In seiner Begrüßung der Teilnehmenden umriß Michael G. Müller (Halle) kurz einige Tendenzen in der Forschung zur Geschichte staatssozialistischer Diktaturen. Nachdem im ersten Jahrzehnt nach der Öffnung der Archive primär die Partei-Staaten und ihre (Repressions-)Apparate erforscht worden seien, plädierte Müller für einen verstärkten gesellschaftsgeschichtlichen Zugriff zur ostmitteleuropäischen Zeitgeschichte. Verständlichweiser sei bei der Aufarbeitung der kommunistischen Diktaturen zunächst die politische Geschichte von primärem Interesse gewesen; nun sei jedoch der Übergang von einer oft investigativen zu einer stärker analytischen Geschichtsschreibung wünschenswert. Vor diesem Hintergrund benannte Müller drei Desiderata: Er wünschte sich eine stärkere historische Grundierung der Transformationsforschung, forderte mehr grenzüberschreitend vergleichende Studien und plädierte für lebendige Interdisziplinarität bei der Analyse von Gesellschaften sowjetischen Typs.
Für den verhinderten Peter Heumos (München) faßte Martin Schulze Wessel (München) die Ergebnisse eines Projektes zur Sozialgeschichte der Industriearbeiterschaft in der CSSR zusammen. In diesem Projekt verbinden sich die klassischen Fragen nach der sozialen Lage und der Organisation der Arbeiterschaft (nach Marx und Weber) mit der Untersuchung kollektiver Identitäten im Anschluß an die Forschungen E.P. Thompsons. Im selbst proklamierten Arbeiterstaat erlebten die tschechoslowakischen Kommunisten kollektives widerständiges Verhalten vor allem von der Industriearbeiterschaft. Auf der Ebene der Betriebe arbeitend, vermag Heumos ferner zu zeigen, wie sehr selbst im tschechischen Stalinismus die Traditionen der Zwischenkriegszeit den Alltag zu prägen vermochten und wie sich bereits im Vorfeld des ‚Prager Frühlings' deutliche Interessenunterschiede zwischen den aus der Intelligenzija stammenden Reformern und den Industriearbeitern abzeichneten. Das Projekt verdeutlicht die Vorzüge einer methodisch reflektierten Arbeitergeschichte zur Analyse von Gesellschaften sowjetischen Typs.
Im zweiten Beitrag des Workshops stellte Matthias Uhl (Berlin/ München) seine Forschungen zur sowjetischen Rüstungsindustrie in der Ära Chruschtschow vor. Zur sowjetischen Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegszeit liegen, wie Uhl betonte, trotz der vergleichsweise guten Quellenlage kaum empirische Arbeiten vor. Dabei handelt es sich hier um einen gewichtigen Beitrag zur Geschichte des Kalten Krieges. Uhl schilderte die Wandlung der sowjetischen Rüstungsindustrie von einem primär auf Zwangsarbeit basierenden System unter Stalin zu einem von hohen Prämien und Vergütungen geprägten und in vielerlei Hinsicht privilegierten militärisch-industriellen Komplex in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der Kalte Krieg und das sowjetische Selbstverständnis forderten eine ständige Aufstockung der Ressourcen für die Rüstung; gleichzeitig entwickelten sich auch in diesem Bereich die für die sowjetische Herrschaft charakteristischen informellen Netzwerke und persönlichen Beziehungen, die häufig einen größeren Einfluß auf Planung und Entscheidungsfindung hatten als das Militär oder die Wirtschaftsbürokratie.
Friederike Sattler (Halle/ Saale) referierte anschließend die Ergebnisse ihrer betriebssoziologischen vergleichenden Studie über die Leuna- und Bunawerke in Mitteldeutschland. Ähnlich wie bei Peter Heumos stellt sich auch hier die Frage, wie in der staatssozialistischen Diktatur Arbeitskonflikte gelöst wurden. Durch den Vergleich der älteren Leunawerke mit dem im Nationalsozialismus gegründeten Buna kann auch hier gezeigt werden, welch entscheidende Rolle ältere gewerkschaftliche Traditionen für das Konfliktverhalten der Arbeiter spielten. Nach dem eruptiven Ausbruch im Juni 1953 läßt sich auch hier ein Trend zum informellen Arrangement zwischen Betriebsleitung und Belegschaft konstatieren.
Anschließend stellten Gordon Milligan und John Eidson (beide Halle/ Saale) zwei anthropologische Projekte zum ländlichen Raum in der ehemaligen DDR vor. Am Beispiel eines Dorfes in Vorpommern und des Landkreises Leipziger Land soll hier erforscht werden, wie die Bevölkerung zunächst auf die massiven Eingriffe und Zumutungen kommunistischer Herrschaft reagierte und wie sich das ländliche Leben nach der ‚Wende' von 1989 gestaltete. Dabei lassen sich in der stark fragmentierten und durchherrschten Gesellschaft der DDR verschiedene Typen und Handlungsweisen im Umgang mit der Macht und mit den Modernisierungsprozessen auf dem Lande isolieren.
Den zweiten Tag eröffnete Jerzy Kochanowski (Warschau) mit einem Arbeitsbericht aus seinem Projekt zum Schwarzmarkt, indem er den Schwarzmarkt für Fleisch in ‚Volkspolen' vorstellte. Da nur so eine notdürftige Versorgung der Bevölkerung sichergestellt werden konnte, entwickelte sich in den economics of shortage (János Kornai) der kommunistischen Diktatur über Jahrzehnte hinweg ein komplexes System des ‚illegalen' Handels zwischen Stadt und Land. Trotz permanenter partei-staatlicher Propaganda und phasenweise massiver Repressionen gegen die ‚Spekulanten' - noch 1963/64 schreckte man vor Todesurteilen nicht zurück - gelang es dem Regime zu keiner Zeit, den Tausch- und Schwarzhandel zu unterbinden. Anschließend berichtete Olaf Mertelsmann (Hamburg) anschaulich über den Sowjetisierungsprozeß in Estland, das nach dem Zweiten Weltkrieg von der UdSSR erneut annektiert wurde. Trotz des Durchherrschungs- und Sowjetisierungsanspruchs des Apparats waren die Ergebnisse dieses Prozesses oft widersprüchlich.
Marketa Spiritova (München) berichtete über erste Ergebnisse ihrer volkskundlichen Studie zur Biographie verfolgter Intellektueller in der CSSR der ‚Normalisierungsperiode'. Nach der Niederschlagung ‚Prager Frühlings' kam es insbesondere unter der Intelligenzija zu einer großen ‚Säuberung', deren Ergebnis für viele Betroffene Berufsverbot, soziale Degradierung und gesellschaftliche Stigmatisierung bedeuteten. Frau Spiritova untersucht, wie es den Verfolgten gelang, im Staatssozialismus Parallelwelten aufzubauen, eigene Netzwerke zu etablieren und (Über-)Lebensstrategien zu entwickeln. Während es einigen Oppositionellen erstaunlicherweise gelang, eine zweite Karriere als ‚sozialistische Unternehmer' aufzubauen, zeitigte die Verlagerung der politischen Repression in die private Lebenswelt ihre Opfer unter denjenigen, die beispielsweise die Flucht in den Alkohol dem Aufbau einer Gegenwelt vorzogen. Nach dem Ende des Regimes gelang vielen die Rückkehr in die Welt der Verlage und Universitäten; häufig mußten sie nun jedoch neben jenen systemkonformen Kollegen arbeiten, die an ihrer Verfolgung beteiligt waren oder von ihr profitiert hatten.
Abschließend stellte Zofia Wóycicka (Warschau) ihre Arbeit über die Gestaltung der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau in den Jahren 1945-1956 vor: In kommunistischer Manier kam es in Auschwitz nach dem Krieg zu einer ‚Heroisierung der Opfer', die tendenziell mit einer Nivellierung der jüdischen Opfer des Vernichtungslagers einherging. Frau Wóycicka betonte jedoch, daß die Erinnerungskultur des kommunistischen Polen keineswegs so monolithisch gewesen sei, wie dies häufig unterstellt werde. In dem von ihr untersuchten Zeitraum ließen sich vielmehr verschiedene Schwerpunkte und unterschiedliche Sinngebungsstrategien deutlich unterscheiden. Nach dem Ende des Stalinismus läßt sich seit Mitte der fünfziger Jahre der Beginn einer Konkurrenz verschiedener ‚Erinnerungsgruppen' um die Deutungshoheit in der Gedenkstätte beobachten.
In der Schlußdiskussion kamen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf grundlegende Probleme einer Gesellschaftsgeschichte kommunistischer Diktaturen zu sprechen. Es bestand Einigkeit darüber, daß die Forschung auch heute solche grundlegenden Fragen wie: ‚"Wie funktionierte eine sozialistische Gesellschaft?" nur unvollkommen beantworten kann und daß weitere Anstrengungen insbesondere im Rahmen der vergleichenden und der interdisziplinären Forschung notwendig seien. Dabei gelte es, verschiedene Theorieangebote fruchtbar zu machen, ohne jedoch aus dem Auge zu verlieren, daß man bei der Untersuchung der ‚Lebenswelten' in der kommunistischen Diktatur stets mitdenken solle, daß ein Primat des Politischen existierte. Durch den Vergleich und weitere Anstrengungen auf der Mikro- und der Makroebene dürfte es gelingen, ähnliche gesellschaftliche Strukturen aufzuzeigen und verschiedene nationale Entwicklungspfade im sowjetischen Block in den Blick zu nehmen. Mit ihrem heterogenen Programm und ihren fruchtbaren Diskussionen hat die Tagung am Herder Institut sicher dazu beigetragen, daß die Gesellschaftsgeschichte der ‚Volksdemokratien' in den nächsten Jahren eines der spannendsten und innovativsten Felder der osteuropäischen Geschichte bleiben wird.