Sinngebung des Sinnlosen. Zum Leben und Werk des Kulturkritikers Theodor Lessing (1872-1933)

Sinngebung des Sinnlosen. Zum Leben und Werk des Kulturkritikers Theodor Lessing (1872-1933)

Organisatoren
Moses Mendelsohn Zentrum, Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.10.2004 - 18.10.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Elke-Vera Kotowski, für europäisch-jüdische Geschichte, Moses Mendelssohn Zentrum

Aus Anlaß des 70. Todestages von Theodor Lessing fand vom 16. bis 18. Oktober 2003 in Potsdam auf Initiative des Moses Mendelssohn Zentrums eine internationale Tagung statt, die sich dem Philosophen und politischen Feuilletonisten Theodor Lessing (1872-1933) widmete.

Zu seinen Lebzeiten galt Lessing vielen seiner Zeitgenossen als unzeitgemäß. Er setzte sich für Umwelt und menschenwürdige Arbeitsbedingungen ein als die industrielle Revolution ihren Siegeszug antrat, er machte auf die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten aufmerksam, gründete einen "Antilärm-Verein", hielt Vorträge vor Arbeitern in Bahnhofshallen und gründete die erste Volkshochschule in Hannover. In seinen philosophischen Werken prangerte er den "Untergang der Erde am Geist" an und verwies auf die "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen". Bereits sieben Monate nach der Machtübernahme wurde Lessing in seinem Marienbader Exil von sudetendeutschen Nationalsozialisten ermordet. Rückblickend gilt Lessing vielen Nachgeborenen als Visionär, gar Prophet - und dies nicht nur aufgrund seiner vielzitierten Äußerung von 1925 zur Nominierung Hindenburgs zum Reichspräsidenten: "Nach Plato sollen die Philosophen Führer der Völker sein. Ein Philosoph würde mit Hindenburg nun eben nicht den Thronstuhl besteigen. Nur ein repräsentatives Symbol, ein Fragezeichen, ein Zero. Man kann sagen: ,Besser ein Zero als ein Nero'. Leider zeigt die Geschichte, dass hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht."1

Ziel dieser ersten Lessing-Tagung war, den vielfach vergessenen Philosophen sowohl in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen erneut zu beurteilen, als ihn auch ins Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit zu bringen.

Zur großen Freude der Veranstalter nahmen auch Nachfahren von Theodor Lessing an der Tagung teil: Prof. Dr. Peter Gorny (Oldenburg), ein Enkel Lessings, sowie dessen Schwester Katrin B. Phocas (New York), der Urenkel George A. Phocas und die Ururenkelin Alexandra Phocas (Philadelphia), die eigens aus den USA angereist waren.

Den Auftakt der Tagung bildete am Donnerstagabend ein Festvortrag, den der Schriftsteller Günter Kunert hielt. Dieser betonte nachdrücklich in seinem Vortrag "Theodor Lessing. Der Prophet" die starke Wirkung, die Lessing und sein philosophisches Denken auf ihn ausgeübt haben.
Ergänzend zu Kunerts Ausführungen berichtete Tim Bonjes van Beek über seine Erinnerungen an Lessing, denn er hatte den "Herrn Professor" in den 1930er Jahren noch als Junge erlebt.

Am Freitag eröffnete Waldemar Röhrbein (Hannover) das erste Panel mit einem Überblick zur Geschichte von Lessings Heimatstadt Hannover ("Theodor Lessings Hannover"). Anschließend referierte Elke-Vera Kotowski (Potsdam) anhand von Primärquellen über die Jugendjahre von Lessing. Auf der Basis unveröffentlichter Tagebücher und Briefe wurde ein Einblick in das Familienleben der Familie Lessing und Theodor Lessings Entwicklungsgeschichte gegeben ("Zwischen Omnipotenzdenken und Selbsthaß. Theodor Lessings Entwicklungsjahre").

Im zweiten Panel "Zwischen Satire und Feuilleton" tauchte Barbara Beßlich (Freiburg) in die künstlerische, vornehmlich literarische Münchener Szene um die Jahrhundertwende ein, als - wie Thomas Mann es nannte - "München leuchtete" ("Theodor Lessing und die Münchener Moderne). Lessing war für einige Jahre (1894-1900) Teil dieser "Schwabinger Boheme" und sorgte u.a. durch zwei Affären (Panizza-Affäre und Lublinski-Mann-Lessing-Affäre)2 für viel Aufmerksamkeit. Spätestens jene Jahre im Dunstkreis der "Münchener Moderne" waren prägend für Lessings feuilletonistische Arbeit, die er später auch in Hannover fortsetzte.

Ein Beispiel für Lessings journalistische Ambitionen bildete in den 1920er Jahre jener spektakuläre Prozeß über den Massenmörder Fritz Haarmann. Lessing war zunächst als Gerichtsreporter anwesend, wurde dann aber von der Verhandlung ausgeschlossen, da er das "Phänomen Haarmann" als Auswirkung gesellschaftlichen Versagens anprangerte. Marita Keilson-Lauritz (Bussum/Niederlande) rekonstruierte diesen Fall unter Einbeziehung diverser zeitgenössischer Untersuchungen und bisher unausgewerteter Quellen.

Das dritte Panel "Patriotismus und Selbsthaß" eröffnete Martine Benoit (Lille) mit ihrem Vortrag über "Theodor Lessing und die deutsch-jüdische Identität". Der Autor des "Jüdischen Selbsthasses" wird bis heute ambivalent rezipiert. Anhand seiner autobiographischen und wissenschaftlichen Schriften zeigte Frau Benoit jenen Zwiespalt auf, den Lessing, selbst im Spannungsfeld einer "deutsch-jüdischen Identität" lebend und leidend, internalisiert hatte.
Daran anknüpfend griff Andrea Boelke-Fabian (Frankfurt/Main) das Thema "Jüdischer Selbsthaß" auf und analysierte Lessings 1930 unter gleichem Titel verfaßte Schrift.
Die zu jener Zeit im Raum stehende Debatte über Ost- und Westjuden (Paria und Parvenüs), bildete das Zentrum des Vortrags von Claudia Sonino (Pavia). Auch Lessing beteiligte sich an dieser Debatte und reiste Anfang des 20. Jahrhunderts nach Galizien in die Schtetl und Gettos der Ostjuden. Frau Sonino dokumentierte anhand von Lessings Aufzeichnungen dessen "Stimmungsbild" über seine Erfahrungen jener Reisen gen Osten.
Wie oben bereits erwähnt, gab es in Lessings Münchener Zeit einen heftigen Disput, in den er mit Thomas Mann geraten war. Stein des Anstoßes war eine Schrift von Samuel Lublinski, die Lessing verrissen hatte. Thomas Mann sah sich daraufhin genötigt für den Literaturkritiker Lublinski, der - so Mann - seine Buddenbrooks ja so "gescheit gelobt" hat, in die Bresche zu springen. Darman analysierte sehr genau die schriftlichen Äußerungen beider Kontrahenten und zeigte auf, inwieweit Thomas Mann an der Person Lessing seine antisemitischen Ressentiments abarbeitete.

Das vierte Panel "Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte" am Samstagmorgen widmete sich Lessings philosophische Schriften. Heinz-Ulrich Nennen (Cottbus) griff in seinem Vortrag "Theodor Lessing und die Grenzen der Kritik" Lessings These der "Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen" auf, die da lautet: Nicht die Geschichte selbst habe einen verborgenen Sinn oder einen Kausalzusammenhang, sondern erst die Geschichtsschreibung stifte im Nachhinein einen Sinn.3 Daß sich Lessing mit dieser Meinung - besonders unter den Historikern - wenig Freunde gemacht hat, liegt auf der Hand. An diese Lessingsche These der "logificatio post festum" anknüpfend, verwies Friedrich von Petersdorf (Fronhausen) auf die noch immer nicht verworfene These des perspektivischen Charakters von Geschichtsschreibung, die auch von zeitgenössischen Denkern wie Danto oder Ricoeur erörtert wird ("Die perspektivische Konstruktion von Geschichte in Lessings beiden Büchern ,Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen'".4

Das fünfte Panel ",Zwischen Lebensreform und Volksaufklärung' Theodor Lessing - ein Vorkämpfer für Umweltschutz und Erwachsenenbildung" widmete sich - wie im Titel erkennbar - zwei wichtigen Themen, die sein Leben begleiteten. Bereits 1907 gründete Lessing einen "Antilärm-Verein", der auf die gesundheitlichen Gefahren durch den Lärm verwiesen. August Schick (Oldenburg) griff in seinem Vortrag ("Theodor Lessing und der "Anti-Lärm-Verein") die Polemik von Lessings Zeitgenossen auf, die sich über ein derartiges Engagement lustig machten. Lessing zweites Steckenpferd war die Erwachsenenbildung. Er war sich als Professor nicht zu schade, vor Arbeitern, beispielsweise im Dresdener Hauptbahnhof, philosophische Vorträge zu halten. Mit seiner Frau Ada gründete er in Hannover die erste Volkshochschule. Als er 1933 Deutschland verlassen mußte, führte das Ehepaar im tschechischen Marienbad seine Arbeit dort weiter. Jörg Wollenberg (Bremen) widmete sich in seinem Beitrag diesem hervorragenden Engagement der Lessings und zeigte auf, wie nach Lessings Tod und dem Ende der faschistischen Gewaltherrschaft die Stadt Hannover wenig Interesse für eine Rückkehr Ada Lessings signalisierte.

Im sechsten und letzen Panel (Vertrieben, Verfemt, Vergessen. Theodor Lessing - ein schwieriges Andenken) knüpfte Stephan Lohr (Hannover) an diese für Lessings Heimatstadt wenig schmeichelhafte Haltung an. In seinem Dokumentarfilm, den er seinerzeit (wann - Fußnote Titel/Datum?) für den NDR produzierte, berichtete er über die langwierigen und kontrovers geführten Debatten um die Frage, inwieweit Lessing als Sohn der Stadt zu würdigen sei. Ein von Detlev Kappler im Auftrag der Stadt gestaltetes Lessing-Porträt erzeugte einen derartigen Skandal, der Erinnerungen an Lessings Haarmannaffäre in den 1920er Jahren wach rief. Bis heute ist und bleibt die Auseinandersetzung mit Theodor Lessing ein schwieriges Andenken. Dies konnte auch auf der Tagung nicht widerlegt werden. Allerdings, da waren sich Referenten wie Tagungsteilnehmer einig, Lessings Schriften, von gewagten Thesen durchzogen, sind aktueller denn je. Dies wurde nicht zuletzt bei einer Lesung aus den Schriften von Theodor Lessing deutlich. Der Schauspieler Jürgen Hentsch trug am Freitagabend zehn Textauszüge aus diversen feuilletonistischen und philosophischen Schriften vor, die das Publikum aufhorchen ließen. Darin prangerte er den Krieg (I. WK) an mit seinem unendlichen Leid, das nicht zuletzt durch den Einsatz von Giftgas hervorgerufen wurde. Er verwies dabei auf die Profitgier der Waffenhersteller, die immer mehr Sorten dieser, ganze Landstriche verseuchenden, Menschen und Tiere vernichtenden Substanzen herstellten. Er rechnete auf, was jeder Tag, jede Stunde, jede Minute dieses Krieges kostete - für humanistische Zwecke verwendet, hätte die Wüste bewässert und jedes Kind in Afrika zu Essen und eine Ausbildung erhalten können.

Der Tagungsband wird im Frühsommer 2004 im Georg Olms Verlag, Hildesheim, in der wissenschaftlichen Reihe Haskala erscheinen.

Anmerkungen:
1 Zeitungsartikel im Prager Tagblatt vom 25.04.1925, wiederabgedruckt in: Theodor Lessing, Wir machen nicht mit! Schriften gegen den Nationalsozialismus und zur Judenfrage, [Ausgewählte Schriften, Bd. 2], Bremen 1997, S. 87ff.)
2 Der Schriftsteller Oskar Panizza wurde wegen seines Stückes "Das Liebeskonzil" der Gotteslästerung bezichtigt und angeklagt. Lessing verfaßte daraufhin ein Streitschrift, in der er für Panizza Partei ergriff, was zur folge hatte, daß Lessing polizeilich observiert wurde. Nur wenige Jahre später machte Lessing erneut auf sich aufmerksam als er eine recht derbe Satire über den jüdischen Kulturkritiker Samuel Lublinski veröffentlichte. Er machte sich darin über Lublinskis 1904 herausgegebene Schrift "Bilanz der Moderne" lustig und sparte nicht mit antisemitisch anmutenden Spott.
3 Vgl. Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1919, S. 163.
4 Lessing, Theodor: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, München 1919. Die 2. und auch die 3. Auflage, jeweils unverändert, folgten in ein- und demselben Jahr 1921. Ein Nachdruck erschien München 1983.

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