"Praktiken des Fern- und Überseehandels" waren das Thema der 4. Tagung des von Mark Häberlein (Freiburg), Markwart Herzog (Irsee) und Christof Jeggle (Berlin) organisierten Irseer Arbeitskreises für vorindustrielle Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Vom 2. bis zum 4. April 2004 diskutierten in der Schwabenakademie Irsee rund 50 Interessierte zwölf halbstündige Vorträge.
Zur Einführung hob Mark Häberlein (Freiburg) einige wesentliche Aspekte der neueren Forschung hervor. Fernhandelskaufleute überschritten bei ihren Handelsfahrten kulturelle Grenzen und wirkten als Vermittler zwischen verschiedenen Kulturen. Bei auswärtigen Aufenthalten lebten sie häufig in Gemeinschaften mit Landsleuten. Indem sie neue Bedürfnisse weckten und neue Kundenkreise erschlossen, befriedigten Fernhändler die Repräsentationsbedürfnisse gesellschaftlicher Oberschichten und sorgten für eine zunehmende Verbreitung zunächst exklusiver Konsumgüter. Der Warenhandel unterlag zahlreichen Risiken, die durch institutionelle wie nichtinstitutionelle Mechanismen kalkulierbar gestaltet werden sollten. Kaufleute bewegten sich daher innerhalb von verwandtschaftlichen und kommerziellen Netzwerken, in denen die persönliche Reputation das notwendige Vertrauen in zuverlässiges Geschäftsgebaren garantierte.
Die Reihe der Vorträge eröffnete Ekkehard Westermann (Karlsruhe) mit einem Überblick über die "Struktur des ostmittel- und mitteleuropäischen Handels mit Ochsen 1470-1620". Die Versorgung oberdeutscher Städte mit hochwertigem Rindfleisch gewährleisteten Importe ungarischer Zuchtochsen, die im Frühjahr und Herbst in Herden auf Viehmärkte getrieben wurden. Um Schäden zu vermeiden und die Tiere unterwegs versorgen zu können, musste der Transport mit der Landwirtschaft entlang der Route koordiniert werden. Der Handel, in dem eine kleine Zahl von vermögenden Ochsenhändlern zahlreichen weniger kapitalkräftigen Konkurrenten gegenüberstand, wurde mittels Vorschüssen in Form von Geld oder Tuchen finanziert. Das Vordringen der Osmanen in Südosteuropa verursachte seit 1526 eine Versorgungskrise im süddeutschen Raum. Städte wie Nürnberg reagierten darauf mit Strategien zur Versorgungssicherung wie dem Ochsenkauf durch die Kommune und streng regulierten städtischen Darlehen, die Nürnberg zu einem kreditsicheren Einkaufsmarkt machten. Bei insgesamt rückläufiger Bedeutung des professionellen Ochsenhandels verlagerte sich das Herkunftsgebiet der Tiere seit den 1530er Jahren von Ungarn nach Polen.
"Die internationalen Handelsbeziehungen niederschlesischer Leinenkaufleute" im 17. und 18. Jahrhundert verfolgte Marcel Boldorf (Mannheim). Nachdem der von oberdeutschen Kaufleuten betriebene Zunftkauf mit städtischen Leinewebern durch den Dreißigjährigen Krieg zum Erliegen gekommen war, übernahmen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, gefördert durch die Landesherrschaft, schlesische Kaufleute den Handel mit dem inzwischen überwiegend im ländlichen Raum um Hirschberg produzierten Leinen. Wegen geringerer Risiken wurden der Messe- und Kommissionshandel mit fest vereinbarten Tuchqualitäten und Versandformen dem Direkthandel vorgezogen. Die Kaufleute organisierten sich in Gilden, deren Mitgliederzahl durch hohe Eintrittsgebühren beschränkt wurde, und bildeten über eine gezielte Heiratspolitik enge verwandtschaftliche Netzwerke. Im Laufe des 18. Jahrhunderts schotteten sich Boldorf zufolge diese Societäten zunehmend ab. Vermögende Kaufleute legten ihr Kapital in Landgütern an und eiferten einem adeligen Lebensstil nach. Mit diesem Rückzug von Exporteuren ging wichtiges Wissen über Handelspraktiken verloren, und die erstarrten Organisationsstrukturen der Kaufleute behinderten im 19. Jahrhundert die Industrialisierung Niederschlesiens.
Vor dem Hintergrund des Diktums Wolfgang von Stromers, der hansische Handel habe sich gegenüber dem oberdeutschen in einem "innovatorischen Rückstand" befunden, analysierten Stephan Selzer (Halle) und Ulf Christian Ewert (Chemnitz) den Hansischen Handel als eine "Netzwerkorganisation im späten Mittelalter". Ausgehend von einem Modell egozentrierter kommerzieller Netzwerke wurden mögliche Geschäftsbeziehungen und -praktiken systematisch betrachtet. Im Hinblick auf die spezielle Situation hansischer Kaufleute, die durch geringe Spezialisierung und Kapitalkraft, den häufigen Verzicht auf schriftliche vertragliche Regelungen und die wechselseitige Einsetzung als Agenten gekennzeichnet war, zeigten Selzer und Ewert, wie personale Netzwerke leistungsfähige Handelsbeziehungen ermöglichten, indem sie multilaterale Reputationsmechanismen hervorbrachten. Das soziale Kapital der persönlichen Reputation, das durch Institutionen wie Trinkstuben kultiviert wurde, verhinderte Geschäftspraktiken, die anderen Handelspartnern schadeten, weil ein Verlust an Reputation auch eine Einbuße an Vertrauen bedeutete und damit weiterer geschäftlicher Zusammenarbeit die Grundlage entzog. Da diese Formen hansischen Handels neben den in Oberdeutschland üblichen erfolgreich fortbestanden, ist nicht von Rückständigkeit, sondern von einer sachgerechten und effizienten Lösung spezifischer Koordinations- und Informationsprobleme auszugehen.
"Der Einsatz kaufmännischer Mittel zur Herrschaftssicherung durch die Medici von Florenz" war das Thema des Vortrags von Kurt Weissen (Basel) mit dem Titel "Politische Machtkämpfe und kommerzielle Konkurrenz". Als Florenz nach 1430 anlässlich eines Krieges gegen Lucca Kredite aufnahm, nutzte Cosimo di Medici diese Anleihen, um die konkurrierende Oligarchenpartei, die durch langfristige Kapitalanlagen Refinanzierungsprobleme hatte, zu schwächen. Die Medici differenzierten insofern zwischen familialen Klientelbeziehungen und geschäftlichen Beziehungen, als ihre Bank Klienten in der Regel nicht als Angestellte aufnahm und mit verschwägerten Familien keine Geschäfte machte. Hingegen bauten die Medici über die Kreditvergabe der Bank ihr Klientelnetz gezielt aus. Die mit Krediten bedienten ‚Freunde' mussten bei Wahlen ihre Loyalität beweisen. Anschließend wurden unterschiedliche Formen des Umgangs mit der Strafe der Verbannung vergleichend betrachtet: Matteo di Simone Strozzi nahm die Strafe unwidersprochen hin, er konnte daher seine Geschäfte mit Unterstützung aus Florenz fortsetzen und schließlich reicher als zuvor aus dem Exil zurückkehren. Lamberto Lamberteschi hingegen akzeptierte seine Verbannung nicht und brüskierte damit die städtische Herrschaft, die ihn durch Aufhängen eines Schandbildes symbolisch hinrichten ließ. Er selbst starb, ohne begnadigt worden zu sein und ohne Vermögen, in Basel. Die ‚Strafe' der Medici für ihre Gegner bestand darin, Geschäfte zu unterlassen und finanzielle Hilfe zu verweigern.
Dem deutsch-venezianischen "Handelsalltag" im 15. Jahrhundert spürte Cecilie Hollberg (Dresden) anhand des von einem "Meister Georg" aus Nürnberg verfassten ersten italienisch-deutschen Sprachbuches von 1424 nach. Neben Vokabellisten und einem grammatischen Teil enthält das Buch Dialoge, die musterhaft den Abschluss von Geschäften mit venezianischen Maklern wiedergeben. Diese Dialoge zeigen feine, situationsbedingte Abstufungen der sprachlichen Kommunikation, die von rüdem, direktem Vokabular beim geschäftlichen Schacher bis hin zu gepflegten Formen des persönlichen Gesprächs reichten. Grobe Worte konnten weniger schwer wiegen als der Verdacht des Misstrauens. Die Gesprächspartner thematisierten die Qualität der Waren und geschäftliche Konkurrenz, sie setzten auf Mitleid und betonten die persönliche Reputation, wobei sich die Musterdialoge stereotyper Bilder bedienten. Begleitet wurden die Verhandlungen durch das Trinken von Wein zum Willkommen, beim Leitkauf zum Geschäftsabschluss und zum Abschied. Neben den geschäftlichen Praktiken wurde dabei das in Venedig geläufige Klischee, die Deutschen seien Trunkenbolde angesprochen.
Jan Willem Veluwenkamp (Groningen) untersuchte "Family Networks and Business Practices in the Amsterdam Trade to Russia in the early modern Period". Der niederländisch-russische Handel fand überwiegend auf holländischen Schiffen statt und konzentrierte sich auf den Hafen von Archangelsk, der witterungsbedingt nur im Sommer angelaufen wurde. Eine kleine Anzahl niederländischer Händler traf hier auf zahlreiche russischer Handelspartner, deren Binnenhandel über mehrere Flüsse bis nach Moskau reichte. Mit dem kommerziellen Aufschwung St. Petersburgs ging der Handel auf der Route Amsterdam - Archangelsk nach 1720 zurück. Von zentraler Bedeutung waren in diesem Handelszweig die familiären Netzwerke der niederländischen Kaufleute, die Veluwenkamp anhand der Verflechtungen zwischen vier Familien exemplifizierte. Unternehmerisches Handeln, so seine Hauptthese, war von der moralischen Verpflichtung geleitet, die soziale Position der Familie durch Vermögen aus Handelsgeschäften zu bewahren und zu stärken. Profitabilität und Dauerhaftigkeit der Firmen sollten durch Spezialisierung, langfristige Geschäftsbeziehungen, die bevorzugte Kooperation mit Verwandten und die Regelung der Nachfolge innerhalb der Familie gesichert werden. Die Geschäfte der niederländischen Russlandkaufleute wurden zu etwa zwei Dritteln mit Eigenkapital und nur zu einem Drittel mit Fremdkapital finanziert.
In seinem Beitrag "Amsterdam around 1600. Commercial Expansion and Information Exchange" analysierte Clé Lesger (Amsterdam) den Einfluss der Druckerpresse auf die Verbreitung von Informationen in der aufstrebenden niederländischen Metropole. Orte des Informationsaustauschs - Warenmärkte, Schulen, Notariate, Buchhandlungen - konzentrierten sich in Amsterdam vor 1600 in den Vierteln um den mittelalterlichen Hafen. Nachrichten, die durch reisende Kaufleute, Briefe und handschriftliche Zeitungen in die Stadt gelangten, hatten nur eine beschränkte Zirkulation und ihre Verbreitung war fehleranfällig. Die systematische Sammlung von Informationen war unter diesen Umständen erschwert, und Möglichkeiten, Informationen durch Rückmeldung (feedback) zu präzisieren, fehlten. Hingegen waren die Druckmedien, die sich um 1600 zunehmend durchsetzten und für einen großen, kompetitiven Markt produziert wurden - gedruckte Zeitungen, Preiscouranten, gedruckte Seekarten, Atlanten und nautische Almanache - preisgünstig, sie erreichten ein größeres Publikum und verbreiteten Nachrichten in identischen Kopien, was die Akkumulation von Informationen und deren Verbesserung durch Rückkopplung ermöglichte. Insbesondere kleinere Händler profitierten von dieser "Demokratisierung der Informationen".
Die Frage, weshalb der Fernhandelskaufmann in der neoklassischen Ökonomie als "persona non grata" gilt, diskutierte Alexander Engel (Göttingen) in Form einer "konstruktive(n) Kritik anhand des atlantischen Marktes für Cochenille und Indigo 1770-1820." Im Gegensatz zu Spediteuren erschöpft sich die Aufgabe von Kaufleuten nicht im reinen Warentransport; vielmehr sind sie temporäre Eigentümer der Waren, die sie als Mittler zwischen Produktion und Konsumption durch Raum und Zeit disponieren und dabei hinsichtlich der Menge und Zusammensetzung neu gruppieren. Diese Tätigkeiten erscheinen aus Sicht der neoklassischen Volkswirtschaftslehre irrelevant, da sie von homogenen Gütern auf zeitgleichen, abstrakten Märkten ausgeht. Während die Aufspaltung in Einzelmärkte synchrone Preisketten hervorbringt, stellt sich die Frage, wie sich die Existenz verflochtener Märkte mit diversifizierten Warenströmen auf die Preisbildung auswirkt. Am Beispiel des Farbstoffs Cochenille, dessen Handel vom Produktionsgebiet im mexikanischen Oaxaca nach Europa kettenförmig verlief, um sich dann innerhalb Europas aufzufächern, ergab eine vergleichende Analyse der Preise keine synchrone Preisbildung zwischen verschiedenen Orten. Im Falle des um 1770 vor allem in Nordamerika produzierten Farbstoffs Indigo gelang es der britischen East India Company, nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Indien zum führenden Produktionsgebiet aufzubauen. Bei der Durchsetzung des indischen Indigos auf dem europäischen Markt erwies sich nicht der Preis, sondern die Qualität der Ware als entscheidender Faktor. Die Bedeutung der Kaufleute bestand darin, dass sie homogene, marktgängige Produkte aktiv konstruierten. Aufgrund seiner Befunde plädierte Engel für eine kritische Auseinandersetzung mit wirtschaftswissenschaftlichen Modellbildungen und eine epochenspezifische Anwendung ökonomischer Modelle.
Mit der "Gründung eines Handelshauses in turbulenten Zeiten" befasste sich Frank Schulenburg (Göttingen), der die Aktivitäten der Hamburger Firma "Caspar Zeller & Co." im Westindienhandel zwischen 1795 und 1798 auf Grundlage der weitgehend vollständig überlieferten Geschäftskorrespondenz detailliert nachzeichnete. Die Firma des aus Kempten stammenden Caspar Zeller, deren finanzielle Situation aufgrund ihrer geringen Eigenkapitalbasis von Beginn an angespannt war, beteiligte sich zunächst an der Fahrt eines Handelsschiffs, dessen Eigentumsverhältnisse und Herkunft kriegsbedingt verschleiert werden sollten, nach Saint-Domingue, dem späteren Haiti. Trotz dieser Bemühungen wurde das Schiff als Prise aufgebracht. Nach diesem wenig verheißungsvollen Auftakt versuchte Zeller, direkt in den Überseehandel einzutreten, der als Dreieckshandel zwischen Hamburg, Port-au-Prince und New York mit dem Ziel des Direktimports westindischen Kaffees nach Hamburg konzipiert wurde. Über verwandtschaftliche Beziehungen seines französischen Geschäftspartners konnte sich Zeller als Agent mehrerer französischer Plantagenbesitzer etablieren, die Saint-Domingue aufgrund des Sklavenaufstands und der britschen Besetzung der Insel verlassen hatten. Zeller verschaffte diesen Plantageneignern fingierte Wohnsitznachweise im ‚neutralen' Altona und sicherte sich dafür Frachtaufträge. Als nach einem Streit 1798 der Kontakt mit seinem französischen Partner abbrach, verlor Zeller jedoch eine wesentliche Geschäftsgrundlage, und starb 1821 verarmt.
Durch die weitläufige Handelswelt des islamischen Zentralasien im 10. und 11. Jahrhundert führte der Vortrag von Andreas Kaplony (Zürich) über "Kostbare Stoffe und Kleider aus dem Herzen der Seidenstraße". In dem durch Hochland, Steppe und Flüsse geprägten Raum war der Verlauf der von lokalen Herrschern kontrollierten Handelsstraßen durch die Lage der Gebirge vorgegeben. Aus der Perspektive der islamischen Quellen handelte es sich um einen Grenzraum am äußersten Rand der islamischen Welt, der allerdings durch einen lebhaften Transithandel geprägt war. Neben Aufzeichnungen sogdischer Kaufleute (über 20.000 Dokumente sind erhalten), ethnologischen Werken, Stadtgeschichten und Reiseberichten stellen arabische Geographien eine wichtige Quelle für die Handelsgeschichte Zentralasiens dar. Diese von Kaplony als "gewichtete Wirtschaftsgeographien" charakterisierten Werke bedienten sich einer präzisen Terminologie, enthielten Karten und beschrieben in einer systematischen Stufenfolge zunächst die Welt als Ganzes, dann die verschiedenen Länder und schließlich einzelne Städte. Ihnen kann eine Geographie der Waren entnommen werden, wobei Produkte und keine Märkte beschrieben wurden. Wichtige Handelswaren waren demnach Sklaven, die zu Luxussklaven ausgebildet wurden, Edelmetalle, insbesondere Silber, sowie eine breite Palette an Textilien. Wie mehrere Beispiele unterschiedlicher Produktionskontexte und Handelsbeziehungen zeigten, war Zentralasien eine wichtige textilproduzierende Region, deren Erzeugnisse im gesamten islamischen Raum gehandelt wurden. Während die besten Qualitäten in Samarkand verblieben, war Massenware für den Export bestimmt.
Anhand der Leitbegriffe "Usurpatoren und Pragmatiker" unternahm Jürgen G. Nagel (Trier) den "Versuch einer Typologie niederländischer Handelsstrategien in Asien 1595-1796". Die Prioritäten der Vereinigten Ostindischen Compagnie (VOC) im Asienhandel verlagerten sich zwischen dem frühen 17. und dem späten 18. Jahrhundert vom Gewürzhandel hin zu einer breiteren Produktpalette, die Tee und Kaffee sowie indische Textilien umfasste. Wie am Beispiel der Versuche, in Makassar Fuß zu fassen, deutlich wurde, hatte die VOC noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Schwierigkeiten, in bestimmten Regionen dauerhafte Niederlassungen zu errichten. Nach der Eroberung Makassars und der Entmachtung des Sultanats 1667-69 versuchte die VOC den Handelsverkehr durch ein Passsystem zu kontrollieren; ihre direkte Herrschaft erstreckte sich jedoch nur auf die nähere Umgebung des Forts und des Hafens. Die kommerziellen Aktivitäten im malaiischen Archipel verlagerten sich teilweise hin zu unabhängigen einheimischen Handelszentren mit eigenen Verbindungen. Da eine militärische Dominanz des gesamten Raums nicht möglich war, schloss die VOC Bündnisse mit lokalen Machthabern, patroullierte das Passsystem und gründete neue Faktoreien. Neben der Eroberung von Stützpunkten schloss die Politik der VOC verschiedene von Nagel als eher pragmatisch bewertete Handelsstrategien ein. Diese reichten von der Einzelfahrt über die Durchführung von turnusmäßigen Expeditionen zur temporären Marktteilnahme bis hin zum Aufbau fester Faktoreien mit dem Ziel einer privilegierter Marktteilnahme. Hinzu kamen Strategien zur Absicherung des Handels über Bündnisse und Kontrollmaßnahmen.
"Indische Höfe" als "Lebensräume indischer Kaufleute in Südrussland im 18. und 19. Jahrhundert" betrachtete Heike Liebau (Berlin). Obwohl bereits der russische Kaufmann Afanasi Niktin im 15. Jahrhundert einen Bericht über seine Handelsreise nach Indien hinterlassen hatte, intensivierten sich die kommerziellen Beziehungen erst mit den russischen Eroberungen und Handelsexpeditionen vom späten 17. Jahrhundert an. So wurde Orenburg 1737 als Vorposten für den Handel mit Indien und als Basis für die Angliederung zentralasiatischer Territorien gegründet. Seit dem 16. Jahrhundert bauten Kaufleute aus der heutigen Punjab-Region ihrerseits die Beziehungen nach Europa aus; Astrachan entwickelte sich zum Zentrum eines Netzwerkes, das indische Kaufleute in Russland mit ihren Heimatregionen verband. Von Moskau privilegiert, aber von lokalen Obrigkeiten skeptisch beobachtet, errichteten Inder Handelshöfe, die neben Warenlagern, Läden und Wohnungen auch religiöse Einrichtungen beherbergten. In diesen Diasporagemeinschaften näherten sich die indischen Kaufleute, die aus unterschiedlichen Religionsgemeinschaften und Kasten kamen, teilweise der russischen Kultur an; indische Namen wurden russifiziert und es kam zu Konversionen zum orthodoxen Glauben. Andererseits behielten sie viele Elemente indischer Lebensformen bei. Ihre Frauen und Kinder brachten sie nicht nach Russland mit. Nach Liebau lassen sich die russisch-indischen kommerziellen Kontakte nur bedingt als "kontrollierte Kulturbeziehungen" (Urs Bitterli) beschreiben; vielmehr handelte es sich um vielfältige Prozesse des Austauschs und Aushandelns, in die übergeordnete Herrschaftsträger nur in Ausnahmefällen eingriffen.
Wie sämtliche Beiträge demonstrierten, konzentrieren sich neuere Arbeiten zum Fernhandel nicht mehr auf Leitfragen der älteren Forschung wie die Bewertung der doppelten Buchführung als Ausdruck kaufmännischer Rationalität oder die rechtliche Struktur von Handelsfirmen, sondern untersuchen das Leben und Handeln von Kaufleuten in ihren vielgestaltigen, komplexen Dimensionen. Praktiken der interkulturellen Begegnung und die spezifische Materialität von Handelswaren finden lebhaftes Interesse. Deutlich wurde die große Bedeutung personaler Netzwerke, in denen das zur Durchführung von Geschäften notwendige Vertrauen hergestellt und durch institutionelle Mechanismen abgesichert wurde. Besonders heftig diskutiert wurden Ansätze zur Interpretation historischen Handelns mittels aktueller wirtschaftswissenschaftlicher Modelle aus dem Umfeld der Neuen Institutionenökonomie. Im März 2005 setzt der Arbeitskreis die Diskussion über "Praktiken des Handels" mit einem Schwerpunkt auf lokalen und regionalen Formen des kommerziellen Austausches fort.