Im November 2003 trafen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland zu einem Erfahrungsaustausch über den Stand und die Perspektiven der Selbstzeugnisforschung. Allen gemeinsam war die Überzeugung, dass es an der Zeit ist, die enge Verbindung des Schreibens über das eigene Leben mit eurozentrischen Konzepten der Individualität aufzubrechen und die Quellengruppe der schriftlichen Selbstzeugnisse mit neuen Fragestellungen und Methoden zu erschließen. Die Voraussetzungen dazu haben sich erheblich verbessert, seit zuerst in den Niederlanden, dann in der Schweiz und in Deutschland Drittmittel für großangelegte Erschließungsprojekte zur Verfügung gestellt worden waren. Nachdem die ersten Projekte mittlerweile weitgehend abgeschlossen und neue in Vorbereitung sind, schien es sinnvoll, Bilanz zu ziehen.
Den Impuls gab Rudolf Dekker, der 2002 in Verbindung mit dem Huizinga Instituut ein Internationalisierungsprojekt zum Thema "Egodocumenten, zelfreflectie en culturele verandering: Nederland, Zwitserland en de europese context, 1600-1900", das von der NWO (Nederlandse Organisatie voor Wetenschappelijk Onderzoek) finanziert wird, initiierte. Um ein Forschungsnetzwerk zu etablieren, wurden drei Tagungen geplant: Den Anfang sollte Berlin 2003 machen, gefolgt von Basel 2004 und schließlich Rotterdam 2005. Die Wahl von Berlin war kein Zufall. An der FU ist vor einigen Jahren eine interdisziplinäre Forschungsinitiative gegründet worden, deren Ziel es ist, Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive zu erforschen. Wichtige Impulse verdankt die Berliner Gruppe der feministischen Theoriediskussion der letzten 20 Jahre. Dies spiegelt sich auch im Programm der Tagung wider, die um vier Themenbereiche gruppiert war.
I)
Das erste Panel beschäftigte sich mit großangelegten Projekten zur Quellenerfassung, die in allen drei Ländern stattgefunden haben und jetzt ihre Ergebnisse präsentieren konnten. Während in der Schweiz unter Leitung von Kaspar von Greyerz die deutschschweizer Selbstzeugnisse der Frühen Neuzeit (1500-1800), soweit sie bisher nicht publiziert sind, gesammelt wurden (präsentiert und in Fallbeispielen vorgestellt von Lorenz Heiligensetzer), ging es in den anderen beiden Fällen um das 19. Jahrhundert. Hans de Valk und Gerard Schulte Nordholt nahmen gedruckte und ungedruckte autobiographische Schriften von Männern wie Frauen auf, mussten allerdings eine Mindestseitenzahl von fünf Seiten einführen, um die Textmasse bewältigen zu können. Danach war das autobiographische Schreiben vor allem eine Aktivität von Männern. Gudrun Wedel stellte ihr in Kürze erscheinendes Lexikon vor, in dem erstmals die veröffentlichten autobiographischen Schriften von Frauen, die im 19. Jahrhundert geboren wurden, zusammengestellt sind, wobei sie auch zahlreiche autobiographische Kleinformen mit berücksichtigte. Als eines der wichtigsten Ergebnisse dieses frauenbezogenen Projektes wurde hier deutlich, dass auch die männerbezogene Autobiographieforschung neu überdacht und die Textbasis erweitert werden muss. Schon jetzt sind die einschneidenden Konsequenzen für die Gattungsdiskussion absehbar.
Die bisher vorliegenden Erfassungsprojekte 1 zeigen, wie sehr sich das Bild von "Autobiographie" und "autobiographischen Schriften" ändert, wenn solche breiten Bestandsaufnahmen erst einmal vorliegen. Erstmals lassen sich quantitative Aussagen wirklich begründet machen, und das Spektrum der möglichen autobiographischen Textformen wird sehr viel breiter als bisher bekannt. Die Diskussionen machten deutlich, mit welchem Gewinn künftige Studien zu autobiographischen Texten auf diesen Ergebnissen aufbauen können und an ihnen auch nicht mehr vorbeikommen, wollen sie den Stellenwert ihrer jeweiligen Auswahl einschätzen können.
II)
Das zweite Panel weitete den bisher (west-)europäischen Horizont aus durch die Präsentation von nichteuropäischen Selbstzeugnissen. Arabische Texte (Gerhard Wedel), osmanische (Barbara Kellner-Heinkele) und japanische (Petra Buchholz) wurden teils in Fallbeispielen, teils im Überblick vorgestellt, so dass hier nicht nur ganz andere autobiographische Schriften mit ganz anderen Texttraditionen sichtbar wurden, sondern auch die Verschiedenheit der jeweiligen kulturellen Kontexte. Der zeitliche Bogen reichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Aus diesen Eindrücken ergibt sich die grundlegende methodische Einsicht, dass bei der Untersuchung von Selbstzeugnissen eine genaue Kontextualisierung offenbar von größter Bedeutung ist und dass, wie auch schon bei europäischen Texten der Vormoderne, vieles erst erschlossen werden muss, was dem eigenen Verständnishorizont der Forschenden zunächst einmal völlig fremd ist. Umgekehrt ergaben sich in der Diskussion weiterführende Einsichten zu kulturübergreifenden Ähnlichkeiten: So wies etwa Sabine Schmolinsky darauf hin, dass die von Gerhard Wedel vorgestellten arabischen Gelehrtenselbstzeugnisse denen des europäischen Mittelalters in vielen Hinsichten gleichen. In beiden Traditionen gibt es zahlreiche Selbstzeugnisse, die keine eigenständigen Schriften darstellen, sondern in andere Textzusammenhänge eingefügt sind. Hier böten sich spannende Möglichkeiten, im interdisziplinären Dialog die Quellen und ihre jeweiligen kulturellen Kontexte gegenseitig zu erhellen; nicht zuletzt könnte offenbar auch die Forschung zu europäischen Texten hier wichtige neue Impulse erhalten.
III)
In der dritten Sektion präsentierten drei niederländische HistorikerInnen mit ihren Fallstudien Beispiele für die Möglichkeiten und Probleme einer gender-orientierten Selbstzeugnisforschung. Die untersuchten Selbstzeugnisse stammten aus dem 18. und 19. Jahrhundert und waren alle von Frauen verfasst, die aber aus unterschiedlichen Schichten kamen und in drei verschiedenen Textsorten schrieben. Die Diskussion der unterschiedlichen Zugänge zu "Geschlecht" zeigte, dass es nicht ausreicht, nur Frauen zu thematisieren. Geschlecht ist lediglich ein Faktor neben anderen wie Klasse, Stand, Kultur und Religion, und erst ein Vergleich mit Männern kann zeigen, welche Rolle Geschlecht in diesem Geflecht wirklich spielt. Religiös-moralische Traktate zu lesen stimmt mit den Normen für angemessenes weibliches Verhalten überein (Jeroen Blaak), aber zugleich gilt, dass auch die Männer der pietistischen Zirkel solche Schriften lesen sollten. Das Schreiben lateinischer Briefe in der Elite grenzte Frauen aus, aber auch französische Briefe schlossen Männer und Frauen der unteren sozialen Schichten aus (Willemijn Ruberg). Das Leben und die Selbstkonzepte von Prinzessinnen unterschieden sich sehr von denen normaler Frauen. Obwohl Frau zu sein ihr Schicksal nachhaltig beeinflusste, konnten sie die Grenzen ihres Geschlechts überschreiten, Herrscherinnen werden und eine männliche Rolle einnehmen (Lotte van de Pol).
IV)
Das abschließende Werkstattgespräch widmete sich grundsätzlichen Fragen von Geschlechter- und Personkonzepten, die in der Selbstzeugnisforschung zwar implizit eine große Rolle spielen, bisher aber noch wenig diskutiert worden sind. Während häufig nur nach Individualität gefragt wird und dadurch das autonome, männliche, christliche, intellektuelle, europäische Individuum im Vordergrund steht und dies zugleich im Rahmen eines bipolaren Modells von egozentrischer vs. soziozentrischer Person angesiedelt ist (Gabriele Jancke), weisen mittelalterliche Texte auch ganz andere Merkmale auf, wie Eva Schlotheuber zeigte. Religion und ganz spezifische Vorstellungen des religiösen Weltbildes hatten demnach entscheidende Auswirkungen auch auf die Art der Beschreibung und Bewertung von Personen, so dass sich in diesem Licht "Individualität" als ein bestimmtes Personkonzept neben anderen zeigt. Dass es sich dabei auch um ein eurozentrisches Konzept handelt, machte der Kommentar von Ute Luig deutlich. Sie verwies vor allem darauf, dass sich die Perspektiven der Betroffenen darin nicht widerspiegeln, und führte dies am Beispiel afrikanischer Gesellschaften näher aus. Insbesondere wird hier die Person nicht ohne Körper verstanden; sie habe nicht einen festen Kern, sondern werde flexibel in sozialen Beziehungen und verschiedenen Identitäten konstituiert. Für die künftige Selbstzeugnisforschung wird es vor allem auch darauf ankommen, die Rolle der Kategorie Geschlecht zu berücksichtigen und als mehrfachrelationale Größe zu fassen (Claudia Ulbrich). Die Diskussionen hierzu machten deutlich, dass weitere Forschungen und Debatten hier ansetzen und die Impulse auf verschiedene Weisen umsetzen sollten.
Weitere Informationen: http://www.fu-berlin.de/selbstzeugnisse
1 Vgl. v. a. für die Niederlande: Egodocumenten van Noord-Nederlanders van de zestiende tot begin negentiende eeuw. Een chronologische lijst. Samengesteld door Ruud Lindeman, Yvonne Scherf en Rudolf M. Dekker. Rotterdam 1993; für das Hl. Römische Reich v. a. des 17. Jahrhunderts: Benigna von Krusenstjern: Selbstzeugnisse der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Beschreibendes Verzeichnis. (= Selbstzeugnisse der Neuzeit 6). Berlin 1997.