87. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik

87. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik

Organisatoren
Deutsche Gesellschaft für die Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik e. V. (DGGMNT)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.09.2004 - 27.09.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Carsten Reinhardt, Regensburg; Christine Wolters, Hannover

Zeitgeschichte war das Thema der diesjährigen Tagung der DGGMNT. Was könnte besser passen für die Naturwissenschaften, die Technik und die Medizin, die im 20. Jahrhundert einen beispiellosen Aufstieg erlebt und gleichzeitig an die Grenzen des Fortschritts gestoßen sind? Folgte man dem letzten Teil von Axel Schildts einführendem Abendvortrag über Tendenzen und Probleme der wissenschaftlichen Zeitgeschichtsschreibung, so ist tatsächlich gerade die Wissenschaftsgeschichte geeignet, einer politikhistorisch ausgerichteten Zeitgeschichte Impulse zu geben. Auf der Basis der Arbeiten Martina Hesslers, Margit Szöllösi-Janzes und vieler anderer schwebte Schildt eine Geschichte der Wissensgesellschaft vor, die, verbunden mit der Medien- und Konsumgeschichte, eine neue Form der Zeitgeschichte bilden könnte. Wie ist dieser Anspruch auf der Tagung umgesetzt werden? Welche für Zeithistoriker nützlichen Ideen kommen aus der Wissenschafts-, Medizin- und Technikgeschichte?

Die unter organisations- und disziplinhistorischen Gesichtspunkten betriebene Geschichte des Nationalsozialismus ist quantitativ immer noch das bei weitem vorherrschende Thema der Zeitgeschichte. Hier stehen die dem "Feld-, Wald- und Wiesenzeithistoriker" (Schildt) geläufigen Fragestellungen im Mittelpunkt; die Wissenschaftsgeschichte als Zeitgeschichte verfolgt eine Erweiterung allgemeiner zeithistorischer Themen. Dazu gehören Menschenversuche in Konzentrationslagern, Nazifizierung- und Entnazifizierung, sowie die Geschichte diverser Fachgesellschaften und Institutionen.

Grundsätzlich weiter reicht ein zweites Feld, das allgemein mit (zeit-)historischer Wissenschaftsforschung umschrieben werden kann. Wissenschaftsforschung ist geprägt durch die Auseinandersetzung mit der medizinisch/naturwissenschaftlich/technischen Kultur. Tritt sie aus dieser heraus, so steht sie - vielleicht stärker noch als die Zeitgeschichte der Politik und Gesellschaft - in spannungsreicher Distanz zu ihrem historischen Gegenstand. Über dessen Deutung besteht eine Konkurrenzsituation zu den Naturwissenschaftlern, die aus ihrer Perspektive heraus ebenfalls Geschichtsschreibung betreiben. Trotz aller erreichbaren Objektivität bleibt ein Spannungsverhältnis bestehen, das in den unterschiedlichen Denkstilen der Natur- und der Geisteswissenschaften begründet ist. Themen dieses Felds der Tagung waren u.a. die politische Dimension 'innerwissenschaftlichen' Handelns, politische Kommunikation von Expertenwissen, Konstruktion von Sexualität und Geschlecht, sowie Historisierungsstrategien der Naturwissenschaftler.

Den Förderpreis der DGGMNT erhielten die Schweizer Wissenschaftlerinnen Brigitta Bernet, Gisela Hürlimann und Marietta Meier für ihre Arbeit "Zwangsmaßnahmen in der Zürcher Psychiatrie 1870-1970". Sie untersuchten die asymmetrischen Machtverhältnisse von Arzt und Patient, unter denen die Zwangsmaßnahmen in den Kliniken Burghölzli und Rheinau stattfanden, mit dem "fremden Blick" der Außenstehenden. Ein Ergebnis ihrer Studie: Am stärksten beeinflußten geschlechtsspezifische Unterschiede die Therapie. Frauen wurden häufiger verwahrt als Männer und gleichzeitig öfter Maßnahmen unterzogen. Die Therapiemaximen der Ärzte waren klar von gesellschaftlichen Rollenbildern geprägt. Frauen sollten "fleißig" und "lieb" sein, Männer hingegen aktiv und "arbeitsam". Eine solche Studie ist nur sinnvoll, so die Autorinnen, wenn der ausgeübte Zwang ins Verhältnis zu Ordnungs- und Normvorstellungen der Gesellschaft gesetzt wird und nicht eindimensional die Sichtweise von Psychiatern oder Patienten übernimmt.

Im folgenden werden die Themenblöcke zum Nationalsozialismus und zur zeithistorischen Wissenschaftsforschung getrennt vorgestellt, zugegebenermaßen eine manchmal künstlich wirkende Trennung. Da wir sechs Plenarvorträge und 52 Einzelvorträge, die in 8 Sektionen gehalten wurden, nicht vollständig wiedergeben können, sind wir selektiv vorgegangen und schlagen in diesem Bericht einige 'Schneisen' in Form thematisch geordneter Felder, die stark vertreten waren oder unserer Meinung nach die Tagung besonders prägten. Diese Einteilung folgt nicht immer der Struktur der Tagung. Wer bis zum Schluß 'durchhält', wird mit einem kleinen Exkurs zum 'Lachen der Wissenschaft' belohnt (Martina Schlünder, Berlin).

1. MEDIZIN, NATURWISSENSCHAFT UND TECHNIK IM
NATIONALSOZIALISMUS

Wie in der allgemeinen Zeitgeschichte, so ist auch in der Zeitgeschichte der Wissenschaften die Geschichte des Nationalsozialismus immer noch ein beherrschendes Thema. Großes Interesse findet dabei seit einiger Zeit die Aufarbeitung der NS-Geschichte bedeutender Wissenschaftsorganisationen, vor allem der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Erst nach langem Zögern und unter dem aktiven Druck einiger Historiker hatten sich beide Institutionen entschlossen, ihre NS-Zeit untersuchen zu lassen. Die MPG-Gruppe ist bereits weit fortgeschritten, während die Arbeiten über die DFG noch weitgehend am Anfang stehen.

In ihrem Plenarvortrag "Wissenschaftseliten und NS-Verbrechen. Vergangenheitspolitik der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft/Max-Planck-Gesellschaft (KWG/MPG)" sprach Carola Sachse (Wien) über das Forschungsprojekt zur "Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus". 1 Ausgehend von einem Symposium im Sommer 2001 zog sie eine erste Bilanz. Der damalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, hatte die Überlebenden für die an ihnen begangenen Verbrechen um Entschuldigung gebeten und die "Offenlegung der Schuld" angekündigt. 2 Zwei Überlebende hatten Markl damals in Ansprachen entgegnet. Eine der beiden, Jona Laks, sprach sich gegen eine allgemeine Vergebung aus und machte gleichzeitig deutlich, daß es ihr nicht um die Zuweisung von Schuld ginge. Vielmehr sollten die Verbrechen von Auschwitz weiter historisch erforscht werden. Sachse griff diese Forderung in ihrem Vortrag auf und regte an, professionelle Netzwerke und kommunikative Strukturen zu rekonstruieren, die die Experimentatoren miteinander verbanden. Insbesondere solche Versuche seien noch zu untersuchen, die, so Sachse, "unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der alliierten Ermittler lagen und nie zur Anklage kamen".

In einigen der folgenden Vorträge setzten sich Historiker mit Versuchen an Menschen auseinander, unter ihnen Thomas Beddies (Berlin) und Florian Schmaltz (Frankfurt). Beddies stellte neueste Forschungsergebnisse zur Tbc-Forschung im Zweiten Weltkrieg vor. 3 Am Beispiel von Menschenversuchen zur Tuberkulose-Immunisierung in deutschen Universitätskliniken zeigte er, daß nicht nur Häftlinge von Konzentrationslagern Opfer grausamer Versuche wurden, sondern auch andere als "minderwertig" Klassifizierte wie geistig und körperlich behinderte Kinder. Beddies stellte eindrucksvoll dar, wie verschiedene Institutionen zusammenarbeiteten und hierbei keinerlei ethische Bedenken erkennen ließen. Ein enges Netzwerk von Wissenschaftlern, die bei der pharmakologischen Nervengasforschung zusammenarbeiteten, förderte auch die Recherche von Florian Schmaltz zutage. Angehörige der Militärärztlichen Akademie und mehrerer Universitäten erforschten arbeitsteilig die physiologischen Mechanismen der Kampfstoffe Sarin und Tabun.

Michael Schüring (Berlin) knüpfte mit seinem Beitrag zu Vertreibung, Entschädigung und der Vergangenheitspolitik der Max-Planck-Gesellschaft an einen impliziten Aspekt des Vortrags von Sachse an. Er zeigte, wie die MPG in der Nachkriegszeit mit denjenigen Wissenschaftlern umging, die aus politischen und rassischen Gründen aus ihrer Vorläuferinstitution ausgeschlossen worden waren. Nur ein geringer Teil wurde entschädigt, meist wurden Ansprüche mit fadenscheinigen Begründungen abgelehnt. Deutlich wird, wie weit die MPG zu dieser Zeit von Schuldeingeständnissen und Aufklärungsbereitschaft entfernt war.

Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft setzt sich seit einiger Zeit kritisch mit ihrer eigenen Geschichte im 20. Jahrhundert auseinander. Aus ihrer Arbeitsgruppe stellten Gabriele Moser, Anne Cottebrune, Alexander Neumann und Marion Hulverscheidt (alle Heidelberg) ihre neuesten Forschungsergebnisse zur medizinisch-biologischen Forschung vor. Moser und Cottebrune untersuchten die Förderpraxis der Krebsforschung bzw. zur "menschlichen Erblehre". Kontrovers wurde die Haltung Ferdinand Sauerbruchs diskutiert, dessen Rolle bis heute umstritten ist. Moser konnte hingegen nachweisen, daß sich Sauerbruch trotz großer Arbeitsbelastung persönlich mit den Anträgen befaßte und so auch Kenntnis von Versuchen in Konzentrationslagern bekam. Neumann und Hulverscheidt widmeten sich vor allem dem Aspekt der personellen Kontinuität vor und nach 1945. Der Systemwechsel bedeutete für die wenigsten Wissenschaftler einen Karriereknick, so Neumanns Fazit. Hulverscheidts Recherchen ergaben sogar, daß der Virusforscher Eugen Haagen, der im KZ Natzweiler Fleckfieberversuche durchgeführt hatte, 1946 von Ernst Georg Nauck für das Hamburger Bernhard-Nocht-Institut für Tropenkrankheiten geworben werden sollte.

NAZIFIZIERUNG UND ENTNAZIFIZIERUNG

Nazifizierung und Entnazifizierung medizinischer Fakultäten an deutschen Universitäten und von Fachgesellschaften wurden von Johannes Vossen (Berlin) und Heiner Fangerau (Düsseldorf) vorgestellt. Vossen untersuchte die Berufungspolitik an der medizinischen Fakultät der Berliner Universität 1933-1938. Er ging davon aus, daß die Berufung stark nationalsozialistisch geprägter Professoren zunächst im Vordergrund stand, ab 1935 jedoch mehr und mehr Wert auf eine wissenschaftliche Befähigung der zu Berufenden gelegt wurde. Die daraus abgeleitete Dichotomie von politischen Überzeugung und fachlicher Kompetenz als Qualifikationsmerkmal hat sich in der Diskussion nicht als zutreffend erwiesen. Fangerau bot mit seiner bibliometrischen Methode eine Möglichkeit, besser zu differenzieren. Er hat die Publikationsleistung von Habilitierten und Berufenen an der Medizinischen Akademie Düsseldorf ausgewertet. Der kollektivbiographische Vergleich zeigte jedoch auch hier, daß eine individuelle Interpretation der Biographien unumgänglich ist, da Publikationsprofile nicht als alleiniger Maßstab für wissenschaftliche Qualität gelten können.

Udo Schagen und Andreas Malycha (Berlin) stellten ihre Arbeiten zum Studienplan an der medizinischen Fakultät der Berliner Universität bzw. die Zulassung zum Medizinstudium in der SBZ vor. Die drei federführenden Ärzte, Theodor Brugsch, Fritz von Bergmann und Maxim Zetkin (die "Väter des Studienplans") brachten in einer Zeit, in der Wissenschafts- und Hochschulpolitik in der sowjetisch-besetzten Zone nur schwer möglich war, vor allem durch ihren persönlichen wissenschaftlichen und politischen Hintergrund demokratische Werte und Normen in den neuen Studienplan ein. Die Zulassung zum Medizinstudium folgte hingegen weniger demokratischen Regeln, sondern war stark ideologisch behaftet. Ergänzend beschrieb Sabine Schleiermacher (Berlin), wie die Rockefeller Foundation in den Nachkriegsjahren um die Reeducation von Ärzten in den westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik bemüht war.

Die Geschichte der chemischen, physikalischen und mathematischen Fachgesellschaften im Nationalsozialismus war Thema einer weiteren Sektion, in der Ute Deichmann (Köln), Dieter Hoffmann (Berlin) und Volker Remmert (Mainz) sprachen. Unterschiede zwischen den einzelnen Gesellschaften wurden v.a. durch die wirtschaftliche Bedeutung der jeweiligen Disziplin (mit Folgen in Bezug auf den erhaltenen Rest an Autonomie), durch die wechselnde Wahrnehmung bestimmter Schlüsselpersonen (Einstein in der Physik, Haber in der Chemie), aber auch durch biographische und ideologische Aspekte erklärt.

Genau wie viele Organisationen 1933 und unmittelbar danach auf eine "Selbstgleichschaltung" setzten, so versuchten viele Personen nach 1945 eine "Selbstentnazifizierung" zu betreiben. Sie taten dies teilweise sehr erfolgreich, wie Gerhard Rammer (Göttingen) am Beispiel der Physiker in Göttingen nachwies. Klaus Hentschel (Bern) widmete sich der "Mentalität deutscher Physiker in der Nachkriegszeit", in der die Ausstellung von 'Persilscheinen' durch Physiker möglich wurde, die nicht zu den NS-Mitläufern gehört hatten. Nach 1945 schien sich eine neue Art von 'Burgfrieden' ausgebreitet zu haben, der eine 'unheilige Allianz' vom NS-Kritiker Max von Laue bis zum Altnazi Johannes Stark zur Folge hatte.

QUO VADIS "SUDHOFF (GEDENK-) VORLESUNG"?

Unerwartet stand auch die diesjährige Karl-Sudhoff-Vorlesung unter dem Eindruck der NS-Geschichte. Andreas Frewer (Hannover) hielt sie in diesem Jahr mit dem Titel "Geschichte gegen Zeit. Sudhoffs historische Büchersammlung." Er berichtete von seinem im vergangenen Jahr zum Abschluß gebrachten Projekt der Sichtung und Katalogisierung der medizinhistorischen Bibliothek Sudhoffs, des Gründers der DGGMNT.4 Die "Bibliotheca Sudhoffiana" umfaßt etwa 4.000 Werke zur Medizin- und Wissenschaftsgeschichte und ist somit "ein faszinierender Spiegel des gesamten Fachgebietes", so Frewer. Der Sammler dieser "bibliophilen Schätze", Karl Sudhoff (1853-1938) gilt als Gründervater der Medizingeschichte in Deutschland. Frewer beschrieb Sudhoff nicht nur als Gelehrten, der schon zu Lebzeiten hohe Anerkennung für sein Lebenswerk erhalten hatte. Er verwies ebenso auf den erheblichen Personenkult um Sudhoff. Vor dem Hintergrund der schon länger bekannten NSDAP-Mitgliedschaft Sudhoffs ist die DGGMNT dadurch wieder einmal mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert worden.

2. ZEITHISTORISCHE WISSENSCHAFTSFORSCHUNG

Paradox des Rückblicks, so nannte Hans-Jörg Rheinberger (Berlin) in seinem Plenarvortrag "Rezente Wissenschaft und ihre Erforschung. Das Beispiel der Molekularbiologie" die Scheidelinie von Geschichte und Zeitgeschichte, die Überschreitung des mentalen Horizonts in umgekehrter Richtung. Den amerikanischen Wissenschaftshistoriker Frederic Holmes zitierend, bezeichnete Rheinberger die Gewinnung von Distanz zum Objekt als das drängendste Problem des Zeithistorikers der Wissenschaft, während für Historiker weiter zurückliegender Epochen gerade die Überwindung der Distanz die Hauptschwierigkeit darstelle. In der von ihm historiographisch skizzierten Geschichte der Molekularbiologie treffen sich wesentliche Themen der Zeitgeschichte der Wissenschaften: historische Epistemologie; die Betonung von Praxis, von Instrument, Theorie und Experiment; schließlich die Rolle der Medien in der Wissensproduktion und die zunehmende Politisierung der Wissenschaften.

FAKTEN, FIKTIONEN

Christina Brandt (Berlin) ist in ihrem Vortrag zum 'Klon' als interdiskursivem Element in Biowissenschaft und Literatur den Transferprozessen zwischen Öffentlichkeit und innerwissenschaftlichem Raum gefolgt. Ihrer These nach wurde das Klonen in der Literatur popularisiert, lange bevor es technisch machbar wurde. Diesem Wechselspiel von Faktionalisierung des Fiktiven und Fiktionalisierung des Faktischen gingen auch die weiteren Vorträge der Sektion nach, in der zunächst Claus Spiecker (Stuttgart) Science Fiction-Filme im Spiegel aktueller Wissenschaft betrachtete. Christina Wessely (Wien) untersuchte die Wissenschafts- und Technikfantasien der Welteislehre Hanns Hörbigers im Geflecht von popularisierender Darstellung und NS-Wissenschaft. Die Welteislehre konnte nach Wessely nicht trotz, sondern gerade aufgrund einer für viele Menschen unverständlich gewordenen Naturwissenschaft ihren Platz zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft, Religion und Weltanschauung behaupten. Gerhard Wiesenfeldt (Jena) befasste sich mit dem Verhältnis des Wissenschaftlers und des Fremden in den Filmen Jack Arnolds. Dabei ging es ihm um die filmischen Mittel, mit denen Arnold das Fremde als alter ego des Wissenschaftlers konstruierte. Bei Arnold findet sich eine zunehmend pessimistische Auseinandersetzung mit der Rolle von Naturwissenschaft in der Gesellschaft.

POLITIK IM TEMPEL DER WISSENSCHAFT

Atomphysik und Atombewaffnung der Bundesrepublik, Quantenmechanik und dialektischer Materialismus, Chemie und Faschismus: Arne Schirrmacher (München), Christian Forstner (Regensburg) und Andreas Karachalios (Mainz) untersuchten an diesen Themen die Querbezüge von Politik und Weltanschauung. Postuliert wurde, daß die "Klammer der Wissenschaft" (Schirrmacher) nur gesprengt werden konnte, wenn die Wissenschaft zur Durchsetzung politischer Ziele instrumentalisiert wurde, also selbst aus ihrem inneren Kontext ausbrach. Deutlich wurde, daß Weltbild, politische Haltung und sozialer Kontext zusammengenommen durchaus die Konstruktion wissenschaftlicher Theorien beeinflussen können (Forstner am Beispiel der deterministischen Quantenmechanik David Bohms). Karachalios nahm wichtige Ergebnisse aus der Erforschung des Nationalsozialismus für den Faschismus auf, wobei die Unterschiede der beiden Systeme nicht zu übersehen sind. Allgemein wurde die Frage nach dem Stellenwert von Ideologie in der Wissenschaft gerade im Hinblick auf scheinbar rein innerwissenschaftliche Entwicklungen weiterhin kontrovers diskutiert und damit erst recht interessant.

Ablehnung jeder Verantwortung versus Akzeptanz einer Mitverantwortung waren Thema des letzten Teils von Karin Zachmanns Plenarvortrag über die "Aufführung des Kalten Krieges auf der Bühne technischer Bildung." Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit in beiden deutschen Staaten durchaus Ansätze zur Annahme historischer Verantwortung auch in der technischen Bildung vorhanden gewesen seien, so wurde dennoch in den 1960er Jahren ein naturwissenschaftlicher Humanismus, wie er von Rudolf Planck an der TH Karlsruhe vertreten worden war, unter den Konsumerwartungen und dem technisch-wirtschaftlichen Erwartungsdruck begraben. Aktuelle Assoziationen sind hier durchaus im Sinne der Verfasser dieses Berichts.

POLITISCHE KOMMUNIKATION

Politische Kommunikation war das implizite oder explizite Schlagwort einer Reihe weiterer Vorträge. Andrea Westermann (Zürich) beschrieb Kunststoffe als Medium der Selbstdarstellung der Chemiebranche im Umfeld der "technologischen Signatur" der Bundesrepublik der 1950er Jahre. Sigrid Stöckel (Hannover) untersuchte für den gleichen Zeitraum die Medien- und Professionskultur der Medizin. Eine fein strukturierte inhaltliche Analyse der Fachzeitschriften ergab dabei einen hohen Stellenwert der 'polity', des gesellschaftlichen Umfeldes. Die 'polity' der Zeit um 1968 anhand des konkreten Falles der ETH Zürich war das Thema Daniel Speichs (Zürich). Die Hochschule wird von ihm als "geronnenes soziales Kondensat" definiert, anhand dessen die Verbindungslinien von Wissenschaft und Gesellschaft verfolgt werden können. In seinem Vortrag verschmolzen Hochschulautonomie, der Stellenwert sozialer Distanz, die Frage der Mitbestimmung und die Verwissenschaftlichung der Politik zu einem Agglomerat. Speich konnte eindrucksvoll zeigen, daß die Geschichte einer Universität ganz neue Schlaglicher auf die Geschichte einer Gesellschaft werfen kann.

DAS GESCHLECHT DER WISSENSCHAFT

Wissenschaftsgeschichte ist auch Geschlechtergeschichte. Dies bewiesen die Vorträge von Mitgliedern der Berlin Feminist Science Studies Working Group (Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte), die an Beispielen die Erzeugung natürlicher Ordnungen aus kultureller Praxis und sozialem Kontext analysierten. Die anthropologische Konstitution von 'Rasse' und 'Geschlecht' (Christine Hanke) wurde durch Florence Vienne (Braunschweig) auf den 'Mann' als Wissensobjekt erweitert, und dieser "blinde Fleck der Wissenschaftsgeschichte" im Wandel von Geschlechtsneutralität und Geschlechtsspezifizität gesehen. Der Begriff 'gender' selbst wurde, wie von Ulrike Klöppel (Berlin) gezeigt, in den 1950er Jahren durch entwicklungspsychologische Studien über Intersexualität geprägt. Faszinierend war ihre Analyse des wissenschaftlichen Glaubens der Zeit, soziale Faktoren würden das biologische Geschlecht determinieren, mit dem die Intersexualität erfolgreich ausgeblendet wurde. Als 'natürlich' galt nur entweder Mann oder Frau.

SCIENCE HISTORY, HISTORY OF SCIENCE

Wie schreiben Wissenschaftler ihre eigene Geschichte? Warum tun sie dies überhaupt? Schreiben sie amateurhafte 'science history' im Gegensatz zu professioneller 'history of science'? Die Erfindung von Traditionen im Deutschen Museum erforschte Christian Sichau (München); den Historisierungsversuchen eines der Pioniere der Elektronenmikroskopie, Ernst Brüche, folgte Falk Müller (Frankfurt a.M.); die Extrapolationen historischer Tends in die Zukunft spürte Jochen Hennig (Berlin) am Beispiel der Rastertunnelmikroskopie auf. Deutlich wurde die enge Verbindung aller "Historisierungsversuche" der Naturwissenschaftler mit der Positionierung ihres Gebiets (und ihrer selbst) in Gegenwart und unmittelbarer Zukunft. Erreicht wurde über die Geschichtsschreibung die Geschlossenheit eines Feldes, die Zuschreibung von Sinn und die Hegemonie einzelner Schulen. In der Diskussion wurde deutlich, wie unterschiedlich Zeithistoriker und Wissenschaftshistoriker den Begriff der Historisierung verstehen. Letztere folgen dabei dem Wortgebrauch der historischen Akteure, also den Naturwissenschaftlern. In einer anderen Sektion stellte Oliver Hochadel (Wien) die Frage, wie die Paläoanthropologie ihre eigene Geschichte schreibt. Diese von heftigen Kontroversen geprägte und in starker Interaktion mit der Öffentlichkeit lebende Disziplin stellt die von Akteuren geschriebene Geschichte in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen.

DAS LACHEN DER WISSENSCHAFT

"Wird gelacht und nicht gedacht?" lautete eine Frage in Martina Schlünders (Berlin) Vortrag über ernste Wissenschaft und ihre humoristische Varianten. Sie wählte das Beispiel der Geschlechterforschung, aber ihre tiefgreifende und durchaus humorvolle Darstellung der Thesen Henri Bergsons und Sigmund Freuds gilt auch für andere wissenschaftlichen Gebiete. Für den Umgang mit Affekten wie Lachen, Scham und Empörung verwies sie auf das Grinsen der Edamer-Katze in Lewis Carrolls 'Alice in Wonderland'. Während ihr Körper verschwindet, bleibt das Grinsen der Edamer-Katze bestehen. Ist das vergangene Wissen nur noch über das Lachen erkennbar, welches von diesem Wissen ausgelöst worden war? Demnach, so Schlünder überzeugend, wäre es gerade wissenschaftlich, das Lachen in den Blick zu nehmen. Mit Schlünder "sollten wir uns auf das Wagnis einlassen zur humoristischen Wissenschaft zu werden," weil, und hier zitiert sie Elkaim und Stengers, der Humor "eine Kunst [ist], sich zugleich den Gefahren der Welt auszusetzen, Wissen zu produzieren und sich Beziehungen zu öffnen."5

Anmerkungen:
1 Carola Sachse (Hrsg.), Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten. Dokumentation eines Symposiums, Göttingen 2004.
2 Vgl. Hubert Markl Die ehrlichste Art der Entschuldigung ist die Offenlegung der Schuld, in: Sachse, Verbindung nach Auschwitz, S. 41-51.
3 Zwischenzeitlich ist hierzu erschienen: Thomas Beddies, Heinz-Peter Schmiedebach, "Euthanasie"-Opfer und Versuchsobjekte. Kranke und behinderte Kinder in Berlin während des Zweiten Weltkriegs, in: Medizinhistorisches Journal 39 (2004), S. 165-196.
4 Andreas Frewer, Bibliotheca Sudhoffiana. Medizin und Wissenschaftsgeschichte in der Gelehrtenbibliothek von Karl Sudhoff. Sudhoffs Archiv 52, Stuttgart 2003.
5 Mony Elkaim und Isabelle Stengers, "Über die Heirat der Heterogene. In: Henning Schmidgen (Hg.): Ästhetik und Maschinismus. Texte zu und von Felix Guattari. Berlin: Merve Verlag 1995, 65-94, hier 94.


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