Die Sowjetunion war ein Vielvölkerreich, das Hunderte verschiedener Ethnien beherbergte. Die Machthaber des Imperiums waren mit den unterschiedlichsten kulturellen Systemen konfrontiert und konnten bei der Entwicklung von Herrschaftskonzepten über diese Vielfalt nicht hinwegsehen. Wenngleich die Bolschewiki offiziell die Überwindung der Nation proklamierten, rückten sie bei dem Versuch, Praktiken und Strategien zu entwickeln, um das Imperium zu strukturieren und zu verwalten, das "Ethnische" in den Mittelpunkt ihrer Agitation. Die traditionelle Forschung betrachtete die Geschichte der Sowjetunion aus russischer Sicht oder untersuchte einzelne Ethnien und Regionen. Sie fragte nicht nach den Begegnungen und den daraus hervorgehenden Dynamiken, welche die Eigen- und Fremdwahrnehmung fortwährend neu konstituierten. Die diesjährige Tagung des Arbeitskreises Stalinismus, welche vom Lehrstuhl Geschichte Osteuropas der Humboldt - Universität zu Berlin in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Institut für Sozialforschung organisiert wurde, wendete sich daher der Bedeutung der Ethnizität im sowjetischen Vielvölkerreich zu.
Im Zentrum der Tagung standen Fragen zu den Prozessen der "Nationalisierung" und "Ethnisierung" von Gruppen, zur Bedeutung der "ethnischen" Komponente im Rahmen der imperialen Inszenierung, zu den interethnischen Beziehungen innerhalb des Vielvölkerreiches sowie zu Fremd- und Selbstzuschreibungen der Ethnizität. Auch damit einhergehenden Phänomene und Auswirkungen wie Indigenisierung (Korenisacija), ethnische Säuberungen und Terror, sollten unter diesem Aspekt erneut in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt werden. Warum, auf welche Weise und wann sich das Konzept der Nation in der Sowjetunion gegen das Konzept der Klasse durchsetzen konnte und inwieweit wir es mit parallelen, schwer voneinander trennbaren Konzepten zu tun haben - dieser Frage wollte man gemeinsam nachspüren.
In einem ersten Beitrag unterstrich Jörg Baberowski die Bedeutung der Ethnizität als Wahrnehmungsmuster. Durch die Erfahrungen im zarischen Vielvölkerreich lebte die Nation in den Köpfen bereits, bevor die Ethnien durch die Bolschewiki erneut erfasst, vermessen, kategorisiert und schließlich hierarchisiert werden konnten - das Ergebnis der bolschewistischen Kategorisierung kann als Ergebnis der schon auf den Erfahrungen des Zarenreiches basierenden Wahrnehmung des "Fremden" gesehen werden, das bereits den führenden Bolschewiki zu eigen war. Auf die einführenden Worte folgte das erste Panel des Tages zum Thema "Imperiale Inszenierungen". Die Beiträge sollten die stalinistische Inszenierung des "Ethnischen" beleuchten. Jan Plamper untersuchte die Inszenierungen des Stalinkultes in ihrer Kontinuität und ihrem Wandel der Repräsentation von Ethnizität. Der bildhafte "Kern Stalins [...] stellte ein metanationales Amalgam dar", das je nach Einsatz mit Symbolen und Elementen der jeweiligen Folklore vermischt werden konnte und in seiner Inszenierung "nationale Elemente" enthielt, jedoch die Sowjetunion repräsentierte. Stalin besaß nach Plamper einerseits eine "persönliche Nationalität" - die georgische - repräsentierte jedoch den Zusammenschluss der Ethnoterritorien selbst und fungierte auf diese Weise als Integrationsfigur für alle Völker der Sowjetunion. Die These von der geradlinigen Entwicklung Stalins vom Freund der kleinen Völker zum russischen Großchauvinisten kann so nicht bestätigt werden. Klaus Gestwa machte in seinem Beitrag über die Technik der Herrschaft und Konstruktion des Sowjetvolkes auf stalinistischen Großbaustellen wiederum deutlich, dass die Großbaustellen, die für ihn als Schnittstellen der Kultur und Wasserköpfe des Zentrums funktionierten, russisch dominiert waren. "Trotz ständiger Rede vom geeinten Sowjetvolk [...] etablierte sich im stalinistischen Technikkult eine klare Hierarchie der Völker und ein eindeutiges Machtgefälle zwischen Zentrum und Peripherie."
Die Diskussion wurde durch einen Kommentar von Malte Rolf eingeleitet, der im Anschluss an die beiden Beiträge darauf drängte, den Zusammenhang von Inszenierung, Nationalitätenpolitik und ethnischen Begegnungen stärker zu beachten. Eine Erweiterung der Sicht von Propaganda, die mehr darstellt als eine Hochglanzinszenierung, müsse zukünftig erfolgen. Rolfs Bemerkungen wurden von den Tagungsteilnehmern kaum aufgegriffen, vielmehr folgten Fragen zum ökonomischen Sinn der Großbaustellen und Kritikpunkte an den Forschungsmethoden. In der Kritik an den Referenten wurde angeregt, weniger die Sicht aus dem Zentrum, als aus der Peripherie zu untersuchen um die ethnische Dimension der Inszenierung und ihre Rezeption wahrnehmen zu können. Im Folgenden wurde eine Debatte über Begrifflichkeiten in Gang gesetzt. Diskutiert wurde, ob man den Begriff des Imperiums nur unter dem Aspekt der Multiethnizität abdecken könne, oder ob Imperium nicht noch mehr bedeute, imperiale Herrschaftspraxis und Eroberungsgedanke mit einschliesse. Jan Plamper bemerkte abschließend, dass man zwar feststellen könne, dass eine Verschiebung von sozialen zu biologischen Kriterien stattgefunden hat, jedoch weiterhin wenig über die Ursprünge der ethnischen Beschreibungen und Kriterien bekannt ist.
Das zweite Panel des Tages war dem Thema "Kulturrevolution und interethnische Beziehungen als Schlachtfeld der Selbst- und Fremdzuschreibungen" gewidmet. Die bolschewistische Fremdzuschreibung hatte in jedem Fall Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung der Ethnien, spätestens in der Phase, als die Eigenschaften der Ethnien von den Bolschewiki nicht nur zugeschrieben, sondern gleichzeitig hierarchisiert wurden und die Völker als "rückständige" und "fortschrittliche", "alte" und "neue" Nationen wahrgenommen wurde. Alle drei Beiträge des Panels richteten ihren Blick auf die Peripherie der Sowjetunion. Gero Fedtke untersuchte die Fremd- und Selbstzuschreibung der Ethnien im Bucharer Gebiet und stellte am Beispiel zweier kommunistischer Führungspersönlichkeiten dar, auf welche Weise persönliche Motive als Antwort auf die sowjetische Nationalitätenpolitik in national-ethnische Sprache verpackt und auf diese Weise eigene Interessen durchgesetzt werden konnten. Die Akteure der Peripherie erschienen somit nicht mehr als reine Objekte der Nationalitätenpolitik, sondern agierten vielmehr innerhalb der von oben vorgegebenen Spielräume zu ihrem eigenen Nutzen.
Julia Obertreis hatte sich vorgenommen, das Bewässerungssystem am Amu-Darja zu untersuchen und stellte im Plenum ihr Forschungsvorhaben vor, mit dem sie sich erhoffte, einen Beitrag zu einer kulturgeschichtlichen, auf dem Konzept der Begegnung aufbauenden, neuen Kolonialgeschichte Zentralasiens zu liefern. David Feest richtete im Anschluss den Blick auf die westliche Peripherie der Sowjetunion. Sein Beitrag widmete sich den nationalitätenpolitischen Wechselwirkungen zwischen der Moskauer Zentrale und der Kommunistischen Partei Estlands. Nach Feest schwankte die Moskauer Politik - entgegen der gängigen These, dass Moskau ab 1934 nur mehr eine assimilatorische "negative" Nationalitätenpolitik unter russischer Vorherrschaft vertrat - zwischen erneuter Indigenisierungspolitik (Neo-korenisacija) und Internationalisierung. Die nationale Frage wurde auch innerhalb der Kommunistischen Partei Estlands rege diskutiert und unterlag, je nach Personalzusammensetzungen, bestimmten Konjunkturen. Ähnlich wie im Vortrag von Gero Fedtke zeigte David Feest Spielregeln, Spielräume und Instrumentarien auf, die den Prozess der Begegnung begleiteten und schloss mit der These, dass nicht nur im Hochstalinismus, sondern auch in der Nationalitätenpolitik der Nachkriegszeit zwischen "guten", dem System nützlichen, und "schlechten", dem System schadenden, Nationen unterschieden wurde.
Wie weitläufig die Handlungsspielräume eingestuft werden können, konnte nicht immer geklärt werden. Offensichtlich besteht ein Zusammenhang zwischen der Größe des Handlungsspielraumes und der hierarchischen Fremdzuschreibung der Bolschewiki, wie aus dem Vergleich der unterschiedlichen Regionen hervorging. Die Wertung des "Ethnischen" unterlag jedoch verschiedener Konjunkturen. Als Ergebnis der Diskussion kann festgehalten werden, dass die Historiker zukünftig ihr Augenmerk auf die Erforschung der Handlungsspielräume und personellen Netzwerke legen müssen. Claudia Weber gab außerdem zu bedenken, dass es kein alleiniges Kennzeichen des sowjetischen Imperiums sei, dass es nicht alle Räume zu durchdringen vermochte und die Forschung die daraus resultierenden Handlungsspielräume zu oft als Widerstandsräume und Antiräume definiere, den Spannungsfeldern jedoch ganz unterschiedliche Konflikte zugrunde lägen.
Das dritte Panel der Tagung befasste sich mit den im Zuge der stalinistischen Politik forcierten Terrorwellen, Säuberungsaktionen und Deportationen. Mit dem Zweiten Weltkrieg überwog die Stigmatisierung von Ethnien gegenüber der Stigmatisierung der sozialen Herkunft. Die Beiträge des Panels fragten somit nach den Motiven dieser Verschiebung. Björn Felders Beitrag über die Sowjetisierung Lettlands 1940/41 beschrieb die sowjetische Nationalitätenpolitik in Lettland als Terrorpolitik, die sich des gesamten, bereits in der Sowjetunion erprobten Instrumentariums gleichsam "auf kleinem Territorium" bediente. Er unterstrich die "biologische Konnotation" von Ethnie und warf die Frage auf, inwieweit die Politik Stalins und Hitlers in Bezug auf den Terror verglichen werden kann. Anders als Felder beschrieb Jörg Ganzenmüller nicht nur die Deportation der deutschen und finnischsprachigen Minderheiten aus dem belagerten Leningrad, sondern stellte darüber hinaus Überlegungen über das "Ethnische in der Weltanschauung der Bolschewiki" an. Am Beispiel der Deutschen zeigte er auf, dass die nationale, "biologische" Zugehörigkeit zwar das alleinige Kriterium zur Stigmatisierung war, allerdings nur, weil die "deutsche Nationalität" eine Chiffre für den Volksfeind darstellte. Auf der Grundlage von Flüchtlingsberichten beschrieb François Guesnet die Situation der jüdischen Flüchtlinge im von den Sowjets besetzten polnischen Grenzgebiet 1939/40. Im Zentrum seines Vortrages stand die Wahrnehmung und Bewertung der Sowjetisierungsmaßnahmen in der "Kresy" durch die Flüchtlinge. Die überwiegende Mehrzahl der jüdischen Flüchtlinge empfand die sowjetische Besatzung als willkürlich und feindlich, nahm die politische Unterdrückung jedoch nicht als Unterdrückung nach ethnischen, sondern nach sozialen Kriterien wahr.
Gábor T. Rittersporn bemerkte in seinem Kommentar, dass uns die sowjetische Besatzungspolitik vor allem über eines Auskunft geben könne - über die Unfähigkeit der Bolschewiki, ein Imperium in seiner klassischen Definition zu bilden, welches das Nebeneinander von Völkern, Institutionen, Vorgehensweisen und die Subsidiarität der Befugnisse lokaler Administrationen und des Zentrums einschließt. Vielmehr weise die stalinistische Herrschaftspraxis einen außergewöhnlichen Drang auf, die Geltung der Spielregeln zu unterbinden, die zur Bildung eines Imperiums führen können. In der an das Panel anschließenden Diskussion wurde vor allem die Frage nach der Wertung und Definition der biologischen Komponente aufgegriffen. So hatten die Bolschewiki zwar einen Begriff von "Rasse" - er war jedoch nicht handlungsleitend, womit die Frage aufgeworfen wurde, was dann als handlungsleitend zu gelten habe. Als Fazit der Diskussion kann festhalten werden, dass sich gerade in diesem Bereich Forschungsdesiderata auftun, sowohl auf die Frage nach der biologischen/sozialen/nationalen Komponente des Feindbegriffes als auch bezüglich der Ursprünge der Feindwahrnehmung, die sich auf die Wissenskultur, biographische Erfahrung oder einfach nur Ignoranz der Bolschewiki zurückführen lassen. Auch hier wird man erneut feststellen müssen, dass nur eine Betrachtung mehrerer Aspekte, die untrennbar miteinander verzahnt sind, zu einem befriedigenden Forschungsergebnis führen können.
Gleich vier Referenten und Referentinnen nahmen im vierten und letzten Panel der Tagung die Sowjetunion als Eroberer 1939-1953 in den Blick. Das sowjetische Vielvölkerreich okkupierte ab 1940 fremde Territorien und weitete seinen imperialen Einflussbereich auf ganz Osteuropa aus. Es stellte sich in diesem Zusammenhang die Frage, inwieweit die angewendeten Eroberungs- und Unterwerfungspraktiken auf den bereits im Umgang mit den Völkern des sowjetischen Imperiums erprobten Strategien zurückzuführen sind und ob diese Praktiken als "stalinistisch" bezeichnet werden können oder Kennzeichen beliebiger imperialer Herrschaftspolitik waren. Karsten Brüggemann stellte in seinem Beitrag Überlegungen zum sowjetischen Estland zwischen Ideologie und Pragmatismus an, untersuchte die Ursachen des Performanz-Problems der Sowjets. Nach Brüggemann wurde die Sowjetisierung eher als "Russifizierung" wahrgenommen. Alexander Heinert griff die Mobilisierung und Internierung deutscher Zivilisten in Ostmitteleuropa 1944/45 auf. Die Stalinisierungskampagnen in der ukrainischen Nordbukowina, in Moldawien und Rumänien untersuchte Mariana Hausleitner und riskierte gleichzeitig einen Blick auf die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, der erst seit 1990 stattfinden konnte. Claudia Weber griff eben dieses Thema in ihren Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der "Stalinisierung" Südosteuropas" auf und kritisierte vehement die Geschichtsaufarbeitung im genannten Raum, die - nach Claudia Weber - selbst für ihr rasches Ende gesorgt hatte. Das "Bild der kommunistischen Machtübernahme wurde als nationale Meistererzählung von Märtyrertum umfunktioniert" und auch die Öffnung der Archive brachte keine Linderung, da man diese Mythen eher zu belegen versuchte als auf postmoderne und kulturgeschichtliche Debatten überhaupt aufmerksam zu machen. Anhand des Beispiels der bulgarischen Volksmilizen zeigte sie exemplarisch, wie fruchtbar neue Herangehensweisen für die Geschichtsforschung und -aufarbeitung im südosteuropäischen Raum sein könnten. In seinem Kommentar fragte Stefan Plaggenborg, ob man den Herrschaftsgedanken nicht über kulturelle Konzepte, über eine mission civilisatrice stellen solle, da sich nach dem Zweiten Weltkrieg und der Herausbildung der bipolaren Welt die Stellung des Sowjetimperiums gewandelt hatte. Unklar blieb auch in der darauf folgenden Diskussion, wie sich die Konzepte der Bolschewiki auf ein Konzept der imperialen Herrschaft überhaupt übertragen lassen.
Benno Ennker fasste in der Abschlussdiskussion noch einmal die in den einzelnen Diskussionsrunden zum Vorschein gekommenen Forschungsdesiderata zusammen. Neben den romantischen und rassistischen Vorstellungen im Ideenhaushalt der Bolschewiki und deren Wissenskultur wisse man noch wenig über die konkrete Wirkungsweise des Ethnischen und noch weniger darüber, wie "Gewalt als Bindeglied zwischen Eroberer und unterworfener Nation fungierte und wie aus der von oben induzierten und der populären Gewalt stalinistischer Staatsterror werden konnte". Offensichtlich wurde, dass es für die Referenten nicht immer leicht gewesen zu sein scheint, ihre Forschung in die übergeordnete Fragestellung nach der "Ethnizität" einzubetten, vor allem die Frage nach der "imperialen Dimension" konnte in den meisten Beiträgen nicht beantwortet werden. Die Tagung legte viele Probleme detailliert dar, Antworten auf die eingangs gestellten Fragen konnten jedoch in den wenigsten Fällen gefunden werden. Dies mag verschiedene Gründe haben, unter anderem, dass sich der illustre Kreis der Stalinismusforscher seit Jahren um die eigene Achse dreht und frischen Windes bedarf. Wünschenswert, und da waren sich alle einig, wäre eine Erweiterung des Kreises auf - zumindest europäische - Dimensionen. Stefan Plaggenborg regte an, dazu überzugehen, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Sein Vorschlag traf auf Zustimmung und man einigte sich darauf, im nächsten Jahr zwar mit der Arbeit im Rahmen des Arbeitskreis Stalinismus fort zufahren, sich selbst jedoch in den Hintergrund zu nehmen, um sich von anderen Disziplinen Anregungen für die eigene Forschung zu holen. Man kann gespannt sein.