Nachdem das letzte polizeihistorische Kolloquium in Graz stattfand, kehrten die Veranstalter dieses Jahr nach Deutschland zurück. Das nunmehr 15. polizeihistorische Kolloquium fand im Nordelbischen Kirchenarchiv in Kiel statt. Eine Besonderheit der Kolloquien ist, dass keine Institution diese Veranstaltungen trägt, sondern diese von führenden deutschen Polizeihistorikern einmal jährlich privat organisiert werden. Von diesem Engagement leben die Kolloquien. In diesem Jahr bildeten die 1970er Jahre einen thematischen Schwerpunkt. Darüber hinaus wurden aber auch andere Themen in offenen Sektionen berücksichtigt.
In einem einführenden Vortrag machte Stephan Linck (Kiel) auf die Bedeutung kirchlicher Archive für die polizeihistorische Forschung aufmerksam. Diese auf den ersten Blick überraschende Themenwahl war jedoch nicht nur dem Tagungsort geschuldet. Bedenkt man, dass in Kirchenarchiven unter anderem die Unterlagen von Polizeiseelsorgern und Gefängnisseelsorgern aufbewahrt werden, so wird einem die Wichtigkeit dieser Archivgattung deutlich vor Augen geführt. Zudem gab es zumindest zeitweise Seelsorger für Konzentrationslager, deren Akten ebenfalls in Kirchenarchiven liegen.
In der ersten Sektion standen dann Themen aus der Polizeigeschichte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik auf dem Plan. Philipp Müller (Florenz) widmete sich der Verbrechensphotographie in der kriminalpolizeilichen Ermittlung und der photographischen Repräsentation und popularen Wahrnehmung des Kriminellen in Berlin von 1890 bis 1914. Am Beispiel eines konkreten Falles zeigte Müller welche Eigendynamik die Pressefahndung mit Photos entwickeln konnte.
Anschließend referierte Bettina Blum (Münster) über weibliche Polizei als "soziale Polizei"? Polizeibeamtinnen zwischen Frauenbewegung, "Männerarbeit" und der Idee der "sozialen Mütterlichkeit" 1903 -1927. Ab 1903 wurden Frauen als Polizeiassistentinnen angestellt, die von der Polizei aufgegriffene, gefangene und aus der Haft entlassene Frauen, Mädchen und Kinder betreuten. Während die Frauen sich als Fürsorgerinnen definierten - einige bezeichneten sich daher auch als Schwestern - wurden sie eher als "Sittenschnüfflerinnen" wahrgenommen. In den 1920er Jahren wurden erstmals Frauen direkt mit polizeilichen Befugnissen ausgestattet. Dennoch bemühte man sich, diese weibliche Polizei als Bindeglied zur Fürsorge zu etablieren und von den "harten" polizeilichen Aufgaben fernzuhalten.
Carsten Dams (Münster) behandelte in seinem Referat "Der deutsche Bobby"? die Öffentlichkeitsarbeit der preußischen Polizei in der Weimarer Republik. Hiermit verbunden war die Leitbildpropagierung innerhalb der Polizei, die auf die Erziehung der preußischen Schutzpolizisten zu höflichen und volksnahen Beamten zielte. Doch das englische Vorbild wurde nur zögerlich aufgenommen und ein flächendeckender Erfolg war der Öffentlichkeitsarbeit und Leitbildvermittlung nicht vergönnt.
In der zweiten und dritten Sektion standen dann die 1970er Jahre im Vordergrund. Frank Dieter Stolt (Minden) behandelte die Geschichte der Brandursachenermittlung seit 1945 und machte hierbei deutlich, dass diese ein Stiefkind der praktischen Polizeiarbeit war und bis heute ist.
Michael Sturm (Leipzig) thematisierte in seinem Referat "Polizei muß heute verkauft werden wie Waschmittel!" den psychologischen Dienst des Polizeipräsidiums München und die Anfänge der Polizeipsychologie in der Bundesrepublik von 1962 bis 1972. Die kommunale Polizei in München, die die Schwabinger Krawalle von 1962 bereits hinter sich hatte, entwickelte als Reaktion hierauf die sogenannte Münchener Linie, die auf präventive Maßnahmen zur Gewaltdeeskalation setzte. Die Arbeit des 1964 eingerichteten psychologischen Dienstes verlief dennoch nicht konfliktfrei wie Sturm ausführte. Insbesondere Georg Sieber, der Leiter des Dienstes von 1968 bis 1972 kam häufiger in Konflikt mit dem Polizeipräsidenten. Mit der Verstaatlichung der Münchener Polizei 1975 wurde der psychologische Dienst dann zum zentralen Dienst für ganz Bayern.
Klaus Weinhauer (Bielefeld/Hamburg) widmete sich dem Terrorismus vor Ort am Hamburger Beispiel von 1971 bis 1974. Er schilderte die Reaktion der Hamburger Tagespresse auf den Terrorismus, die in weiten Teilen der Berichterstattung über normale Kriminalität ähnelte. Wenn im allgemeinen gilt, dass die Reaktion auf den bewaffneten Kampf ihn überhaupt weiter am Leben hielt, dann trifft dies speziell auf die Berichterstattung der Boulevardpresse zu, so Weinhauer.
Anschließend schilderte Andreas Kühn (Bonn) in seinem Beitrag "Genosse Günter ist tot. Die Polizei hat ihn erschlagen!" wie die maoistische KPD/ML den Polizeieinsatz anlässlich des Todes Günter Routhiers in Duisburg 1974 instrumentalisierte. Routhier war unter nicht ganz klaren Umständen bei einem Polizeieinsatz ums Leben gekommen. In einer regelrechten Kampagne versuchte die KPD/ML den Tod des Genossen politisch auszuschlachten. So führte die Beerdigung Routhiers zum größten Polizeieinsatz in Duisburg nach dem Zweiten Weltkrieg.
Jens Dobler (Berlin) referierte über den Polizeilichen Ansprechpartner für gleichgeschlechtliche Lebensweisen als Modellprojekt für andere soziale Gruppen und Minderheiten. Während noch in den Sechziger Jahren regelmäßige Razzien in Berliner Homosexuellenlokalen stattfanden, wandelte sich die Einstellung gegenüber den Homosexuellen innerhalb von guten zehn Jahren und es gelang in der Berliner Polizei den Ansprechpartner als institutionalisierte Organisation einzurichten, dessen Arbeit von Polizei und Homosexuellen als erfolgreich bewertet wird.
Ursula Schele (Kiel) berichtete gewissermaßen als Zeitzeugin über das Verhältnis von Frauenbewegung und Polizei am Beispiel der Arbeit des Kieler Frauennotrufs seit den späten 1970er Jahren. Während diese Zusammenarbeit am Anfang eher ein Gegeneinander als eine Miteinander war und auf beiden Seiten große Skepsis für das jeweilige Gegenüber herrschte, konstatierte sie einen Einstellungswandel in den 80er und 90er Jahren.
Den Referentinnen und Referenten der zweiten und dritten Sektion gelang es sehr gut, ein facettenreiches Bild der 1970er Jahre der Bundesrepublik zu zeichnen, deren Erforschung sich die Geschichtswissenschaft erst langsam zu nähern beginnt.
In der vierten - einer thematisch offenen - Sektion behandelte Michal Chvojka (Opava) mit Blick auf den Vormärz die Wiener Polizei- und Zensurhofstelle und ihren Vorstand Graf von Sedlnitzky. Hierbei konzentrierte sich Chvojka auf die zeitgenössischen Gelehrtentagungen in Österreich, die Sedlnitzky unter dem Vorwand der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung zu verhindern suchte.
Akim Jah (Berlin) referierte über die soziale Herkunft und das politische Selbstverständnis der Beamten des Judenreferats der Stapoleitstelle Berlin. Jah unterschied hierbei drei Beamtentypen: Erstens den jungen Quereinsteiger, zweitens den etwas älteren Beamten der Jahrgänge 1899 bis 1910, der meist aus ländlichen Gebieten stammte und über die Schutz- und Kriminalpolizei zur Gestapo gekommen war und drittens die deutlich älteren Beamten, die auf eine schnellere Karriere hofften. Aufschlussreich war vor allem die Feststellung, dass es sich bei einigen Beamten des Judenreferates keineswegs um fanatische Nationalsozialisten und Antisemiten gehandelt haben soll. Einige jüdische Überlebende berichteten von ‚anständigen' Beamten, die sie nicht entwürdigend behandelt hätten.
Schließlich berichtete Benoit Majerus (Brüssel) in seinem Referat "Falsche Fragen, falsche Antworten" über die Brüsseler Polizei und die Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg. Bis Mitte der 90er Jahre hatten sich die belgischen Historiker diesem Thema kaum angenommen. Erst in den letzten zehn Jahren, so Majerus, wandelte sich dies. Die Brüsseler Polizei verweigerte zunächst gegenüber der Gestapo und dem SD die Zusammenarbeit bei der Judenverfolgung. Dies war umso mehr von Bedeutung, da die deutschen Besatzer nur eine kleine eigene Verwaltung aufgebaut hatten und sich auf die mitarbeitenden belgischen Behörden stützten. Im Vergleich zu ihren Kollegen aus Antwerpen waren sie auch später nicht so "effektiv" bei dieser Aufgabe.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die gelungene Grundkonzeption der Polizeihistorischen Kolloquien bewährte: Zum einen wird ein zentrales Thema behandelt, zum anderen ist man offen für weitere Beiträge. Die Referate hatten insgesamt ein gutes bis sehr gutes Niveau und waren zumeist kurz gefasst, um Raum für Diskussionen zu lassen. Hervorzuheben war vor allem die konstruktive Gesprächsatmosphäre, die sich durch das gesamte Kolloquium zog. Im nächsten Jahr wird das polizeihistorische Kolloquium voraussichtlich in Düsseldorf stattfinden. Themenschwerpunkte werden über einen Call for Papers durch H-Soz-u-Kult rechtzeitig bekannt gegeben.