„Migration and Transfer from Germany to Britain, c. 1660 to 1914“
Kolloquium im Großbritannienzentrum der Humboldt-Universität, Berlin, 25./26. Juli 2003
Ein deutsch-britischer Vergleich in historischer Perspektive fällt für Deutschland in der Regel wenig schmeichelhaft aus. Hartnäckig halten sich die Vorstellungen von der lange Zeit rückständigen Wirtschaft, der unterentwickelten Zivilgesellschaft und der verspäteten Nation, obwohl die „Sonderweg“-These mittlerweile erheblich relativiert worden ist. Da scheint es nur „natürlich“, daß der britische Entwicklungsvorsprung deutsche Migranten anzog. Aber wie Fähigkeiten, Wissen und Gedankengut zu bewerten seien, die die Deutschen mitbrachten, wie sich all dies und sie sich selbst in den andersartigen kulturellen Kontext integrierten, ob England über den demographischen Faktor hinaus von der Zuwanderung profitierte und ob sich daraus Rückwirkungen auf Deutschland ergaben, ist bislang keine Frage gewesen, der sich die Forschung mit besonderer Aufmerksamkeit zugewandt hätte. In dieses Gefüge Bewegung zu bringen, war erklärte Absicht des von Stefan Manz (University of Greenwich) und Margrit Schulte Beerbühl (Universität Düsseldorf) organisierten, von der „British Academy“ finanzierten und vom Großbritannienzentrum der Humboldt-Universität unterstützten Kolloquiums.
Am Anfang der Tagung standen die „Royals“ aus dem Hause Hannover. Frauke Geyken (Göttingen) stellte heraus, daß deren deutsche Herkunft in der öffentlichen Meinung Englands praktisch übergangen wurde und doch Debatten über die konstitutiven Elemente der „Britishness“ anstieß: den Protestantismus, die Unabhängigkeit vom Kontinent, die Superiorität der Verfassung. Ab den 1750er Jahren wurde in den Augen englischer Reisender aus den unzivilisierten, rückständigen Barbaren fast so etwas wie die „edlen Wilden“, „unsere Germanischen Vorfahren“. Erst auf dem Umweg über Schottland – will sagen: eine veränderte Wahrnehmung von Natur und Kultur – öffnete sich gegen Ende des Jahrhunderts der Blick der Briten für Deutschland, die Landschaft und – vermittelt durch Coleridge, Eliot, Lewis – die Literatur, obschon das „Land der Dichter und Denker“ auch nach de Staels „De l’Allemagne“ weiterhin durch die Brille skurriler Stereotypen gesehen wurde.
Durch dieselbe Brille sahen die englischen Diplomaten, die in München und Regensburg während des 18. Jahrhunderts akkreditiert waren, auf Bayern, wie Ernst Schütz (Eichstätt) demonstrierte. Höfisches Leben, Zeremoniell und Verfassung, Wirtschaft, Handel und Landwirtschaft, Militär, Kunst, Religion und Aufklärung wurden geringschätzig beurteilt – trotz der Anglophilie am Hofe Carl Theodors. Wo die Gesandtschaftsberichte ein intensiveres Interesse verraten, war dieses Interesse persönlich motiviert. Diplomatiegeschichte ist also nicht per se eine Geschichte interkulturellen Transfers. „Erfolgsgeschichten“ scheinen eher eine von günstigen Rahmenbedingungen und individueller Aufgeschlossenheit abhängige Ausnahme.
Der wissenschaftlich vielseitig interessierte preußische Gesandte Freiherr von Bunsen (1841 bis 1854 in London akkreditiert), war so ein bemerkenswerter Fall. Er beteiligte sich persönlich am Wissenstransfer und betätigte sich gleichermaßen als „Agentur“ für den Transfer von Ideen, Wissen und Personen, wie Ulrike Kirchberger (Bayreuth) zeigte. Bunsen verfügte über eine klare Einschätzung britischer Interessenlagen und weitreichende Verbindungen, die er nutzte, um deutsche Wissenschaftler mit englischen zusammenzuführen. Die Entwicklung des universellen phonetischen Alphabets ging ebenso auf das Konto seiner Bemühungen, wie das joint venture einer deutsch-britischen Himalaya-Expedition oder die Kooperation von Missionsgesellschaften. Durch den Transfer deutscher Ideen und deren Anpassung an britische Interessen, so Kirchberger, seien die Züge des späteren deutschen Imperialismus und Kolonialismus in der preußischen Botschaft geformt worden, wobei es Bunsen selbst nicht um gesamtdeutsche Interessen, sondern die Förderung von Personen und Projekten ging.
Während die Forschungen zur Hugenottenmigration ein Transfermodell etabliert haben, das die Gewinne der Immigrationsländer als die Verluste Frankreichs bilanziert, konnte Margrit Schulte Beerbühl (Düsseldorf) sehr überzeugend darlegen, daß diese Rechnung in bezug auf die deutschen Kaufleute im London des 18. Jahrhunderts nicht aufgeht, wenn man außer dem Kapital auch Handelsnetze und Technologie einbezieht. Die aus Deutschland stammenden Kaufleute – unter den auswärtigen Handelshäusern die größte Gruppe – bildeten mit ihren Handelsnetzen und Kenntnissen in Sprache, Handelspraktiken und Märkten ein wichtiges Scharnier einerseits für den Import von Gütern, von denen Schiffbau, Schiffahrt und Industrialisierung Großbritanniens abhingen, und andererseits für den Absatz von Produkten und Rohstoffen aus den britischen Kolonien auf dem Kontinent. Abraham Korten aus Elberfeld beispielsweise verknüpfte die Textilregion des Bergischen Landes mit Großbritannien, Neuengland, der Karibik und Rußland. Bei den überwiegend aus Hamburg stammenden Zuckersiedern gingen Technologietransfer und Überseehandel Hand in Hand, und der Remscheider Peter Hasenclever ist ein gutes Beispiel, wie technologisches bzw. kulturelles Wissen durch Migration (vom Rheinland über die Iberische Halbinsel, London, nach Neuengland und zurück nach Schlesien) erweitert und transferiert werden konnte. Transfer kann, so Schulte Beerbühl, vor diesem Hintergrund nicht als bilaterale Einbahnstraße verstanden werden, sondern als ein Prozeß der Diffusion von Wissen entlang den Fäden des merkantilen Netzes.
An diese Befunde konnte John Davis (Kingston) für das Viktorianische England unmittelbar anknüpfen. Obwohl die Institution der „Chambers of Commerce“ auf französische Vorbilder zurückgeht, waren es in Bradford, Manchester und Birmingham doch die zahlreichen deutschen Kaufleute und Unternehmer, die sie zu einem Instrument intensiven Lobbyismus’ zugunsten einer Aufweichung der britischen Freihandelsdoktrin machten. Sie verfügten über ein Expertenwissen, das sonst in den exportabhängigen Städten nicht zur Verfügung stand. Die Handelskammern „bombardierten“ das „Board of Trade“ mit Memoranden, deren Inhalte sich aus den deutschen Informationskanälen speisten, so daß deutsche Immigranten schließlich an den Verhandlungen über die Handelsverträge der 1860er Jahre direkt beteiligt wurden. Auch ihr Drängen auf die Bildung eines Handelsministeriums war schließlich von Erfolg gekrönt. In dem Maße, wie sich die öffentliche Meinung der von Jakob Behrens und anderen angestoßenen Bewegung öffnete, verloren die deutschen Kaufleute schließlich am Ende des Jahrhunderts an Einfluß.
Davis’ Skepsis, ob es sich hierbei um einen tatsächlichen Transfer oder nur um die Koinzidenz von exportorientierter Wirtschaftsstruktur und persönlichem Engagement einzelner handelt, leitete über zur Fallstudie von Stefan Manz (Greenwich). Unbestritten ist, daß der Erfolg des weltgrößten Nähgarnherstellers J. &. P. Coats den organisatorischen und administrativen Fähigkeiten des Hamburgers Otto Ernst Philippi zuzuschreiben war. Manz wies jedoch nach, daß Philippi spezifisch deutsche Management-Methoden auf den multinationalen Konzern übertragen hat. Dazu gehörte die Umstellung des Vertriebs von selbständigen Agenten auf firmeneigene Repräsentanten mit großer Detailkenntnis über die Nachfragesituation lokaler Märkte – unterstützt durch eine während der 1880er Jahre in Großbritannien noch unübliche kartell- bzw. syndikatsähnliche Kooperation mit den größten Konkurrenten. Expansion durch Produktionsstätten in anderen Ländern wurde begleitet von einem systematischen Technologietransfer bei gleichzeitiger Intensivierung der Kontrolle durch die Zentrale, in die Philippi eine straffe bürokratische Organisation einführte. Offen blieb allerdings die Frage, warum der offensichtliche Erfolg von J. &. P. Coats keine Nachahmer in Großbritannien fand.
Hatte sich anfangs die Diskussion an der Rolle des Individuums für den Erfolg oder Mißerfolg von kulturellem Transfer entzündet, konzentrierte sich die Debatte am Ende des ersten Konferenztages auf die Frage nach Definition und Charakter von Transfer, bei dem der „cultural turn“ das Wie und Wer ins Rampenlicht gerückt habe. Als entscheidend wurde der Prozeßcharakter herausgestellt, in dessen Verlauf das Transferierte auch transformiert werden könne. Als schwierig erwies sich die begriffliche Abgrenzung von „Transfer“ und „Diffusion“. Die Kriterien „Intentionalität“ und „Interaktion“ wurden jedenfalls als dazu untauglich verworfen, schon weil sie benötigt werden, um Transfer und Diffusion jeweils näher zu charakterisieren. Aber kann man von erfolgreichem Transfer sprechen, wenn ihm keine Diffusion folgt (vgl. Manz)? Und wie dauerhaft muß ein Phänomen verankert sein, um als Transfer angesprochen werden zu können (vgl. Davis und Panayi)? Während es für die meisten Anwesenden schwer vorstellbar war, Transfer und Migration für die Zeit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu dissoziieren, erhob sich die Frage, ob im 20. Jahrhundert nicht andere Mechanismen des Transfer mindestens als gleichrangig zu betrachten wären. Den Fallstudien künftig ein theoretisch-konzeptionelles Gerüst beizugeben, erschien allen Beteiligten wünschenswert.
Christiane Eisenberg (Berlin) ging dann der Frage nach, warum das deutsche Turnen auf so wenig Gegenliebe in England stieß. Als maßgeblich sah sie die Entstehungsbedingungen in Deutschland an: Der Gedanke der spätaufklärerischen Pädagogik, mit dem körperlichen auch den moralischen „aufrechten Gang“ zu fördern, habe durch Jahn vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der napoleonischen Ära eine Ausweitung auf eine Vorbereitung zum Militärdienst und eine Politisierung erfahren. Versuche politischer Flüchtlinge aus Deutschland (u. a. Carl Völker), Turnen in England zu etablieren, habe es zwar gegeben. Doch der Militärdienst habe einen anderen Stellenwert gehabt und ohnehin galt, daß „Waterloo was won on the playing fields of Eton“. Zudem wurden Turnübungen in Schulen als Strafmittel eingesetzt und außerschulisch von Trainern mit geringem sozialen Status propagiert, was die Trennung von „sports“ und „gymnastics“ entlang der Klassengrenzen förderte. „Sports“ – ein zentraler Aspekt der Diskussion – seien seit dem 17. Jahrhundert von der „idea of competition“ geprägt gewesen, während die Veranstaltung von Wettkämpfen den deutschen Turnern als dekadenter Tribut an den Kommerz erschien.
Rudolf Muhs (London) präsentierte in seinem Vortrag über die deutschen Gouvernanten vielfältiges Material, wie sich die Existenzbedingungen von Lehrerinnen „zwischen den Kulturen“ gestalteten, soweit sie sich aus Muhs’ Untersuchungen zu dem von Helene Adelmann 1876 gegründeten „Verein deutscher Lehrerinnen in England“ ergaben. Für die Migration dieser Frauen nach England sei, so Muhs, zunächst der begrenzte Arbeitsmarkt für Lehrerinnen in Deutschland, dann der Bedarf an Fremdsprachenlehrerinnen ursächlich gewesen. Wiewohl sie kulturelle Gepflogenheiten im Rahmen des Vereins praktizierten und möglicherweise auch kulturelles Wissen nach Deutschland transferierten, veranschlagt Muhs den Einfluß der deutschen Gouvernanten wegen ihrer sozialen Herkunft und ihres eher dürftigen Bildungsgrades als gering.
Das andere Ende der Bildungsskala thematisierte Thomas Weber (Glasgow) in seinem Referat über die deutschen und britischen Studenten in Oxford (1900 – 1914), mit dem er die These vom britisch-deutschen Antagonismus gründlich infragestellte. Nicht nur bildeten die deutschen Studenten die größte Gruppe unter den Fremdsprachlern, ihre Zahl stieg bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs weit überproportional und umfaßte nach regionaler Herkunft alle deutschen Länder in etwa gleichmäßig – mit einer leichten Überrepräsentanz Preußens. Nur ein geringer Teil der Immatrikulationen läßt sich auf das von Cecil Rhodes begründete Stipendienprogramm zurückführen, das speziell die Förderung der Verständigung zwischen den Nationen zum Ziel hatte. Doch zeigt sich am Beispiel der „Anglo-German Society“ und weiterer Vereinigungen einschließlich der Verleihung von Ehrendoktorwürden, daß dieses Ziel breite Zustimmung fand – sowohl bei den Eliten des Wilhelminischen Kaiserreichs als auch denen des British Empire.
Die Rolle eines „advocatus diaboli“ übernahm am zweiten Konferenztag Panikos Panayi (Leicester), der in seinem Überblick über den Einfluß deutscher Immigration auf Großbritannien im 19. Jahrhundert zu dem Schluß kam, daß sich das bleibende Erbe deutscher Einwanderer auf die Einführung von Schweinefleisch, Würsten und Lager-Bier in die Konsumgewohnheiten der Briten beschränke. Weder den von der Forschung gemeinhin anerkannten wirtschaftlichen Einfluß von deutschen Unternehmern auf die britische Industrialisierung noch den kulturellen auf die Ausbreitung und Rezeption klassischer Musik wollte Panayi gelten lassen. Dies war freilich seiner Meßlatte geschuldet. Denn als Vergleichsgröße zog Panayi die durch die Masseneinwanderung nach 1945 bewirkten Transformationen der britischen Gesellschaft, Städtelandschaft, Kultur, Ökonomie und Politik heran. Daran gemessen waren die Auswirkungen deutscher Immigration gering, weil die Zahl der Migranten zu klein, ihre äußere Erscheinung den Briten zu ähnlich, ihre Mittelschichtzugehörigkeit zu offen für eine Assimilierung gewesen sei. In der Diskussion wurde zwar der relativierende Blick begrüßt. Aber ist die Bedeutungslosigkeit deutscher Einwanderung z. B. im religiösen Bereich wirklich aus einer statistischen Aufrechnung von 66 Londoner Moscheen nach 1980 gegen 15 deutsche Kirchen vor 1914 abzuleiten? Ein synchroner Vergleich verschiedener Immigrantengruppen, der sich nicht allein auf das Argument der kleinen Zahl, sondern auch qualitative Gesichtspunkte und die Perzeption der Fremden durch die britischen Zeitgenossen stützt, wäre zweifellos hilfreicher. Zwei Aspekte bleiben für die Erforschung von Transferprozessen festzuhalten: der Faktor der Assimilierung bzw. kulturell distinkten Wahrnehmbarkeit von potentiell Transfer bringenden Migranten und der Faktor des Marktes, der bestimmte Kulturgüter nachfragt, aufnimmt und nicht notwendig danach fragt, wer sie anbietet. Oder als Frage formuliert: Warum haben die verbreitet anzutreffenden deutschen Bäcker in England so wenig und die Metzger und Brauer so viel Einfluß auf die britischen Konsumgewohnheiten gehabt?
Die Konzeption des Kolloquiums hat sich als anregend und fruchtbar erwiesen. Obzwar sie nicht von allen Referenten konsequent aufgegriffen wurde, eröffneten die Fallbeispiele facettenreiche Perspektiven auf ein komplexes Thema. Auf den Tagungsband wird man ebenso gespannt sein dürfen wie auf die geplante Folgetagung.