Politische Inklusion und Partizipation: Strukturen und Semantiken

Politische Inklusion und Partizipation: Strukturen und Semantiken

Organisatoren
Sonderforschungsbereich 584 "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte" der Universität Bielefeld
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.05.2003 - 09.05.2003
Von
Heiko Bollmeyer, Bielefeld

Geht man von der Annahme aus, dass sich das Politische als ein spezifischer Kommunikationsraum konstituiert, so eröffnen sich vielfältige Untersuchungsperspektiven. Dazu gehören neben den Formen und Medien politischer Kommunikation auch die Grenzen, die den Zugang zu diesem Raum reglementieren. Wer auf welche Weise an dieser Kommunikation partizipiert und damit in das Politische inkludiert wird, ist das Ergebnis von Grenzziehungen, die auf struktureller und semantischer Ebene vorgenommen werden. Mit dieser Thematik beschäftigte sich in historischer Perspektive die Tagung "Politische Inklusion und Partizipation: Strukturen und Semantiken", die vom 8. bis 9. Mai 2003 im Internationalen Begegnungszentrum der Universität Bielefeld stattfand und vom Sonderforschungsbereich 584 "Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte" der Universität Bielefeld veranstaltet wurde.

In seiner Einführung erläuterte Heinz-Gerhard Haupt (Bielefeld) als Sprecher des Sonderforschungsbereiches die zentrale Bedeutung der Grenzen für das Politische, die sich mittels der Unterscheidung von "In- und Exklusion" analytisch beschreiben lasse. Den Aspekt der politischen Inklusion könne man im Sinne des Tagungskonzeptes zudem in eine passive und eine aktive Form differenzieren. Von dem passiven Hineingenommensein in politische Strukturen z.B. durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen lasse sich die aktive Teilhabe unterscheiden, wie sie sich beispielsweise durch das Wahlrecht ausdrücke und sich als "Politische Partizipation" beschreiben lasse. Beide Modi politischer Inklusion würden strukturell dadurch ermöglicht, dass Rollen, Institutionen und Regeln zur Verfügung ständen. Zugleich gebe es aber auch Semantiken, welche definieren würden, wer auch welche Weise inkludiert sei. Durch die Wechselwirkung von Semantiken und Strukturen seien letztlich Grenzziehungen wie Grenzverschiebungen des politischen Raumes möglich.

Die erste Session führte in die Grundbegriffe der Tagung ein. Zunächst sprach Rudolf Stichweh (Bielefeld) über das Begriffspaar "In- und Exklusion", das er in sozialtheoretischer Perspektive im Bereich der Gesellschaftstheorie verortete. Moderne, funktional differenzierte Gesellschaften besäßen den Anspruch der Vollinklusion im Sinne einer potenziellen Inklusion aller Personen in alle Funktionssysteme. Diesem Anspruch stehe aber die Realität diametral entgegen, die sich gerade durch eine Exklusion fast aller Personen aus fast allen Systemen auszeichne. Diesem Gegensatz von Anspruch und Wirklichkeit müsse sich eine Theorie der In- und Exklusion stellen, die Stichweh anhand von neun Punkten zu skizzieren versuchte. Dabei schrieb er der Kommunikation eine zentrale Stellung zu. Gehe man davon aus, dass Inklusion über Kommunikation geregelt werde, so seien Exklusionen das Ergebnis gescheiterter Kommunikationsprozesse, indem Menschen entweder aktiv die Kommunikationen ablehnen oder passiv von dieser nicht erfasst würden. Gerade die passiven Formen von Exklusion seien sehr häufig festzustellen, da die meisten Systeme keine "Suchfunktionen" besäßen. Dabei bilde das Politiksystem aufgrund zahlreicher Erfassungsstellen eine Ausnahme. Eine weitere Besonderheit des Politiksystems stelle das Fehlen systemspezifischer Inklusionsmechanismen dar. Erst indem es in andere Funktionssysteme wie z.B. das Erziehungssystem übergreife, könne es deren Inklusionsmechanismen übernehmen und zu seinen eigenen machen.

Alfons Bora (Bielefeld) konstatierte zu Beginn seines Vortrages zum Thema "Partizipation", daß der Begriff der Partizipation bislang nicht systematisch untersucht worden sei. Er definierte Partizipation als per se politisch im Sinne einer semantischen Formel, mit der politische Inklusionsverhältnisse bezeichnet würden. Während Inklusion in systemtheoretischer Perspektive allgemein die Einbeziehung von Personen in die systemspezifische Kommunikation bezeichne, verweise Partizipation auf die spezifische Teilhabe an Kommunikation mittels mehr oder weniger formalen Mitgliedschaften in Organisationen. Vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses der Funktionssysteme, für Vollinklusion zu sorgen, verweise die Thematisierung von Partizipation auf Inklusionsdefizite. Partizipationsforderungen seien zwar nicht auf das politische System beschränkt, besäßen aber mit der Forderung nach Ausweitung der Teilhabe an der jeweiligen Kommunikation einen politischen Impetus. Deshalb sei Partizipation per se politisch und ihr die Funktion der Politisierung inhärent. Dabei unterschied er zwischen unmittelbarer und mittelbarer Partizipation. Während erstere direkte öffentliche Teilhabe einfordere, verweise letztere auf ein Repräsentationsverhältnis.

In seinem Beitrag über "Struktur und Semantik" versuchte Willibald Steinmetz (Bochum/Bremen), das Verhältnis dieser Begriffe zu klären. In seinen Augen bilde "Struktur" einen Plastikbegriff. In der gegenwärtigen soziologischen und geschichtswissenschaftlichen Diskussion werde "Struktur" als Wiederholungen von Handlungen verstanden. Dadurch würden gegenseitige Erwartungsverhältnisse präformiert, die Handlungen sowohl ermöglichen als auch begrenzen würden. Der Begriff der "Semantik" thematisiere als Unterbegriff der Semiotik die Bedeutung sprachlicher Zeichen, während der Plural "Semantiken" auf Sprachverwendungen im Sinne von Diskursen oder Languages verweise. Semantiken seien in diesem Sinne als sprachliche Strukturen zu verstehen, da sie ebenfalls auf wiederholte Aktualisierungen und Realisierungen angewiesen sind. Vor diesem Hintergrund seien Semantiken zwar auf Strukturen, aber Strukturen nicht gänzlich auf Semantiken zurückzuführen, wie Steinmetz anhand der Materialität der Medien ausführte. Dieses Verhältnis gelte auch für den Bereich des Politischen, auch wenn dieser stärker als andere Bereiche auf sprachliche Handlungen angewiesen sei. Diese Überlegungen verdeutlichte er an der Entwicklung der politischen Partizipation im 19. und 20. Jahrhundert. Dabei sei das ältere Paradigma der Repräsentation bestimmter Bevölkerungsgruppen durch das jüngere Paradigma der Partizipation aller Staatsbürger in Frage gestellt und mit der Zeit abgelöst worden. Diese Entwicklung sei durch Semantiken der Inklusion und der Teilhabe begleitet worden, wobei der Fokus überwiegend auf dem Nationalstaat und den nationalstaatlichen Parlamenten gelegen habe. Die Bedeutungszunahme internationaler Organisationen zum Ende des 20. Jahrhunderts habe nun zu einer Abwertung dieser klassischen Partizipationsformen geführt und an ihrer Stelle die Form der passiven Inklusion generiert, die wiederum die Ausbildung neuer Semantiken erfordere.

Die Beiträge der zweiten Session führten den Aspekt des Wahlrechts weiter aus, indem sie am Beispiel der Altersgrenzen diese Zugangsbarrieren politischer Partizipation thematisierten.
Anhand des passiven Wahlrechts konnte Jan Timmer (Bielefeld) in seinem Beitrag "Zwischen Militär und Recht. Zur Konstituierung von Altersgrenzen politischer Partizipation in der Römischen Republik" nachweisen, wie Altersgrenzen des politischen Raumes von denen anderer gesellschaftlicher Räume präfiguriert wurden. Dabei habe jedoch der politische Raum gegenüber dem militärischen Raum eine gewisse Autonomie gewonnen. In dieser Entwicklung stehe auch die Anhebung der Mindestalters des cursus honorum im Kontext der lex Villia Annalis, die Timmer nicht auf Erfordernisse des militärischen Raumes zurückführte, sondern darauf, die Konsensherstellung innerhalb der römischen Nobilität zu sichern.

"Die Diskussion um den politischen Status von Jugend in der Frankfurter und Weimarer Nationalversammlung" wurde von Peter Behrendt (Bielefeld) anhand des aktiven Wahlrechts analysiert und vorgestellt. Dabei konnte er aufzeigen, wie sich der politische Status von Jugend in Deutschland im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert wandelte. Hinter der Festlegung der wahlrechtlichen Altersgrenze auf 25 Jahre habe 1849 die Vorstellung von Liberalen und gemäßigten Demokraten gestanden, dass es der Jugend an der notwendigen Reife zur Teilnahme am Politischen fehle, da sie rechtlich unmündig, sozial unselbstständig und militärisch unausgebildet sei. Zudem sei die vermeintlich gewaltbereite und umstürzlerische junge Generation als Gefahr für die Stabilität des politischen und gesellschaftlichen Systems imaginiert worden. In der Weimarer Nationalversammlung habe sich dagegen die Mehrheit der Abgeordneten für die Absenkung des Wahlalters auf 20 Jahre ausgesprochen, um möglichst weite Bevölkerungskreise am Aufbau des noch jungen und ungefestigten demokratischen Staates zu beteiligen. DDP, SPD und USPD hätten die geringere Altersgrenze konkret damit gerechtfertigt, dass die Jugendlichen eher die Volljährigkeit erreichen würden, sich früher aus der hausväterlichen Gewalt lösen würden und nicht zuletzt das Vaterland im Krieg verteidigt hätten.

Die dritte Session griff die mittelbare Form politischer Partizipation auf und thematisierte die Rolle des Parlaments in der Weimarer Republik als Medium politischer Partizipation. Zunächst sprach Heiko Bollmeyer (Bielefeld) über "Repräsentative Partizipation? Semantiken der Auseinandersetzung um die Stellung des Parlaments in den Verfassungsberatungen von Weimar 1919". Dabei ging er der Frage nach, welche Vorstellungen des Verhältnisses von Parlament und Volk in den Verfassungsberatungen von Weimar 1919 geäußert wurden und wie sich diese in der Weimarer Reichsverfassung auswirkten. Den demokratietheoretischem Ausgangspunkt bildete die Funktion des Parlaments, den pluralistisch geäußerten Volkeswillen in einen einheitlichen Staatswillen zu transformieren. Vor diesem Hintergrund untersuchte er, ob in den Verfassungsberatungen von Weimar die Auffassung vom Parlament als ein Medium politischer Partizipation vertreten wurde. Er konnte zeigen, dass weniger die Vertreter der Oppositionsparteien DNVP und DVP, sondern vor allem die Abgeordneten der Regierungspartei der DDP Parlaments- und Volkswillen in einem potenziellen Widerspruch gesehen hätten. Daher, so hätten diese argumentiert, müsse dem Reichspräsidenten das Recht zugestanden werden, eine Volksabstimmung über Entscheidungen des Parlaments anordnen zu können. Auch die Vertreter der SPD hätten die Möglichkeit einer Volksabstimmung über bestimmte Entscheidungen des Parlaments befürwortet. Die Initiative hätten sie aber nicht dem Reichspräsidenten, sondern dem Volk zuschreiben wollen. Um jedoch den Verfassungskompromiss von SPD, DDP und Zentrum nicht zu gefährden, seien sie letztlich gezwungen gewesen, sich Forderungen der DDP anzuschließen. Die Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung hätten also Reichstag und Volk einander gegenübergestellt und somit das Parlament in seiner partizipatorischen Bedeutung nicht erkannt.

Kathrin Groh (Bielefeld) untersuchte in ihrem Beitrag "Quod omnes tangit: Repräsentation und parlamentarische Demokratie in der Weimarer Staatsrechtslehre" die politischen Theorien verschiedener Staatsrechtslehrer der Weimarer Republik auf ihre jeweiligen Vorstellungen von Repräsentation, repräsentativer Demokratie und der Partizipation des Volkes an der Staatswillensbildung. Den Antipositivisten Carl Schmitt, Gerhard Leibholz und Erich Kaufmann stellte sie Positivisten wie Hans Kelsen, Richard Thoma und Ernst Fraenkel gegenüber. Dabei kam sie zu dem Ergebnis, dass Erstere das zu repräsentierende Volk als eine höherwertige ideelle Einheit verstanden hätten. Dessen "wahrer" Wille sei ausschließlich durch besondere Repräsentanten zu erkennen, wobei Kaufmann und Schmitt sogar so weit gegangen seien, diese Funktion auch einem einzigen Repräsentanten zu übertragen. Die Positivisten hätten dagegen Repräsentation als Herrschaftstechnik verstanden. Ausgehend von der Vorstellung des Volkes als empirische Gesamtheit aller Staatsbürger hätten sie dem Parlament die Aufgabe zugeschrieben, den heterogenen Volkswillen in einen einheitlichen Staatswillen zu aggregieren. Dabei sei Kelsen für eine Vertretung möglichst vieler Interessen im Parlament eingetreten, während Fraenkel eine stärkere Verbindung von Parlament und Verbänden gefordert habe.

Die vierte Session thematisierte die Krisen politischer Inklusion in Deutschland, Großbritannien und Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wobei die Semantiken dieser Krisen in den Mittelpunkt gestellt wurden.
Zunächst referierte Christine Weinbach (Bielefeld) über die "Formen politischer Inklusion: Staatsbürgerschaft und nationale Zugehörigkeit" und plädierte dafür, Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit begrifflich zu trennen. Anders als es in der einschlägigen Diskussion meist üblich sei, könnten erst dann aktuelle, nämlich heterogene Inklusionsverhältnisse angemessen voneinander unterschieden werden. Je nach Kombination der beiden Unterscheidungen Staatsbürger/Nicht-Staatsbürger und zugehörig/nicht-zugehörig ließen sich die unterschiedlichen vorfindbaren Inklusionstatus näher fassen und hinsichtlich ihrer jeweiligen verschiedenen Inklusionsgrade voneinander unterscheiden. Ergänzt werden müsse diese Strukturanalyse durch das Hinzuziehen einer Semantikanalyse, die in erster Linie auf die Bezeichnungsweisen, die für die verschiedenen Inklusionsstatus bereitgehalten werden, zu konzentrieren sei. Ein gutes Beispiel gäben Asylbewerber ab, deren Inklusionsgrad als nicht-zugehörige Nicht-Staatsbürger auf ein Minimum reduziert ist und die häufig mit diffamierenden, ihre Nicht-Zugehörigkeit deutlich reflektierenden Bezeichnungsweisen (z.B. Scheinasylanten, Wirtschaftsflüchtlinge) markiert werden.

In seinem Vortrag "State an stasis in France. Structural problems and semantic paradoxes of political belonging" ging Marcus Otto (Bielefeld) der Politisierung des Diskurses um Staatsbürgerschaft und Immigration in Frankreich anhand der systemtheoretischen Unterscheidung zwischen Struktur und Semantik nach. Die Inklusion von Nicht-Staatsbürgern sei, so Otto, lange Zeit administrativ als strukturelles Problem einer Abweichung von der Norm der politischen Inklusion behandelt worden, die eben auch wohlfahrtsstaatliche Inklusion umfasse und mit nationalstaatlicher Zugehörigkeit kongruent sei. Dagegen habe sich seit den 1980er Jahren ein semantischer Kampf um staatliche Regelungen politischer Inklusion und korrespondierende Semantiken des Nationalstaats forciert. So sei immer weniger eindeutig, an welchem politischen Publikum sich das politische System ausrichte. Mit der Diagnose einer ‚politischen Stasis' bezog er sich darauf, dass die politische Auseinandersetzung um diese Publikumsreferenz geradezu zum Konstituens des politischen Raumes in Frankreich geworden sei.

In seiner Zusammenfassung führte Christoph Gusy (Bielefeld) aus, dass die Tagungsbeiträge an sehr unterschiedlichen Bereichen den Perspektivengewinn einer Auffassung des Politischen als Kommunikationsraum verdeutlicht hätten. Auf diese Weise rücke insbesondere das personelle "Inventar" des Politischen und dessen Veränderungen in den Blick, was sich durch die Unterscheidung von Inklusion und Exklusion analytisch fassbar machen lasse. Dass die aktive Form der Partizipation einen wichtigen Aspekt politischer Inklusion darstelle, hätten die Beiträge über die Veränderungen der Altersgrenzen des Wahlrechts veranschaulicht. In dieser Form unmittelbarer Partizipation dürfe jedoch nicht die einzige Form politischer Inklusion gesehen werden, wie nicht nur die Beiträge über das Parlament als Medium politischer Partizipation, sondern auch die Analysen wohlfahrtstaatlicher Inklusionsmechanismen der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts gezeigt hätten. Diesen Aspekten wolle der Sonderforschungsbereich, auf solchen Ergebnissen aufbauend, weiterhin nachgehen.

Einen ausführlicheren Tagungsbericht einschließlich der Zusammenfassung der Kommentare von auswärtigen Gästen zu den einzelnen Beiträgen und der Diskussionen finden sie auf der Homepage des SFB unter: http://www.geschichte.uni-bielefeld.de/sfb584/
Darüber hinaus ist die Veröffentlichung der Tagungsbeiträge in einem Sammelband für das Frühjahr 2004 in Vorbereitung.

http://www.geschichte.uni-bielefeld.de/sfb584/