Vom 24. bis 26. Oktober letzten Jahres fand in Washington D.C. das dritte Medieval History Seminar statt. Das MHS wird vom Deutschen Historischen Institut in der amerikanischen Hauptstadt veranstaltet und bringt 16 junge Mediävisten aus den USA und aus dem deutschsprachigen Raum zusammen, um ihre unlängst abgeschlossenen oder demnächst abzuschließenden Dissertationen zu diskutieren. Als Mentoren hatten sich 2003 wie in den beiden vorhergehenden Jahren die Professoren Michael Borgolte (Humboldt-Universität zu Berlin), Caroline Walker Bynum (Institute for Advanced Study, Princeton), Johannes Fried (Goethe-Universität Frankfurt) und Patrick Geary (University of California at Los Angeles) zur Verfügung gestellt. Dr. Christoph Strupp (DHI Washington) war für die perfekte Organisation verantwortlich.
Das MHS kennt keine thematische Vorgabe und beschränkt sich nicht auf die historische Wissenschaft vom Mittelalter. So arbeiteten dieses Jahr immerhin fünf der Teilnehmer (ganz oder teilweise) kunstgeschichtlich. Verzichtet wird auf dem Seminar allerdings auf Vorträge, zugunsten einer längeren Diskussionszeit. Stattdessen werden Zusammenfassungen der Dissertationen vorab in einem Reader zur Verfügung gestellt und auf dem MHS selbst nur noch knapp durch einen anderen Teilnehmer einleitend kommentiert.
Dieses Konzept ging in Washington auf. Zusammen mit dem nie erlahmenden Frageinteresse der Teilnehmer und ebenso der Mentoren sorgte es dafür, daß eine ungemein intensive Arbeitsatmosphäre entstand. Selten dürften die Dissertationen ähnlich vielseitig und im positiven Sinne voraussetzungslos, also von engem Spezialistentum unbefangen, diskutiert worden sein.
Die gesamte Veranstaltung inhaltlich auf einen Nenner zu bringen ist angesichts der Disparatheit der Themen unmöglich. Einfacher zu benennen ist, was fehlte, nämlich Politik-, Geistes- und Kulturgeschichte sowie Gegenstände aus dem nicht-lateinischen Mittelalter. Die recht starke kunsthistorische Präsenz auf dem MHS wurde bereits erwähnt. Bemerkenswert schwach vertreten waren hingegen auch die mediävistischen Philologien. Lediglich in einer Arbeit wurden fiktionale Texte im klassischen Sinne bearbeitet. Zugleich wurden jedoch von mehreren Geschichtswissenschaftlern ihre historiographischen Quellen konsequent als Fiktionen verstanden.
Ebenfalls fehlten übrigens große grundsätzliche Unterschiede zwischen deutschen und amerikanischen Herangehensweisen. In der Abschlussrunde des MHS fiel es jedenfalls den meisten schwer, solche auszumachen.
Im folgenden werden die einzelnen Arbeiten und die Hauptzüge der Diskussionen der Tagungs-Ordnung nach vorgestellt.
Gesine JORDAN (Saarbrücken), "In ipso sacro loco. Untersuchungen zu den Schenkungen an geistliche und monastische Einrichtungen im frühen Mittelalter und zum Wohnen von Laien in den Klöstern St.Gallen und Redon" untersucht den Tausch von materiellen Gaben und spirituellen Gegengaben zwischen Laien (d.h. Nicht-Mönchen) und Mönchen. Jordan stellt die Selbstverständlichkeit, mit der ein solcher Handel in der Forschung angenommen wird, in Frage, ebenso freilich die genau entgegengesetzte und dennoch oft ko-existierende Meinung, tatsächlich habe es sich um ein von beiden Seiten materielles Geschäft gehandelt (wonach etwa die Laien sich mit ihren Gaben einen Versorgungsplatz im Kloster gekauft hätten). Die Diskussion kreiste um die heuristischen Probleme des Ansatzes: Wie ausdrücklich erwähnen frühmittelalterliche Urkunden die Geschäftsgrundlagen, was bleibt alles ungesagt? Was bedeuten die Formeln und Begriffe wie "schenken" oder "geben" eigentlich und meinen sie überhaupt Verschiedenes? Wechseln tatsächlich Güter ihren Eigentümer? Inwiefern sind die Ergebnisse von Studien aus dem hohen Mittelalter, die den materiell-spirituellen Tausch zu belegen scheinen, auf das frühe übertragbar? - Andrew J. ROMIG (Providence), "The Religious Experience of Kindness in the Early Middle Ages" rehabilitiert das als dunkel und gewalttätig verrufene Frühe Mittelalter, indem er auf mönchische "kindness" in dieser Zeit hinweist. Letzlich bleibe diese jedoch nur eine Spezialisten-Tugend nicht nur in der mittelalterlichen Gesellschaft. Hier wurde in Washington vor allem nach den Bedeutungsdimensionen des Begriffs "kindness" und nach seinem Erkenntniswert gefragt.
Rosalind J. REYNOLDS (Berkeley), "Praise for a new Deborah. Debating Female Rulership in the Investiture Controversy" analysiert, wie in der der Polemik des Investiturstreits die Rolle der Markgräfin Mathilde von Tuszien (einer Unterstützerin der päpstlichen Seite) als weibliche Herrscherin definiert wurde, insbesondere mithilfe von biblischen Frauenfiguren. Nach Reynolds schwanken die pro-päpstlichen Autoren dabei zwischen einer Vermännlichung Matildes und der Akzeptanz weiblicher Herrschaft als solcher. In der Diskussion wurde problematisiert, wie man die Verwendung von männlichen und weiblichen Attributen und Typen geschlechtergeschichtlich gültig auswerten könne. - Jörg PELTZER (Oxford), "Die Bischofswahl im Spannungsfeld von Interessensgruppen und Rechtstraditionen. Der Fall Sées (1144/5-1228)" verfolgt die Bischofswahl zwischen lokalen und übergeordneten (v.a. herrscherlichen) Einflüssen in einer Zeit der Entwicklung und überregionalen Normierung des kanonischen Rechts. Besonders interessant ist der ausgewählte Fall, da die Normandie zu Anfang des 13. Jhs. aus der Hand des englischen in die des französischen Königs überging. Die förmliche Einflußnahme des Herrschers nahm damit ein Ende, in Übereinstimmung mit der nunmehr veränderten Rechtsauffassung. Peltzer wurde besonders auf die prosopographische Grundlage seiner Untersuchung hin befragt.
John F. ROMANO (Harvard), "How to Read a Martyrology: Ado of Vienne's Venerabile et Perantiquum Martyrologium" stellt eine quantitative Analyse eines Märtyrerkalenders aus dem 9. Jh. dar. In der Diskussion begegnete Romano vielen grundsätzlichen Zweifeln an einem solchen Ansatz. - Olaf SCHNEIDER (Frankfurt), "Auf der Suche nach Milo von Reims und Trier oder die Konstruktion eines Bischofs" zeigt in einer eingehenden Analyse der Überlieferungsschichten, wie das bei Erzbischof Hinkmar von Reims (9. Jh.) gegebene negative Bild eines angeblichen Doppelbischofs Milo des 8. Jhs. entstanden sein dürfte. In der Diskussion herrschte Übereinstimmung, daß das 9. Jh. mit derartig "gefälschten" historischen Texten durchsetzt sei, die zutreffender als "fiktionale" anzusprechen seien.
Markus SPÄTH (Gießen), "Verflechtung von Erinnerung. Überlegungen zur Wechselwirkung von Bild-, Chronik- und Urkundenproduktion in den Klöstern Mittelitaliens während des 12. Jahrhunderts" befaßt sich in einer zwischen Geschichte und Kunstgeschichte gelagerten Arbeit mit dem "neuen kulturellen Gedächtnis", das sich die Abtei San Clemente a Casauria am Ende des 12. Jhs. zulegte und gleichsam multimedial in Skulptur, Architektur und Buch ausstellte, zudem in jedem Medium jeweils unter Verschränkung von Bild und Text. Die Diskussion kreiste besonders um die Frage, wie in der Chartularchronik von S. Clemente mithilfe von "alten" Schriftbildern die Authentizität der enthaltenen Urkundenabschriften erzeugt wurde. - Jacqueline E. JUNG (Berkeley), "Movement, Emotion, and the Beholder's Share: The Wise and Foolish Virgins of Magdeburg Cathedral" befaßt sich mit der Jungfrauen-Darstellung über dem Nordportal des Magdeburger Doms aus der Mitte des 13. Jhs. Der performative Ansatz interpretiert das Portal als eine dynamische Inszenierung, die den Betrachter miteinbezieht, und stützt sich dabei u.a. auf die fast zeitgenössische theatralische Fassung des Gleichnisses im Eisenacher Zehnjungfrauenspiel (Anfang 14. Jh.). Erkundigungen nach verschiedenen konkreten Aspekten dieser Performativität bestimmten die Diskussion.
Kerr HOUSTON (Baltimore), "Late Medieval Canonization Dates as Art Historical Evidence" belegte, daß es viele Ausnahmen von der kunsthistorischen Datierungs-Faustregel gibt, wonach ein Heiliger erst nach der Kanonisation mit einem Heiligenschein dargestellt wurde. In der Diskussion wurden verschiedene Aspekte der neueren Heiligenforschung gesammelt, die das nicht amtskirchlich kontrollierte Wesen der Heiligen-Geltung betonen. - Thomas KORTMANN (Münster), "Körpererfahrung und Heiligkeit im ‚Geistlichen Rosengarten'" ediert und deutet eine frühneuhochdeutsche Übersetzung der vita maior der Katharina von Siena, die im 15. Jh. wohl in Nürnberg entstand. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie im Text die Transformation des Körpers Katharinas zum heiligen Körper inszeniert wird. Die Teilnehmer des MHS interessierten sich bei dieser Arbeit v.a. für drei Punkte: Das Verhältnis der dt. Übersetzung zur lateinischen Vorlage, den Zweck des Textes sowie seinen Bezug zur realen Katharina von Siena.
Ines HENSLER (Konstanz), "Der Ritter und der Sarrazin. Die Beziehung von Fremdem und Eigenem in der höfischen Epik des Hochmittelalters" zeigt auf, daß die Figur des "Sarrazin" in mittelhochdeutschen Werken wie dem Rolandslied oder dem Willehalm keineswegs als Abbildung eines Muslims aufzufassen ist, sondern "hauptsächlich als literarisches Konstrukt, das ganz unterschiedliche Funktionen erfüllt". In der Diskussion wurde u.a. das Konzept der Alterität eingebracht. - Kristin MAREK (Karlsruhe), "Die Effigies als Bildphänomen: Heiligkeit, Souveränität und Tod" setzt sich mit den Funeraleffigies auseinander, also mit lebensgroßen Abbildern verstorbener Herrscher, die im Begräbniszug mitgeführt wurden. Im Anschluß an klassische (E. Kantorowicz, M. Bloch) und hochaktuelle (G. Agamben) Theorien zu Herrschaft und Heiligkeit verknüpft Marek das Auftreten der Funeraleffigies im Spätmittelalter mit dem allmählichen Aufkommen des Souveränitätsgedankens. In Washington wurde überlegt, warum in einer Gesellschaft mit transzendentalem Glauben überhaupt ein Ersatz für den toten König nötig war, weshalb die Effigies gerade in dynastischen Königreichen wie England und Frankreich aufkam und welches Verhältnis zu anderen Kontinuitäts-Trägern (etwa Kronen) bestehe.
Gillian B. ELLIOTT (Austin), "Frederick Barbarossa and the ‚Traditio Legis'" betrachtet elsässische Portalfriese, welche die "Übergabe des Gesetzes" durch Christus an Petrus und/oder Paulus zeigen. Die gehäufte Darstellung des Motives gerade in der zweiten Hälfte des 12. Jh. im Elsaß, einer Machtbasis Barbarossas, deutet Elliott als Reaktion auf den Konflikt zwischen dem Kaiser und dem Papsttum. Dabei geht sie von der Beobachtung aus, daß die traditio legis zeitgenössisch oft zur Unterstützung kaiserlicher Ansprüche gedient habe. Die Diskussion kreiste darum, ob die Friese tatsächlich aus dem 12. Jh. stammten bzw. damals bewußt verwendet wurden, sowie um die Frage, ob die Motiv-Gleichheit nicht auch mit Peter/Paul-Patrozinien und nachbarlichen Imitiationen zu erklären sei. - Jörg FEUCHTER (Berlin), "Ketzer und Kommunen. Die Transformation von Religion und Gesellschaft in Okzitanien (1200-1350)" verfolgt die Wandlung des südfranzösischen Ketzergebietes zu einer katholischen Provinz der Christenheit. Die Effekte von repressiven und persuasiven anti-häretischen Strategien werden anhand einer lokalen Fallstudie (Montauban) untersucht und im Ergebnis zu relativieren versucht. Vielmehr hätten die einheimischen Eliten, vormals Träger der Häresie, eine orthodoxe, jedoch kommunal geprägte "religion civique" (A. Vauchez) entwickelt. Auf dem MHS wurde zu Bedenken gegeben, ob nicht trotz der mikrohistorischen Kontinuitäten gleichwohl die bedeutenden makrohistorischen Umwälzungen mehr im Blick behalten werden müßten. Ferner wurde nach der Repräsentativität des untersuchten Falles gefragt.
Katherine CLARK (Durango), "Purgatory, Punishment, and the Discourse of Holy Widowhood in the High and Later Middle Ages" sucht nach den Folgen der Fegefeuer-Lehre für Witwen, etwa am Beispiel der Mutter von Guibert von Nogent. Einerseits habe die neue Doktrin Witwen neue, privilegierte Rollen in der Interzession (Fürbitte) für die Verstorbenen ermöglicht, ihnen andererseits aber auch entsprechende neue Verpflichtungen auferlegt. Kontrovers wurde anschließend u.a. diskutiert, ob Witwen in den Purgatoriumsvisionen eine besondere Rolle zukam oder nicht. Milena SVEC GOETSCHI (Zürich), "Vagabundierende Mönche, flüchtige Nonnen! Apostasie und Transitus im Deutschen Reich des Spätmittelalters" beschäftigt sich anhand von in Rom eingereichten Bittschriften mit entlaufenen oder den Übergang in einen anderen Orden begehrenden Religiosen im 15. Jahrhundert. Im Mittelpunkt der Diskussion dieses Projektes stand die verwendete Quellengattung. Es wurde die Perspektiven einer Kopplung der vatikanischen Dokumente mit lokalen Quellen erörtert sowie das kommunikationshistorische Potential des Materials.