Vier "Schlüsseljahre" - Inhalt und Architektur der Tagung
"Eine naive Vorstellung wäre es, dass Dramatik und Häufigkeit des Erinnerns mit der zeitlichen Entfernung vom katastrophischen Ereignis abnimmt" 1 - die Signatur des Gedenkjahres 2003 scheint diese Feststellung Helmut Dubiels einmal mehr zu bestätigen: Die gegenwärtige Omnipräsenz beispielsweise des Luftkriegs in der deutschen Öffentlichkeit, die Heftigkeit der Debatten um seine moralische Bewertung aber auch um die adäquate Charakterisierung des "Arbeiter-" oder "Volksaufstandes" von 1953 sind bemerkenswerte Indizien für eine nach wie vor intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit des 20. Jahrhunderts 2.
Die Tagung der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) Ende Oktober 2003 zu vier "Schlüsseljahren der hamburgischen und deutschen Geschichte" - 1923, 1933, 1943 und 1953 - erhielt nicht zuletzt aus dieser gegenwärtigen kontroversen Erinnerungskultur entscheidende Entstehungsimpulse: In Hamburg war der sechzigste Jahrestag der "Operation Gomorrha", der alliierten Bombardierungen im Sommer 1943, Anlass für umfangreiche Gedenkfeiern, zahlreiche Ausstellungen und Veröffentlichungen. Die abschließende Podiumsdiskussion der Tagung im Hamburger Rathaus (unter der Schirmherrschaft der Hamburger Bürgerschaft und des Senats) wurde nicht zufällig von Bürgerschaftspräsidentin Stapelfeldt als "Abschluss des Gedenkjahres" in Hamburg bezeichnet.
Diese Tagung war freilich nicht nur Folge des Gedenkjahres, sondern in gewisser Hinsicht auch sein Korrektiv, wie Axel Schildt (Hamburg) in seiner Eröffnungsansprache deutlich machte: Der weit gefasste zeitliche Horizont von 1923 bis 1953 entsprach insofern der in der Tagungseinladung geforderten Kontextualisierung der historischen Ereignisse, der Forderung, "das »Dritte Reich« in die Geschichte des 20. Jahrhunderts" einzuordnen - eine Einbettung, die der öffentliche Diskurs mit seinen verbreiteten "städtischen Opferdiskursen" (Schildt) hingegen häufig vermissen lasse. Die »Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg« (bis 1997 »Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus«) proklamiert seit längerem eine weite Perspektive auf das 20. Jahrhundert und überschreitet mit ihren Forschungsbeiträgen und laufenden Projekten bewusst geläufige politische Zäsuren wie 1933, 1945 oder 1949.
Ein zweiter Aspekt der Tagung betraf die vergleichende Perspektive: Im Gegensatz zu einem regional- oder stadtgeschichtlichem Ansatz, der bestenfalls zu einer "Hamburgensie", einer Regionalgeschichte der Hansestadt führen könnte, zeigte das nationale, ja internationale Spektrum der Beiträge aus den Niederlanden, aus Dänemark, Polen und Japan den komparatistischen Ansatz der Tagung.
Unter diesen beiden Prämissen, dem inhaltlichen Fokus auf dem "katastrophischen Teil des 20. Jahrhunderts" seit den 20er Jahren und der stadtgeschichtlich-vergleichenden Perspektive, bot die Tagung mit vierzehn Vorträgen in vier Sektionen zwei Tage lang Gelegenheit zu einer ebenso vielschichtigen wie kontroversen geschichtswissenschaftlichen Standortbestimmung der vier Schlüsseljahre des 20. Jahrhunderts.
I. Sektion: 1923
Bereits der erste Vortrag der Tagung, Ursula Büttners (Hamburg) Untersuchung der "Hyperinflation und Hyperkrise" in der Weimarer Republik, verwies dabei auf das grundlegende Spannungsfeld bei der Beschäftigung mit "Schlüsseljahren" zwischen geschichtswissenschaftlicher Grundlagenforschung und erinnerungskulturellen Deutungsmustern: Dem kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik hat sich 1923 vor allem als "katastrophisches Urereignis" eingeprägt. Büttner hob allerdings hervor, dass nicht nur neue Forschungsbeiträge, sondern bereits Zeitgenossen die positiven Faktoren der Inflation für die wirtschaftliche Restituierung nach 1918 gesehen haben: Der Hamburger Bürgermeister Petersen sprach in den 20er Jahren sogar von der "Notwendigkeit der Inflation" für den Wiederaufbau.
Gleichwohl sorgte die Inflation für eine Verstärkung sozialer Ungleichheit und tiefgreifende Versorgungsschwierigkeiten, die sich nicht zuletzt in Hamburg in gewaltsamen Ausbrüchen entlud: Nach spontanen Streiks und folgender Werftaussperrung kulminierte die Unzufriedenheit im Oktober 1923 im »Hamburger Aufstand« der KPD.
Aus diesen Krisenerscheinungen leiten sich allerdings erst in der Retrospektive - beeinflusst von dem ebenso beliebten wie falschen Konglomerat aus Inflation 1923 und Weltwirtschaftskrise 1929 - deutliche Vorzeichen der späteren Katastrophe nicht zwangsläufig ab: Mit Blick auf das meist einfallsreiche und pragmatische Krisenmanagement könne man für Anfang der zwanziger Jahre eher von einer erstaunlichen Stabilität der Weimarer Demokratie sprechen.
Nach Büttners Ausführungen über die Hamburger Krisenbewältigung lenkte Stefan Goch (Gelsenkirchen) den Blick auf das Ruhrgebiet 1923. Im Gegensatz zur Handelsregion Hamburg sah sich das Ruhrgebiet mit seiner kriegswichtigen Industrie nach 1918 tiefgreifenden strukturellen Problemen ausgesetzt. Eine Zuspitzung erfuhr die Lage mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch Frankreich, die neben wirtschaftlichen auch zu mentalen Veränderungen führte. Goch konnte an alltagsgeschichtlichen Beispielen nachweisen, dass die Besatzungspolitik zu einem starken nationalen Impuls innerhalb der Arbeiterschaft führte: So gerieten Beerdigungen für in Unruhen getötete Arbeiter nicht selten zu öffentlichen Demonstrationen gegen die Besatzung mit bis zu 3.000 Teilnehmern. Als weitere Folge der Besatzungspolitik beschrieb Goch die Entstehung einer eigentümlichen Solidarität zwischen Betriebsführung und Belegschaft: Nach der Beurlaubung unkooperativer Industrieller durch die Besatzungsbehörden sei es demnach zu Streikaktionen der Arbeitnehmer für eine Wiedereinsetzung ihrer Arbeitgeber gekommen - insgesamt spiegeln sich in diesen Krisenphänomenen u.a. Entwurzelungsprozesse der Arbeitermilieus im Ruhrgebiet der zwanziger Jahre, die nicht nur wegen eines bis heute wirkenden "Strukturwandels", sondern auch in Hinblick auf das Schlüsseljahr 1933 bedeutsam erscheinen.
Ähnlich wie Büttner führte auch Martin Geyers (München) Weg in die Vergangenheit über die Erinnerungskultur: Die Signatur des Jahres 1923 sei bis heute in erste Linie geprägt durch eine "Geschichte der Opfer", in der sich zwei Erzählmuster, die Krise der Inflation sowie die Besetzung des Ruhrgebiets, zu einer "Verlierergeschichte" verbänden.
In dieser Signatur 1923 bilde München wiederum eine spezifische politisch-kulturelle Chiffre: Schon in der Weimarer Republik wurde "München" mit lokalem Separatismus, Untertanengeist und einer spezifischen reaktionären Beharrungskaft in Verbindung gebracht. Den in den zwanziger Jahren propagierten "Marsch auf Berlin" verstand Geyer in dieser Hinsicht nicht nur als konkrete politische Programmatik, sondern auch als Ausdruck zeitgenössischer rivalisierender Ordnungsvorstellungen zwischen München und der Reichshauptstadt: Auch der tatsächliche Versuch eines "Marschs auf Berlin" könne insofern unter erinnerungskulturellen Gesichtspunkten analysiert werden: Zwar führte der Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 kurzfristig eher in eine politische Sackgasse; mit zunehmender medialer Präsenz durch die Etablierung einer Erinnerungstradition, eines parteispezifischen Kultes, dem alljährlichen Gedenken an die "Blutzeugen der Bewegung" erhielt die NSDAP allerdings eine soziokulturelle Basis, so dass man von 1923 als dem "eigentlichen Gründungsjahr der NSDAP" sprechen könne.
II. Sektion: 1933
Im Gegensatz zu 1923 ist das Jahr der Machtergreifung nach wie vor präsent im kollektiven Gedächtnis und vielinterpretierter Gegenstand der Forschung. Detlef Schmiechen-Ackermann (Magdeburg) zeigte in seinem Vortrag die Möglichkeit, die »Machtergreifung« unter einer soziokulturellen Perspektive als Prozess der "Besetzung von »sozialem Gelände«" in deutschen Großstädten zu erklären: Von entscheidender Bedeutung für die Machtergreifung und die Stabilisierung des NSDAP-Wählerpotenzials sei die symbolische "Besetzung" von Stadträumen gewesen, erst die Steigerung öffentlicher Präsenz der NSDAP in Stadtteilen, eine "sozialräumliche Eroberung" städtischer Milieus habe das Wahlverhalten entscheidend beeinflusst. Hannover, ein Fallbeispiel mit hoher Repräsentativität, zeige beispielhaft Prozesse und Instrumente dieser "Machtergreifung": Nach Ausbau und Professonialisierung der Parteistruktur sei zunächst das bürgerlich-protestantische Milieu erobert worden: Ab 1929 etablierten sich in entsprechenden Stadtteilen NS-Lokale, Aufmärsche in den Straßen demonstrierten zusätzlich die "symbolische Macht" der NSDAP. Mit der Übernahme sozialistischer Organisationsformen und der Etablierung von SA-Sturmlokalen in Arbeitervierteln habe die räumliche Eroberung ausgehend vom protestantischen Milieu nun auch im proletarischen Milieu Fuß fassen können.
Abgesehen von den beiden "Sonderfällen" Berlin und München stellte sich die Situation in überwiegend katholisch geprägten Städten allerdings grundlegend anders dar: In "Drei-Lager-Städten", also Städten mit proletarisch, protestantisch und katholisch geprägten Milieus, ließe sich zum einen vereinzelter Widerstand oder Resistenz von katholischer Seite nachweisen, vor allem aber vertrat der Katholizismus häufig eine antisozialistische Position, die der NSDAP ihr Profilierungspotenzial raubte.
Arno Herzig (Hamburg) führte die von Schmiechen-Ackermann vorgetragenen Überlegungen in "ereignisgeschichtlicher Ausprägung", am Beispiel Breslaus weiter: Herzigs Untersuchung über die "Machtergreifung" in der Stadt Breslau zeigte beispielhaft an dem so genannten "Fall Cohn" die Etablierung der NSDAP als langfristigen Prozess, der auf bestehenden mentalen Voraussetzungen aufbauen konnte: Die Verdrängung des jüdischen Ordinarius Cohn aus der juristischen Fakultät war nicht nur das Ergebnis protestierender NS-Aktivisten, sondern vor allem Folge eines mangelnden Rückhalts Cohns im Breslauer Bürgertum. Trotz des äußerst brutalen Auftretens der SA erhielt die NSDAP unter den Arbeitslosen und im protestantischen Milieu seit Anfang der 30er Jahre starken Zuspruch. Die faktische Gleichschaltung der Stadt und die Ernennung des NSDAP-Bürgermeisters im März 1933 sind insofern als Höhepunkte einer schon früh einsetzenden Etablierung der NSDAP zu charakterisieren.
Mit dem Fokus auf Veränderungen der "medialen Öffentlichkeit" in Hamburg 1933 untersuchte Karl Christian Führer (Hamburg) einen spezifischen Bereich des Ereignisses - mit der Frage nach einer "Revolutionierung" der Medien wurde andererseits der Zeitraum "Machtergreifung" als langfristiger Zeitraum begriffen: Bis Ende der 30er Jahre, blieb das NS-Organ "Hamburger Tageblatt" hinsichtlich der Auflagenzahlen weit hinter den bürgerlichen Blättern zurück. Aus diesem Phänomen ließe sich allerdings kaum auf eine breite Ablehnung der NS-Propaganda oder gar des NS-Regimes zu schließen. Naheliegender erscheint Führers Interpretation, dass die auflagenstarken bürgerlichen Blätter bereits 1933 weitgehend "nazifiziert" gewesen seien - ihre traditionell nationale Orientierung dürfte diese inhaltliche Angleichung begünstigt haben. Das DNVP-nahe Blatt, die "Hamburger Nachrichten", hatte beispielsweise bereits 1932 einen Kurswechsel zur NSDAP vollzogen. Von einer "Revolutionierung der medialen Öffentlichkeit könne letztlich zwar nicht gesprochen werden, die Folgen dieser Selbstgleichschaltung hingegen erwiesen sich als tiefgreifend: Die Nachrichtenmonokultur und Meinungskonformität der Hamburger Zeitungslandschaft half entscheidend mit bei der Inszenierung Hamburgs als einheitliche "Volksgemeinschaft".
III. Sektion: 1943
Die gegenwärtige Bombenkriegsdebatte nahm Frank Bajohr (Hamburg) zum Anlass für einen differenzierten Blick auf den Zusammenhang zwischen den Bombardierungen deutscher Städte und einem Einstellungswandel in der betroffenen Bevölkerung. Besonders Jörg Friedrichs These, die Bombardierungen seien kontraproduktiv gewesen, ja sie hätten zu einer "zweiten Machtergreifung" 3 geführt, konnte Bajohr auf Grundlage seiner Forschungen zu Hamburg im Jahr 1943 energisch widersprechen: Tatsächlich nämlich lockerten die Bombardierungen die Bindung zwischen Bevölkerung und NS-Regime erheblich, wie Bajohr an drei entscheidenden Faktoren nachweisen konnte:
Erstens führten die erfolgreichen Luftangriffe zu einer tiefen Legitimationskrise des NS-Regimes. Das Charisma des "Führers" wurde seit 1943 ebenso demontiert wie der nationalsozialistische "Stärkenimbus" überhaupt: Mit den als ständige Niederlage erfahrenen Luftangriffen befand sich das NS-Regime zugleich in einer "Falle selbstpropagierter Grundsätze": Das in der NS-Ideologie zentrale "Recht des Stärkeren" symbolisierte nun um so offenkundiger das eigene Scheitern. Eine weitere Folge der Bombardierungen war mit der Verstärkung (bereits bestehender Ungleichheitstendenzen) die soziale Desintegration der "Volksgemeinschaft": Unterschiede zwischen Stadt- und Landebevölkerung, zwischen ‚normalem' Bürger, Parteimitglied und einflussreichem NS-Funktionär erwiesen sich plötzlich als sprichwörtlich lebenswichtig. Die zeitgenössische Leitmaxime "Bleib übrig!" spiegelt den allgemeinen Trend zur "Individualisierung" und "Atomisierung". Diese Entwicklungen zu einer "egozentrischen Überlebensgesellschaft" führten drittens von einem vorsichtigen Mentalitätswandel bis zu tiefgreifenden Sinnkrisen.
Interessanterweise kam Jost Dülffer (Köln) mit seinem Blick auf eine andere bedeutende Großstadt zu ganz anderen Ergebnissen: Im Gegensatz zur destabilisierenden und desintegrierenden Entwicklung in Hamburg sei in Köln eine "Sozialisierung der Gefahr" zu beobachten: Abgesehen vom ersten "1000-Bomber-Angriff" habe es kein zentrales und tiefgreifendes Bombenkriegsereignis wie die "Operation Gomorrha" in Hamburg gegeben. Mit einer "Kontinuität des Schreckens" habe in Köln insofern eine "Gewöhnung an den Schrecken" stattgefunden. Dülffers Rekonstruktion des kulturellen Lebens der Stadt zeigte, dass sich das Alltagsleben im Luftkrieg auf "niedrigem Niveau" schnell wieder regenerierte. Die ungebrochene Kontinuität des Unterhaltungssektors suggerierte recht erfolgreich eine gewisse Vorkriegs-Normalität. Die schnelle und unbürokratische Hilfe verschiedener NS-Organisationen, besonders der NSV, hätte in der Bevölkerung ein Solidaritäts- und Gemeinschaftsgefühl zumindest teilweise erhalten. In Köln, der "loyalen Notgemeinschaft", lasse sich eine Erosion der "Volksgemeinschaft", eine grundlegende Erschütterung des NS-Regimes oder seiner Bindung zur städtischen Bevölkerung kaum nachweisen
Einen ebenso "heißen Sommer" 1943 wie in Hamburg und Köln untersuchte Karl Christian Lammers (Kopenhagen) in seinem Vortrag zum Ende der dänischen "Staatskollaboration" im September 1943, als die dänische Regierung zurücktrat und mit dem Bruch mit der deutschen Regierung das "Ende des dänischen Musterprotektorats" eingeleitet wurde. In der dänischen Erinnerungskultur ist dieser Bruch mit der bis 1943 "konsensfähigen" Zusammenarbeit zwischen dänischer und deutscher Regierung seit langem Gegenstand heftiger Diskussionen: Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, ob die dänische Regierung selbständig einen kalkulierten Politikwechsel initiiert oder ob eine langfristige innere Entwicklung, ein Stimmungswechsel in der dänischen Bevölkerung einen Bruch unvermeidbar gemacht habe. Für Lammers wurzelte dieser Bruch zwar eindeutig in der dänischen Bevölkerung, seit 1943 hatten Sabotageakte und Streiks derart zugenommen, dass man von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, z.B. in Esbjerg und Odense sprechen könne. Zugleich wies Lammers aber auch darauf hin, dass abgesehen von diesem "symbolischen Bruch" der Regierungen auf einer tieferen Ebene die Staatskollaboration durchaus fortbestanden habe - erst in der Retrospektive, der dänischen Erinnerungskultur habe sich der September 1943 zu einem identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Symbol eines radikalen Bruches zwischen Dänemark und Deutschland ausgeprägt.
Im Gegensatz zu den vorangegangenen Beiträgen konnte Thomas Szarosa (Warschau) nicht von 1943 als einer "historischen Zäsur" sprechen. Die zerstörerische Wucht des Luftkrieges hatte Warschau beispielsweise schon vier Jahre zuvor, beim deutschen Überfall 1939 erlebt - dieser Kontext werde im Übrigen in der gegenwärtigen Diskussion häufig vernachlässigt. In einer Skizze wichtiger Ereignisse des Jahres 1943 - Aprilaufstand im Warschauer Ghetto, Verhaftung des Führers der polnischen Widerstandsbewegung, sowjetische Luftangriffe - zeichnete Szarota ein vielschichtiges Bild der Situation im besetzten Warschau: Vor diesem ereignisgeschichtlichen Hintergrund konnte Szarota einen fundamentalen Unterschied zwischen der deutschen Besatzungspolitik im Westen und im Osten Europas hervorheben: Warschau, von den Deutschen zur Provinzstadt degradiert, sei im Gegensatz zu dänischen Städten oder zu Rotterdam nie für "aufbauwürdig" befunden worden. Die repressivere Besatzung im Osten spiegele nicht zuletzt die rassenideologische Fundierung deutscher Kriegsführung und Besatzung.
IV. Sektion: 1953
Ungleich schwieriger als in den vorangegangenen Sektionen 1933 und 1943 ließ sich 1953 als Zäsur, als Endpunkt oder Anfang einer Epoche benennen: Barbara Vogel (Hamburg) sprach diesem Jahr insofern eine "singuläre Signatur" als Schlüsseljahr ab. Stövers definitive Zuordnung von 1953 als dem Krisenjahr der "Entscheidung" und Zementierung der Nachkriegszeit blieb hingegen auf dem Podium und im Auditorium umstritten.
Bereits der Titel von Peter Reichels (Hamburg) Beitrag zur "Vergangenheitsbewältigung" 1953 - zwischen "Erinnerungspflicht und Verdrängungsneigung" - wies auf eine paradox anmutende Ambivalenz der öffentlichen Erinnerung in der Nachkriegszeit hin: Der Umgang mit der Geschichte des "Dritten Reichs" war (nicht nur in Hamburg) bedingt durch eine stark selektierende Sicht auf die Vergangenheit sowie zugleich durch ein Bedürfnis, das Erinnerte vergessen zu machen, um mit der "Vergangenheit ins Reine" zu kommen, wie Heinrich Heffter (Leiter der damaligen »Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg«) in den 50er Jahren forderte. 1953 zeigte sich diese geschichtspolitische Ambivalenz besonders deutlich: Die zehn Jahre zurückliegende "Operation Gomorrha" diente im öffentlichen Gedenken allein dem Anlass, eine zehnjährige (!) Tradition des Wiederaufbaus zu konstruieren; in der doppeldeutig frohen Botschaft, dass Hamburg "die Kriegsfolgen beseitigt habe" verknüpfte sich die tatsächliche Trümmerbeseitigung zugleich mit einer mentalen Entsorgung der Vergangenheit. Die Ereignisse des »Dritten Reiches« blieben als "Naturkatastrophe" vage metaphorisiert, eine Ursachenanalyse blieb auf gleichsam "physikalischem" Niveau: Nicht die politischen Ursachen, sondern allein die Kettenreaktion des "Feuersturms" war 1953 Gegenstand öffentlicher Geschichtsdiskurse. Wichtige Impulse für ein kritisches hanseatisches Stadtgedächtnis setzte hingegen Erich Lüth in seiner Auseinandersetzung mit dem "Jud Süß"-Regisseur Veit Harlan und mit seiner Gründung der deutsch-israelischen Gesellschaft - in der ambivalenten Geschichtsaneignung der 50er Jahre blieb Lüth als "kritischer Querkopf" in Hamburg allerdings eine Ausnahmeerscheinung.
Auch Paul van de Laars (Rotterdam) Darstellung der Rotterdamer Stadtentwicklung setzte erinnerungskulturelle Akzente: An den verschiedenen Stationen in Rotterdams Stadtbild - von den Hauptstadtambitionen in den 20er Jahren über die Bombardierung durch die deutsche Luftwaffe, der Planung des Wiederaufbaus u.a. mit dem "Reichskommissar" der Niederlande Seyß-Inquart 1940 / 41 bis zum tatsächlichen Wiederaufbau 1949 - hob van de Laar den kulturellen Gehalt des Stadtbildes hervor: Der moderne, funktionale Stil prestigeträchtiger Gebäude, z.B. des Großhandelsgebäudes, der "Lijnbaan" als "Symbole des Wiederaufbaus", übte eine nationale, ja internationale Magnetwirkung aus und weckte enthusiastische Reaktionen zahlreicher Besucher.
Wie van de Laars Vortrag zeigte auch Haruhiko Hoshinos (Fukuoka / Japan) Darstellung der japanischen Stadt Fukuoka in den 50er Jahren trotz der geografischen Distanz erstaunliche Parallelen zu Phänomenen europäischer Großstädte. Nicht nur bezeichnete Hoshino die Präfektur Fukuoka als "japanisches Ruhrgebiet" (1910 kamen 93 % der japanischen Eisenproduktion aus dieser Region). Auch der bestimmende Einfluss außenpolitischer Ereignisse auf innenpolitische Entwicklungen, namentlich ein von Hoshino erläuterter Zusammenhang zwischen einer Verschärfung der Blockkonfrontation, dem Beginn des Korea-Krieges und Entwicklungen der japanischen Vergangenheitsbewältigung zeigte frappierende Ähnlichkeiten zur deutschen "Vergangenheitsbewältigung" seit Anfang der 50er Jahre: Mit der erfolgreichen Etablierung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung hätten einflussreiche konservative Kreise der japanischen Gesellschaft ein "Überlegenheitsgefühl" aufprägen können, in das traditionelle japanische Werte wie Disziplin, Leistung und Pflicht bruchlos integriert werden konnten. Eine öffentliche Auseinandersetzung, z.B. mit dem Einsatz koreanischer Zwangsarbeiter in Fukuoka während des Zweiten Weltkriegs sei bis heute ebenso unterblieben wie eine kritische Beschäftigung mit der Beteiligung am Nanking-Massaker.
Die entschiedenste Definition als "Krisenjahr", als prägende Zäsur mit nationaler wie internationaler Bedeutung, nahm Bernd Stöver (Potsdam) in seiner Analyse von 1953 vor: Wenn der Mauerbau 1961 als "eigentliches Gründungsjahr" der DDR bezeichnet werde, müsse 1953 als "Einleitung" dieser Geschichte des Kalten Krieges vorangestellt werden. Nach dem 17. Juni wurde in der BRD die Westbindung zementiert, während im Osten der vormalige "Scheinstaat" (so Berija in einer Denkschrift Anfang 1953) seine feste Einbindung in den sowjetischen Machtbereich erfuhr. In seiner differenzierten Untersuchung des außenpolitischen Kontextes distanzierte sich Stöver jedoch von der verbreiteten Annahme, allein innenpolitische Prozesse in der DDR, z.B. die Normenerhöhung, hätten zu einem Aufstand geführt. Vielmehr seien der Tod Stalins und dessen Folgen, im Westen 1953 einsetzende Hoffnungen auf einen politischen Wandel, ein tatsächliches "Tauwetter im Kreml" und Unruhen im Ostblock entscheidende Voraussetzungen auch des 17. Juni. Berlin selbst war 1953 "Mittelpunkt des Kalten Krieges", nicht zuletzt als "Kulminationspunkt" geheimdienstlicher Aktivitäten, die einen vorläufigen Höhepunkt des Systemgegensatzes an der "Nahtstelle" zwischen Ost und West markierten. Erst diese brisante außenpolitische Mixtur gab dem Aufstand in Berlin die notwendige krisenhafte Rahmenbedingung im "Umbruchsjahr" 1953.
Großstädtische Schlüsseljahre in europäischer Perspektive - Fazit
Geradezu allgegenwärtig blieb in allen Beiträgen zu den "Schlüsseljahren" und in ihrer Diskussion ein häufig konfliktträchtiges Zusammenspiel von geschichtswissenschaftlicher Forschung und persönlicher Erinnerung oder erinnerungskulturellen Deutungsmustern. Mit dem Fokus auf hamburgische wie deutsche "Schlüsseljahre" war diese Reibungsfläche bereits in der Tagung angelegt, wenn nicht sogar erwünscht. Zugleich bot die symbolische Aufladung dieser Jahre, ihre expressive Vieldeutigkeit als symbolische Chiffren Raum für das Nachspüren langfristiger Entwicklungen und Gelegenheit zu neuen Periodisierungen. Insofern stellten die Beiträge die von ihnen untersuchten Gegenstände zugleich in den Tagungs- und in den gegenwärtigen Deutungskontext, so dass sich ein dichtes Netz aus geografischen Querschnitten - von Japan bis Kopenhagen - und chronologischen Längsschnitten - von 1923 bis 1953 - entspann.
Dass dabei gegenwärtige Deutungskämpfe den Tagungsbeiträgen ein erhöhtes Konfliktpotenzial verliehen, zeigte nicht zuletzt die hitzige Diskussion am Ende der dritten Sektion zu "1943" oder die abschließende Podiumsdiskussion: Immer gaben die historischen Erkundungen auch Anlass zu Exkursen in die aktuelle Geschichtspolitik, so dass mit der Auseinandersetzung um das Holocaust-Mahnmal in Berlin, um die Beschäftigung mit der Vertreibung nach 1945 weitere "Schlüsseljahre" gestreift wurden. In der Rezeption z.B. der Vorträge zu 1943 manifestierte sich neben dem emotionalen Gehalt historischer Forschung auch die spannende Frage nach unterschiedlichen Deutungsperspektiven. Besonders bei der Interpretation symbolträchtiger Schlüsseljahre ließen sich auf der Tagung z.T. gravierende Gegensätze zwischen Erfahrungen und Intentionen des Historikers und denen des von geschichtswissenschaftlicher Interpretation betroffenen Zeitzeugen verorten.
Diese in der Diskussion aufgezeigte Dichotomie verschiedener Deutungsperspektiven weist mittelbar auf einen zweiten grundlegenden Aspekt der Tagung, die Frage nach der Repräsentativität der Städteforschung: Das scheinbar Beispielhafte der jeweiligen Stadtgeschichte bedurfte häufig der Reflexion soziokultureller Gegensätze von Stadt zu Stadt oder von Stadt- zu Landbevölkerung sowie der Einordnung in nationale, wie auch internationale Zusammenhänge und langfristige Prozesse. Die auf der Tagung realisierte ‚Europäisierung' der Stadtgeschichte und die historische Einbettung der Schlüsseljahre in den "Kontext europäischen Leidens" (Dorothee Wierling, Hamburg) umriss insofern wichtige Rahmenbedingungen des Forschungsfeldes zukünftiger stadtgeschichtlicher Beiträge.
Eine Tagung mit dem Titel "1923 - 1933 - 1943 - 1953" zielt weniger auf historische Grundlagenforschung zu Forschungsdesideraten als vielmehr auf eine Differenzierung und Kontextualisierung von Ereignissen, die häufig bereits zu Schlagworten geronnen sind und deren nachträgliche Verarbeitung und Analyse mittlerweile zu einer eigenen, einer "zweiten Geschichte" (Peter Reichel) geführt haben. Die Tagung der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg führte insofern auch beispielhaft vor Augen, wie die Geschichtswissenschaft den Anforderungen dieser ‚beiden Vergangenheiten' herausragender Schlüsseljahre in einer vergleichenden stadtgeschichtlichen Perspektive gerecht werden kann.
Anmerkungen:
1 Helmut Dubiel: Niemand ist frei von der Geschichte. Die nationalsozialistische Herrschaft in den Debatten des Deutschen Bundestages, München 1999, S. 206.
2 Zur aktuellen Luftkriegsdebatte vgl. die Zusammenstellung wichtiger Beiträge von Lothar Kettenacker (Hrsg.): Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940 - 45, Berlin 2003, sowie von Klaus Naumann: Bombenkrieg - Totaler Krieg - Massaker. Jörg Friedrichs Buch »Der Brand« in der Diskussion, in: Mittelweg 36 12 (Heft 4 / 2003), S. 49 - 60. Zur Diskussion des 17. Juni an seinem fünfzigsten Jahrestag vgl. z.B. den Tagungsbericht in H-Soz-u-Kult über die Tagung "Wem gehört der 17. Juni" der Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V., http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=250.
3 Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940 - 1945, Berlin 2002, S. 437.