Orte der Elitenvergesellschaftung: Ostmitteleuropa im langen 19. Jahrhundert

Orte der Elitenvergesellschaftung: Ostmitteleuropa im langen 19. Jahrhundert

Organisatoren
Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas Leipzig/GWZO
Ort
Pardubice
Land
Czech Republic
Vom - Bis
18.09.2003 - 21.09.2003
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Von
Silke Röttger, Universität Leipzig

Gesellschaftliche Eliten gründen sich auf den Besitz materieller und immaterieller Ressourcen sowie auf ihr elitäres Selbstbewußtsein und dessen Akzeptanz durch andere. Das Elitenverständnis ist aber innerhalb einer Gesellschaft ständigen Wandlungen unterworfen. Ein solcher Wandel vollzog sich in Mittel- und Ostmitteleuropa, als der Übergang von Stände- zu Nationalgesellschaften eine Revision der überkommenen Gesellschaftsstrukturen mit sich brachte. Welche gesellschaftlichen Gruppen begannen, Anspruch auf einen Elitenstatus zu erheben? Welche Strategien des "Obenbleibens" entwickelten etablierte Eliten, und wie legitimierten sie ihrerseits ihre Ansprüche angesichts konkurrierender Modelle sich neu formierender Kreise, die ihre Position in Frage stellten, wie z.B. das Stadtbürgertum, die Naturwissenschaftler oder die sich allmählich herausbildenden politischen Parteien? Welche Staats- und Gesellschaftsmodelle wurden in der Übergangszeit entworfen, welche setzten sich schließlich durch? Gab es Wechselwirkungen? Mit diesen von Mathias Mesenhöller (Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas Leipzig/GWZO) im Eingangsreferat formulierten Leitfragen beschäftigte sich eine von der GWZO-Projektgruppe "Elitenwandel" veranstaltete internationale Tagung vom 18. bis 21. September 2003 in Pardubice (Ostböhmen) zum Thema "Orte der Elitenvergesellschaftung: Ostmitteleuropa im langen 19. Jahrhundert". Indem sich jedoch die betrachteten Orte nicht auf Ostmitteleuropa beschränkten, vielmehr von Rußland bis nach Frankreich reichten, wurde dem komparatistischen Ansatz des Projekts Rechnung getragen, das davon ausgeht, daß die untersuchten Fragestellungen nicht nur für Ostmitteleuropa relevant sind. Der Begriff des "Ortes" wurde nicht nur im streng physischen Sinne verstanden, sondern umfaßte auch Institutionen.

Mesenhöller sprach bereits die Problematik von Kollektivsingularia wie "Adel" und "Bürgertum" an: Die enorme Heterogenität der unter diesen Etiketten zusammengefaßten Akteure gehe bei einer solch strikten Simplifizierung verloren. Dementsprechend stellte die Diskussion stets die Akteure in den Mittelpunkt und klassifizierte sie nicht in "alte" und "neue" Eliten, sondern betrachtete sie immer im Kontext der sich wandelnden Räume ("Orte"), an denen über Zugang zu Führungspositionen und Elitenstatus verhandelt und entschieden wurde.

Während der ersten Sektion der Tagung stand der Hof als Ort der Elitenvergesellschaftung im Mittelpunkt. William D. Godsey (Österreichische Akademie der Wissenschaften) stellte mit dem Wiener Kaiserhof zwischen 1789 und 1848 ein Beispiel großer Beharrungskraft der konservativen alten Eliten vor. Der ansonsten stark abgeschlossene Wiener Hof bewies gegenüber ausländischen Hochadligen, die vor der Französischen Revolution nach Wien geflohen waren, Offenheit und Assimilationsbereitschaft, wurde aber gerade durch deren Integration zum Hort des Konservatismus und der Gegenrevolution - Ideologien, die das Narrativ der Gegenreformation als gemeinsamen identitätsstiftenden Hintergrund ablösten.

Peter O. Loew (Deutsches Polen-Institut Darmstadt) kontrastierte diese innerhöfischen Prozesse mit der Formierung und Ritualisierung bürgerlichen Selbstbewußtseins gegenüber dem Königshof am Beispiel der Feste, die das Breslauer Bürgertum anläßlich königlicher Besuche in der Stadt veranstaltete. Wirklichen Kontakt zum Monarchen gab es bei diesen Festen kaum; umso auffälliger ist es, daß die Bürger Breslaus keinen Aufwand scheuten, um vor dem König und dem ihn begleitenden Hochadel in bewußter Abgrenzung Selbstbewußtsein und Anspruch auf Elitenstatus zu demonstrieren.

Nach diesem Auftakt zogen sich "Adel" und "Bürgertum" mit zahlreichen Überschneidungen und Berührungspunkten - mal kooperierend, mal sich voneinander abgrenzend - durch die gesamte Tagung. Der zweite Teil behandelte die Partizipation verschiedener gesellschaftlicher Gruppen an der (Staats-)Macht. Partizipation wurde dabei nicht nur als legislative bzw. beratende Repräsentation, sondern auch als Teilhabe an staatlicher Macht in Verwaltung und Militär definiert. Monika Wienfort (Universität Bielefeld) beleuchtete die Rolle von Adligen in der preußischen Justiz, einer in der heutigen Forschung, aber auch von den Zeitgenossen oft als "bürgerlich" apostrophierten Sphäre. Die Aufweichung adliger Privilegien ging wegen der hohen Kosten der Patrimonialgerichtsbarkeit durchaus im Einvernehmen mit dem Adel vor sich. Schmerzlos war der Prozeß auch deshalb, weil schon vor ihrer Aufhebung die Patrimonialgerichtsbarkeit, da sie an den Boden und nicht an den Status seines Besitzers geknüpft war, gelegentlich von Nichtadligen ausgeübt worden war. Weil der Gerichtsbesitz aber dennoch als Adelsprivileg wahrgenommen wurde, konnte seine Abschaffung im Zuge der Revolution von 1848 als bürgerlicher Sieg gedeutet werden.

Einen auch von ihnen selbst als solchen empfundenen Statusverlust erlitten dagegen die polnischen Adligen durch die Ver(staats)bürgerlichung des polnischen Militärwesens in der für Polen innen- und außenpolitisch dramatischen Zeit zwischen 1764 und 1830, wie Claudia Kraft (Deutsches Historisches Institut Warschau) zeigte. Angesichts der äußerst gefährdeten Lage der alten Adelsrepublik gab es vielfältige Bemühungen, ihre Verwaltung und Verteidigungsfähigkeit effizienter zu gestalten. Zu diesem Zweck sollten alle Staatsbürger durch Partizipationsrechte in den Staat eingebunden werden, und der Militärdienst, vormals der Inbegriff adligen Selbstverständnisses, wurde durch die Entstehung von Bürgerwehren in den Städten sowie die von König Stanis?aw August Poniatowski gegründete "Ritterschule" und weitere Gründungen nach ihrem Vorbild zusehends zu einem Aufstiegskanal für Bürgerliche und verarmten Kleinadel.

Josef Matzerath (Technische Universität Dresden) machte am Beispiel des sächsischen Landtags deutlich, daß der Adel im 19. Jahrhundert nicht als politisch einheitliche Sozialformation auftrat. Im Landtag gaben sich die Adligen nun als Vertreter des Gemeinwohls, nicht als Agenten ihrer Herkunftsgruppe. Sie nahmen keinen einheitlichen Standpunkt ein, der sich aus einem gemeinsamen sozialen Hintergrund ableiten ließe. Der Adel formierte sich also im sächsischen Landtag "quer" zur gesellschaftlichen Schichtung. Bei gleichzeitiger Tendenz zu wirtschaftlicher Ungleichheit auch innerhalb des Adels entstand so ein komplexes Bild, in dem der Adel sich nicht nur sozial differenzierte, sondern sich auch in unterschiedlichen weltanschaulichen und politischen Lagern positionierte.

Eine ähnliche Überwindung altständischer Strukturen konstatierte Karsten Holste (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg/GWZO) für die brandenburgischen Provinziallandtage am Vorabend der Revolution von 1848. Hierbei handelte es sich strenggenommen schon nicht mehr um ständische Repräsentationsorgane, da zu ihrer Bildung auf Besitz- und Berufskriterien zurückgegriffen wurde. Umso mehr trugen sie dazu bei, eine neu zusammengesetzte, mit parlamentarischen Formen vertraute politische Elite auszubilden. Die Provinziallandtage hatten nämlich lediglich beratende Funktion, und Beschlüsse mußten, damit sie überhaupt gehört wurden, möglichst einstimmig, d.h. ohne Standesrücksichten, gefaßt werden.

Die starre Kategorisierung in Bürgertum und Adel griff nicht nur in der Sphäre der Politik, sondern auch in der Geselligkeit immer weniger, wie die dritte Sektion über die "Aushandlung und Neudefinition von Konventionen", und hier insbesondere zwei Vorträge von Charlotte Tacke (Universität Bielefeld) und Andreas Mai (Universität Leipzig) zeigten. Charlotte Tacke analysierte die Verbürgerlichung der als adliges Vergnügen wahrgenommenen Jagd, Andreas Mai die Aneignung der Idee der Kurreisen durch das Bürgertum. Die Deutungshoheit über die gewandelten Inhalte der Jagd und der Kurreisen ging nun nicht zuletzt auf Naturwissenschaftler, Ärzte und Hygieniker über, die sich um eine wissenschaftliche Legitimierung und Untermauerung der Konstrukte bemühten und bei der Ausweitung der teilnehmenden Kreise eine Mittlerrolle einnahmen. In beiden Fällen rückten etablierte und aufsteigende Eliten angesichts gemeinsamer Feindbilder zusammen: Bei der Jagd waren das der in den Jagddiskurs nicht eingeweihte "Schießer" und "Fleischmacher", in den Kurbädern der lärmende Tagesausflügler und die Juden. Der deutsche "Bäderantisemitismus", der jüngst in den Blickpunkt der Forschung geriet, erreichte einen Höhepunkt in den 1920er Jahren.

Die vierte Sektion schließlich widmete sich verschiedenen Formen des "Arbeitens an den Lebenschancen". Monika Kubrova (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) untersuchte anhand des steigenden Eintrittsalters die sich wandelnden Funktionen des 1703 gegründeten niederadligen Damenstifts in Halle. Bis etwa 1860 lag das durchschnittliche Eintrittsalter unter 40 Jahren, das heißt das Stift fungierte als Ort standesgemäßer Lebensführung für unverheiratete adlige Frauen, in der die Damen Netzwerkarbeit für ihre Familien betreiben konnten, und besaß somit "Elitepotential", zumal stets die Möglichkeit bestand, auszutreten um zu heiraten. Im Laufe der Zeit jedoch wandelte sich das Stift zu einer "Altersversorgungsanstalt", in die die Frauen zur individuellen Alterssicherung erst nach langer Berufstätigkeit im Alter von 50-60 Jahren eintraten. Es wurde also von einem Ort der Elitenvergesellschaftung zunehmend zu einem Rückzugsort.

Ein Beispiel großer Beharrungskraft stellte Witold Molik (Adam-Mickiewicz-Universität Posen) mit dem 1861 in Posen gegründeten Zentralen Landwirtschaftsverein (Centralne Towarzystwo Gospodarcze, CTG) vor. Hier nutzte der polnische Landadel angesichts des Absinkens des "Ortes", an dem er als Stand Einfluß ausüben konnte, die neue Organisationsform des Vereins, um weiterhin korporativ seine eigenen Interessen und damit auch seine Identität zu verteidigen, für die das Landleben eine sehr wichtige Rolle spielte. Das gesellschaftliche "Obenbleiben" wurde also in diesem Fall durch einen erfolgreich vollzogenen Ortswechsel ermöglicht.

Die in den Vorträgen behandelte Heterogenität der Interessen, das komplexe Ineinandergreifen der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen, die Vielzahl der Akteure, die auf einem Feld zusammenarbeiteten, auf dem nächsten aber sich voneinander abgrenzten, machen den Gebrauch der Kollektivsingularia "Adel" und "Bürgertum" für das 19. Jahrhundert problematisch. Diese These hatte schon Mathias Mesenhöller in seinem Einführungsreferat aufgestellt, und Michael G. Müller von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Leiter der GWZO-Projektgruppe, betonte sie noch einmal in seinem abschließenden Fazit. Im Titel der Konferenz bewußt vermieden, erwies sich jedoch im Verlauf der Diskussion, daß insbesondere die Kategorie "adlig" zur Analyse dieses Zeitraums nicht aufgegeben werden kann. An vielen der besprochenen "Orte" bestand nämlich ein adliges Selbstverständnis und -bewußtsein der vormals im Sinne der Ständegesellschaft einheitlichen Adelsschicht noch lange fort. Die Wahrnehmung bestimmter Institutionen, vor allem natürlich des Hofes, aber auch z.B. der Patrimonialgerichtsbarkeit in Preußen als "adlig" trug dazu bei, daß das Konzept der Adligkeit nicht gänzlich durch andere Modelle verdrängt wurde. Um ihren Erhalt und den Fortbestand ihrer Abgrenzung von anderen Gruppen zu sichern, bediente sich die alte Sozialformation und Traditionsgemeinschaft des Adels teils simpler Abwehrstrategien (indem zum Beispiel das polnische Militär die neuen Bürgermilizen nicht anerkannte und ihnen "richtige" Uniformen verweigerte), teils trat sie die Flucht nach vorn an und eignete sich neue, als "bürgerlich" wahrgenommene Orte wie das Vereinswesen an. Die Vorträge machten aber auch deutlich, daß nirgends ein frontaler Kampf zwischen Adel und Bürgertum ausgefochten wurde. Der Adel behauptete zwar an vielen Orten seine Dominanz, mußte aber dabei große Anpassungsleistungen erbringen und konnte oftmals die ihm verbleibenden Foren nicht ausschließlich für seine Zwecke nutzen, zumal er keine einheitlichen Interessen vertrat.

Das Ergebnis der Pardubicer Tagung ist also ambivalent. Einerseits waren sich alle Teilnehmer in der Ablehnung der unkritischen, starren Verwendung des Begriffs "Adel" einig, da es sich um einen Quellenbegriff der nunmehr im Auflösen begriffenen Ständegesellschaft handelt und das Agieren der so bezeichneten Gruppen im 19. Jahrhundert nicht auf einem Konsens beruht. Andererseits wurde in der Diskussion klar, daß die Analyse dieser Epoche und des Handelns ihrer Akteure ganz ohne die Kategorien "adlig" und "bürgerlich" ebenfalls nicht auskommt. Ob es sich bei "Adligkeit" im 19. Jahrhundert um ein lebloses Konstrukt handelt, oder der Begriff das Hauptmerkmal einer tatsächlich existierenden, mehr oder weniger geschlossenen Sozialformation beschreibt, blieb auf der Tagung also letztlich unbeantwortet. Je nach Betrachtungswinkel und Fragestellung können beide Auffassungen zugrundegelegt werden.

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