zwischen der deutschen Schuld und der daraus resultierenden Teilung, wurde bis 1989 auch von konservativen Kräften geteilt.

Auch der Bochumer Zeitgeschichtler und Vorsitzende der Historischen Kommission der SPD Bernd Faulenbach teilte in der Podiumsdiskussion die von Wolfrum entwickelte These, daß der Mauerbau als erinnerungswürdiges Datum den 17. Juni überlagert habe. Willy Brandt deutete das Ereignis als tragisches Datum in der deutschen Geschichte. In ein Dilemma geriet die Neue Ostpolitik, weil eine Anerkennung der DDR stattfand, die mit dem Gedenken an einen Aufstand gegen das DDR-Regime schwer zu vereinbaren war. In der Folge wurde durch die Neue Ostpolitik unter Willy Brandt das Thema der deutschen Wiedervereinigung zunehmend auch in der offiziellen Politik delegitimiert und machte einer Deutung der deutschen Nachkriegsentwicklung Platz, die in der Teilung eine berechtigte Folge des Nationalsozialismus sah. Allerdings habe die Politik der ‚Annäherung durch Wandel' die Wende 1989 erst möglich gemacht. Erst sie erlaube die emphatische Aneignung des Aufstandes als eines Ereignisses in der Tradition deutscher Demokratiegeschichte. Für diese Deutung plädierten auch Ralf Fücks und Edgar Wolfrum.

Bleibt der Osten. Die Ereignisse um den 17. Juni erfuhren nach der Wende eine Enttabuisierung. Eine einfache Wirkungsgeschichte, die 1953 schlicht zum Vorläuferereignis von 1989 mache, verbiete sich, darüber war man sich einig. Aber hatte nicht Annette Leo in ihren 1993 durchgeführten Interviews mit am Streik beteiligten, aber auch jüngeren Hennigsdorfer Stahlarbeitern herausgearbeitet, daß es eine klandestine Überlieferung im Bewußtsein der Arbeiter gab, sie hätten am 17. Juni für einen Augenblick die Macht in Händen gehalten? Also keine Revolutionsgeschichte, aber eine von Widerständigkeit und Selbstbewußtsein.

Die Zahl der Teilnehmer an der Tagung war gering. Vielleicht wurde eine eindeutigere Parteinahme für die Opfer erwartet. Aber die Veranstalter wagten den interessanten und durchaus ertragreichen Versuch, aus verschiedenen Blickwinkeln - erfahrungsgeschichtlich in Ost und West, über mehrere Generationen -- geschichtspolitische Abwege der Vergangenheit zu thematisieren und diskutieren. Gefragt waren also vorsichtige Suchbewegungen, keine neue Meistererzählungen

1 Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948 - 1990. Darmstadt 1999

http://www.boell.de
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