Political Ritual in the United Kingdom, 1700 - 2000

Political Ritual in the United Kingdom, 1700 - 2000

Organisatoren
Arbeitskreis Deutsche England-Forschung
Ort
Mühlheim/Ruhr
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.05.2003 - 01.06.2003
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Von
Jörg Neuheiser, Universität zu Köln

Die historische Bedeutung von rituellen Formen, öffentlichen Zeremonien und symbolischen Handlungen im politischen Raum beschäftigt nicht nur in Deutschland eine immer größere Zahl von Historikern. Auch Debatten zur englischen Geschichte sind seit einigen Jahren von Fragen nach der Rolle von politischen Ritualen geprägt, für das 19. Jahrhundert in bezug auf den Charakter von Öffentlichkeit und die Partizipationsmöglichkeiten der breiten Bevölkerung an politischen Prozessen vor der Ausweitung des Wahlrechts, bei Zeithistorikern und Politologen in Diskussionen um die Rolle der Monarchie im 21. Jahrhundert oder die Etablierung einer neuen parlamentarischen Kultur in den kürzlich entstandenen Abgeordnetenhäusern in Schottland, Wales und Nordirland.

Politische Rituale standen deshalb im Mittelpunkt der diesjährigen Jahrestagung des Arbeitskreises Deutsche England-Forschung in Mühlheim an der Ruhr. Britische und deutsche Historiker diskutierten dabei nicht nur die große Vielfalt ritueller Formen innerhalb der britischen Politik, sondern auch methodische Probleme, die sich bei der Beschäftigung mit symbolischen Formen für eine moderne Politikgeschichte ergeben. 20 Jahre nach dem Erscheinen von Eric Hobsbawms und Terence Rangers „The Invention of Tradition“ drängten sich Fragen nach einer globaleren Perspektive auf die Geschichte der politischen Rituale in Großbritannien auf: Vorträge und Diskussion thematisierten neben dem Problem der Definition eines nicht zu engen, zugleich aber nicht in Beliebigkeit verfallenden Begriffs von "politischen Ritualen" immer wieder die Frage nach dem Wandel der politischen Bedeutung und Funktion traditioneller Rituale und nach grundlegenden Brüchen in der Entwicklung der Geschichte politischer Rituale.

So beurteilte etwa Frank O'GORMAN (Manchester) die Vorstellung eines tiefen Einschnitts im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert und eines Bruchs zwischen Ritualen in traditionellen und modernen Gesellschaften, wie Hobsbawm und Ranger ihn mit der Industrialisierung und dem Aufkommen nationalistischer Rituale und Symbole vermuteten, eher skeptisch. In seinem einleitenden Abendvortrag über Rituale im 18. Jahrhundert stellte er die vielen Facetten und Formen, die sich mit dem Begriff des politischen Rituals in England verbinden, eindrücklich vor und betonte lange Entwicklungslinien, die von der englischen Revolution bis weit ins 19. Jahrhundert reichten. So hätten die hochritualisierten Abläufe um die Wahlen von Parlamentsabgeordneten schon früh einer breiten Öffentlichkeit sowohl Partizipationsmöglichkeiten als auch Gelegenheiten zum Protest geboten. Im Verlauf des langen 18. Jahrhunderts lasse sich mit Blick auf so unterschiedliche Phänomene wie städtische Rituale, Rituale um die Monarchie, Nation oder das Empire insgesamt ein starker und kontinuierlicher Anstieg der Zahl von politischen Ritualen beobachten. O'Gorman erklärte diesen Anstieg u.a. damit, daß in einer zunehmend kommerzialisierten Gesellschaft Rituale Gelegenheiten zur Selbstdarstellung boten, in die sich auch die Entwicklung neuer Formen wie Rituale des radikalen Protests einordnen lassen. Mit Blick auf die Forschung zu politischen Ritualen forderte er, vernachlässigte Aspekte wie unmittelbar beteiligte Zuschauer und die zuschauende Öffentlichkeit stärker in die Untersuchung der Abläufe von Ritualen einzubeziehen. Insgesamt bewegten sich politische Rituale im Spannungsfeld zwischen mobilisierenden Spektakeln und der gezielten symbolischen Kommunikation von Macht - gerade der Bezug zur Macht unterscheide dabei politische Rituale von anderen Formen der öffentlichen Festkultur.

Die erste Sektion der Tagung behandelte politische Rituale in britischen Städten. Wie Frank O'Gorman stellte auch Rosemary SWEET (Leicester) in ihrem Vortrag über städtische Rituale im 18. Jahrhundert verbreitete Annahmen zur Entwicklung der urbanen politischen Kultur in Frage. Gegen das von Peter Borsay entwickelte Modell eines generellen Niedergangs der „civic rituals“ gegen Ende des Jahrhunderts und ihrer zunehmenden Integration in eine nationale Festkultur betonte sie die großen Unterschiede zwischen einzelnen Städten. Lokale städtische Strukturen prägten die Entwicklung politischer Rituale vor Ort; statt eines klaren Epochenwechsels beim Übergang von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft ergebe sich ein Bild, das auch schon das Mittelalter geprägt habe: ein ständiger, lokal und regional bedingter Wandel politischer Rituale, der sich bis in die Gegenwart beobachten lasse. Im 18. Jahrhundert wurden neue Formen wie die mit Parlamentswahlen verbundenen Rituale umgehend in den lokalen Tenor der älteren städtischen Rituale integriert und genutzt, um neben politischen Botschaften auch die Identität und den Stolz der Gemeinde und ihre Position im Verhältnis zu anderen Städten und der Nation als Ganzes auszudrücken. Gerade im Kontext von parteigebundenen Ritualen entstanden etwa Stadtgeschichten, die das Alter und die Würde der städtischen Gemeinde betonten und sich dabei nur wenig um historische Fakten kümmerten. Während eine solche Verbindung von Stadt und Partei zunächst ein typisches Mittel konservativer Politik war, stößt man in viktorianischer Zeit in liberalen Zusammenhängen auf eine Welle von neuen Ritualen, die städtische Identität ausdrückten - allen Vorstellungen eines Niedergangs der „civic rituals“ zum Trotz.

Vom Niedergang städtischer Rituale im 19. Jahrhundert konnte auch Andreas FAHRMEIR (Frankfurt/M.) nicht berichten, wohl aber von einem starken Wandel des politischen Charakters des von ihm untersuchten Rituals. In einer Fallstudie schilderte er den Wandel der Londoner Lord Mayor Show am Tag der Einsetzung des neuen Bürgermeisters der City of London im 19. Jahrhundert. Bis heute wird alljährlich im November der Eid des neuen Bürgermeisters mit einer großen Parade der Kaufmannsgilden auf der Themse und durch die Stadt öffentlich gefeiert und anschließend mit einem großen Bankett der städtischen Honoratioren begangen. Mußten im frühen 19. Jahrhundert unpopuläre Bürgermeister und andere Politiker, die an der Parade teilnahmen, damit rechnen, daß sie von der Bevölkerung heftig attackiert und beschimpft wurden, verlor sich jede tages- und parteipolitische Bedeutung in der zweiten Jahrhunderthälfte und die Lord Mayor Show nahm den Charakter eines Umzugs an, der mit festlichen Motivwagen die Stadt feierte und soziale Harmonie in den Mittelpunkt rückte. Zugleich diente sie zunehmend zur Selbstdarstellung der Corporation of London und der in ihr vertretenen städtischen Führungsschicht - die Show transportierte so ein bestimmtes Bild der britischen Gesellschaft und feierte die städtische Elite als Meritokratie. Gleichzeitig erhielt das begleitende Bankett durch die Teilnahme von Ministern und Parlamentariern zunehmend eine überregionale Bedeutung und wurde etwa zur Verkündung von Regierungserklärungen genutzt. Im Verlust der Möglichkeiten politischer Partizipation für die Zuschauer der Parade spiegelte sich dabei auch der zunehmende Verlust demokratischer Strukturen in der City of London.

Stellten sich im Zusammenhang mit der Lord Mayor Show Fragen nach der Unterscheidung von Ritualen von sonstigen Feiern und Zeremonien und nach einer Entpolitisierung und "politischen Zähmung" städtischer Rituale im Laufe des 19. Jahrhunderts, behandelte die nächste Sektion betont Möglichkeiten des Protests und der politischen Mobilisierung über Rituale. Detlev MARES (Darmstadt) diskutierte den Wandel der Nutzung politischer Rituale durch die englischen Radikalen im Laufe des 19. Jahrhunderts und widersprach dem in der Forschung vorherrschenden Eindruck einer Zähmung der radikalen Protestkultur durch eine zunehmende Betonung von Respektabilität und moralisch-politischer Anständigkeit der Radikalen in ihren symbolischen Handlungen. Zwar wurden innerhalb des englischen Radikalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts Forderungen nach Ernsthaftigkeit und dem Verzicht auf populäre und aggressivere Formen rituellen Protests wichtiger, zugleich überlebte aber in vielen Protestritualen eine "unanständige" und aggressivere Form des radikalen Protests. Innerhalb der Radikalen diskutierte man heftig über die Nutzung von Straßendemonstrationen, Massenveranstaltungen und den Gebrauch von traditionellen Symbolen wie Freiheitskappen oder roten Fahnen. Nur scheinbar setzten sich dabei die Vertreter der „respectability“ durch, tatsächlich schwankte die radikale Bewegung im Spätviktorianismus zwischen der symbolischen Betonung ihrer Fähigkeit zu ernsthafter Politik und respektablem Auftreten und einer aggressiveren Untergrundtradition, die sich an populären rituellen Protestformen des frühen 19. Jahrhunderts orientierte.

Dennoch scheint die Forderung nach Respektabilität und disziplinierten Formen des öffentlichen Protests eine wichtige Tendenz der Entwicklung ritueller Protestkultur zu sein. Auch in Matthias REIß (London) Fallstudie zu den Hungermärschen englischer Arbeitsloser in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts spielte die Betonung der eigenen Anständigkeit und die Wahrung eines geordneten und disziplinierten Erscheinungsbild eine wichtige Rolle. Über Jahre hinweg kam es in beiden Jahrzehnten zu nationalen Protestmärschen, die sich sternförmig aus verschiedenen Regionen Englands nach London bewegten, um dort im Rahmen einer großen Demonstration gegen die verbreitete Arbeitslosigkeit zu demonstrieren. Bewußt lehnten die Beteiligten ihre Demonstrationen an das Bild einer marschierenden Armee an, auch um ihren Status als arbeitslose Weltkriegsveteranen zu betonen: Militärische Disziplin und das Tragen von Kriegsauszeichnungen sollten das Bild des arbeitslosen Kriegshelden prägen; nationale Symbole wurden dabei mit den Symbolen der englischen Arbeiterbewegung verbunden. Zugleich erinnerten die tagelangen Fußmärsche auch an Pilgerfahrten und spielten so auf religiöse Motive an. Insgesamt gelang es, durch eine gelungene „Invention of Tradition“ ein neues politisches Ritual zu etablieren, das über Jahre hinweg eine große britische Öffentlichkeit erreichte und das Bild des desinteressierten und apathischen Arbeitslosen korrigieren und Arbeitslose als politische Kraft präsentieren konnte.

Die Konferenz endete mit einem Sprung in die Zeitgeschichte und zwei Beispielen für sehr unterschiedliche Formen von Ritualen, die gezielt historische Erinnerung politisch instrumentalisieren. Dominic BRYAN
(Belfast) beschrieb die Paraden des irischen Oranierordens in Nordirland und die Nutzung der Erinnerung an Schlachten der Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts in den heutigen Auseinandersetzungen zwischen republikanischen Katholiken und unionistischen Protestanten in Nordirland. Mit Blick auf die methodischen Probleme bei der Untersuchung von Ritualen unterstrich er dabei die Kontinuität der Formen des Rituals, das sich in den über 200 Jahren seiner Existenz in seinen Abläufen fast gar nicht, in seiner Bedeutung aber mehrmals erheblich gewandelt habe. Auch die Paraden des Oranierordens unterlagen dabei im 19. Jahrhundert einer Entwicklung zu einem zunehmend respektableren Auftreten; wichtiger für die heutigen Paraden ist aber der Wandel der politischen Rahmenbedingungen des Rituals. So waren die Paraden in den 1950er und 60er Jahren praktisch Staatsrituale, die die offizielle protestantische Identität des nordirischen Staats ausdrückten und von einer großen Mehrheit der nordirischen Protestanten gefeiert wurden. Mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in den späten 60er Jahren rückten sie in den Mittelpunkt des Konflikts und wurden im Kampf gegen Katholiken zunehmend zum politischen Instrument protestantischer Extremisten, die die Paraden seit den 90er Jahren schließlich gezielt zum Ausdruck ihres Protestes gegen Entscheidungen und Entwicklungen im inzwischen begonnenen Friedensprozeß nutzen. Unterhalb der symbolischen Kontinuität zeigt sich so ein erheblicher Wandel, der nur über eine genaue Analyse des Kontexts und der Hintergründe zu untersuchen ist.

Der völlige Wandel von im Prinzip ähnlichen Ritualen beschäftigte auch Gert STRATMANN (Bochum) in seiner Analyse der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Krönung von Königin Elisabeth II. im letzten Jahr. Im Vergleich zu den weitgehend gescheiterten Feierlichkeiten des silbernen Krönungsjubiläums vor 25 Jahren, in denen sich das Königshaus altbacken und ohne Verständnis für die großen sozialen und kulturellen Veränderungen der 60er und 70er Jahre präsentierte, gelang es bei den Feierlichkeiten letztes Jahr mit dem Mitteln einer gezielten „bricolage“ (Levi-Strauss), die königliche Familie symbolisch in den Mittelpunkt der Nation zu stellen und die Königin als Spitze einer multikulturellen und betont jugendlichen nationalen Gemeinschaft zu präsentieren. Geplant von einer Regierungskommission wurden zahlreiche Elemente der britischen Popkultur, Symbole des Commenwealth und Rituale ethnischer Minderheiten in Großbritannien wie dem Notting Hill Carneval unmittelbar in die Feierlichkeiten integriert, um den Eindruck einer modernen Monarchie zu erzielen. Das Golden Jubilee wurde so zu einem aus Sicht der Windsors erfolgreichen Beispiel für die Nutzung monarchistischer Rituale zur Vergrößerung der Akzeptanz der Monarchie in der britischen Gesellschaft und stellte sich in eine im späten 19. Jahrhundert beginnende Reihe der Instrumentalisierung und bewußten Inszenierung von Ritualen im Umfeld des Königshauses zur Stärkung der Position der Krone.

Stratmanns Analyse der Rituale um das britische Königshaus als Formen der symbolischen Verhandlung über die Position der Monarchie zwischen königlicher Familie und britischer Öffentlichkeit kann dabei als Ansatz für eine Zusammenfassung der Diskussionen der Konferenzteilnehmer über politische Rituale dienen: Symbolische Kommunikation über Macht verbindet die sehr unterschiedlichen Rituale, die im Rahmen der Konferenz vorgestellt wurden. Nur schwer scheint sich die Entwicklung von politischen Ritualen in Großbritannien über Begriffe wie Modernisierung oder entlang klassischer politikgeschichtlicher Periodisierungen fassen zu lassen. Nicht klar erkennbare Phasen einer Zu- oder Abnahme der Zahl politischer Rituale bestimmen das Bild, die Erfindung und Adaption von rituellen Formen, aber auch ihr Verschwinden, scheint immer an den konkreten Kontext eines bestimmten Rituals gebunden zu sein. Nichtsdestotrotz deuteten sich auch große Entwicklungslinien an: das Aufkommen der Forderung nach „repectability“ etwa scheint die Abläufe politischer Rituale ab Mitte des 19. Jahrhunderts entscheidend geprägt zu haben, Zeichen für eine grundlegende Änderung der Auffassung davon, welche Formen und symbolischen Handlungen in der britischen Öffentlichkeit nach 1850 zulässig waren und akzeptiert wurden.

Die Beiträge zur Konferenz werden in einem Tagungsband in der Reihe des Arbeitskreises Deutsche England-Forschung im Frühjahr 2005 veröffentlicht. Im kommenden Jahr wird sich die Tagung des Arbeitskreises mit den anglo-amerikanischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigen.


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