Lässt sich ein konstruktivistisches Verständnis von Kriegserfahrungen, wie es dem Tübinger Sonderforschungsbereich "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" SFB zugrunde liegt 1, mit einem essentialistischen Verständnis von Kriegstypen vereinen, wie es in der Literatur allgemein vorherrscht? In welchem Verhältnis stehen Kriegserfahrungen zu Kriegstypen? Sind Kriegstypologien hilfreich oder gar notwendig für die Erforschung von Kriegserfahrungen? Dies waren die Leitfragen des Workshops "Kriegstypen und Kriegserfahrungen", der am 19. und 20. November 2004 vom Arbeitskreis "Kriegstypologien" des SFB an der Universität Tübingen ausgerichtet wurde.
Nachdem Michael Hochgeschwender (München/Tübingen) einleitend die eben bereits umrissenen Fragestellungen und das Konzept des Workshops präsentiert hatte, erläuterte Jutta Nowosadtko (Essen) in ihrem Referat die Probleme der Typenbildung aus soziologischer Sicht. Im Wesentlichen kennt die Soziologie zwei Modelle der Typenbildung: Max Webers Modell der Idealtypen und das Modell der Handlungstypen von Alfred Schütz. Nach einer kurzen Vorstellung dieser beiden Modelle legte Nowosadtko dar, weshalb eine positivistisch-empiristische Typenbildung für die Sozialwissenschaften ungeeignet sei und sich nicht mit wissenssoziologischen Fragestellungen vereinen lasse. Sie plädierte stattdessen für einen phänomenologischen Forschungsansatz, der sich an Alfred Schütz sowie - auf diesem aufbauend - an Jürgen Habermas orientiert. Ein solcher Ansatz lasse sich auch ideal mit dem Erfahrungsbegriff von Berger/Luckmann 2 in Einklang bringen, wie er im SFB "Kriegserfahrungen" verwendet wird.
Die Kunsthistorikerin Annegret Jürgens-Kirchhoff (Tübingen) widmete sich in ihrem Beitrag verschiedenen Bildtypen in der Kriegsdarstellung. Zu diesem Zweck betrachtete sie in erster Linie Schlachtenbilder aus dem 17. und 18. Jahrhundert. In dieser Zeit, der Epoche der Kabinettskriege, stellte sie einen Wandel der Kriegsdarstellung fest. Die traditionelle Historienmalerei, bei der individuelle Aktionen von Kriegshelden im Vordergrund standen, wurde mehr und mehr durch die Darstellung zeitgenössischer Kriege abgelöst, welche die auf Repräsentativität zielende Wiedergabe der militärischen Erfolge sowie der politischen Ansprüche der Heeresführer zum Ziel hatte. Der Kriegsschauplatz wurde nun vorwiegend aus der Feldherrnperspektive gezeigt, er vermittelte den Eindruck eines geordneten Schlachtablaufs. Anstatt kriegerische Heldentaten zu überhöhen sollte eine solche Darstellungsweise vielmehr das Kriegsgeschehen dokumentieren. Jürgens-Kirchhoff wies abschließend auf die erstaunliche Langlebigkeit der hiermit geschaffenen Bildformel hin. Maler hielten bis in den 2. Weltkrieg an ihr fest, obwohl sich der Charakter der Kriege in dramatischer Weise geändert hatte.
Anuschka Tischer (Marburg) untersuchte in ihrem darauf folgenden Referat Typologisierungen des Dreißigjährigen Krieges und zwar sowohl von zeitgenössischen Deutungen als auch aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive. Schon für die Zeitgenossen war der Charakter des Krieges nicht eindeutig. Tischer legte dar, dass religiöse Motive in den offiziellen Kriegsbegründungen kaum auftauchten, sie hätten auch nach der bellum iustum-Lehre nicht als Legitimation dienen können. Überdies verliefen die Konfliktlinien nicht nach primär konfessionellen Grenzen. Vielmehr bestimmten in hohem Maße Staatsinteressen den Krieg.
Die Vielschichtigkeit der Kriegsgründe machte den Krieg auch offen für vielfältige rezeptionsgeschichtliche Interpretationen, die sich dem jeweiligen aktuellen Kontext anpassten. Der Dreißigjährige Krieg unterlag einem stetigen Umdeutungsprozess. Besonderes Interesse widmete Tischer der Deutung des Dreißigjährigen Krieges als "Staatenbildungskrieg" durch den Historiker Johannes Burkhardt.
Frank Schumacher (Erfurt) behandelte den amerikanisch-philippinischen Krieg (1899-1913). Er untersuchte ebenfalls sowohl zeitgenössische amerikanische Deutungsdiskurse wie auch die Erinnerungskonjunkturen des Krieges. In der Anfangsphase war das Bild dieses Krieges v.a. durch eine Überhöhung des Militärischen geprägt: Er erschien als Gelegenheit zur Erprobung des soldatischen Männlichkeitsideals. Seine moralische Legitimität wurde nicht in Frage gestellt, er galt als Befreiungsaktion gegen die spanische Unterdrückung. Als sich der Krieg in die Länge zu ziehen begann, wurde daneben eine rassistische Deutung des Konfliktes immer virulenter. Sie half, die wachsende Entgrenzung des Krieges zu rechtfertigen. Auffällig ist die hohe Deutungshomogenität auf amerikanischer Seite: Unabhängig von ihrer jeweiligen Einstellung zum Krieg deuteten Kriegsgegner und befürworter ihn in denselben Kategorien.
Obwohl der Krieg für die USA sehr kostspielig war, mit einen überaus hohen Truppeneinsatz geführt wurde (zeitweise waren drei Viertel der amerikanischen Armee auf den Philippinen) und v.a. auf philippinischer Seite hohe Verlustzahlen forderte, ist er im kollektiven Gedächtnis in den USA wenig präsent. Nur während des Vietnamkrieges wurde ihm kurzzeitig ein stärkeres Interesse zuteil, da man in ihm Parallelen zum Zeitgeschehen erkannte und an seinem Beispiel die imperiale Rolle der USA diskutierte. Aufmerksamkeit erfuhr der Krieg dann erst wieder anlässlich seiner 100-jährigen Wiederkehr. Aufgrund der verstärkten Diskussionen um die weltpolitische Rolle der USA wuchs das Interesse nochmals nach dem 11. September 2001.
Die Kriege in Osteuropa zwischen 1918-1921 standen im Mittelpunkt des Vortrags von Christoph Mick (Tübingen). In Osteuropa mündete der Erste Weltkrieg in eine Vielzahl von Kriegen, von denen hier insbesondere der russische Bürgerkrieg, der Krieg zwischen Westukrainern und Polen sowie der polnisch-sowjetrussische Krieg betrachtet wurden. Für alle diese Kriege ist festzustellen, dass sie schon von den Zeitgenossen höchst unterschiedlich charakterisiert und typologisiert wurden: Je nach Perspektive sah man sich etwa im Staatsbildungskrieg, im Befreiungskrieg, im Eroberungskrieg oder im Revolutionskrieg. Bemerkenswert ist, wie oft den Zeitgenossen der Rückgriff auf vergangene Kriege dazu diente, ihre Kriegserfahrungen zu strukturieren, zu deuten und zu beeinflussen. Oftmals standen solche Kriegstypologisierungen im Dienst der Propaganda. Zusammenfassend kam Mick zu dem Ergebnis, dass eine eindeutige Typologisierung auf der Grundlage von zeitgenössischen Erfahrungen und Deutungen nicht durchführbar ist.
In seinem Referat zur Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg erörterte Dietrich Beyrau (Tübingen) den Begriff des "totalen Krieges". Gefragt wurde nach dessen historisch-politischer Verwendung wie auch nach dessen Bezug zur Kategorie der Erfahrung. Der Begriff galt in der sowjetischen Deutung als ein Konzept, das nur für die imperialistische Seite Gültigkeit besessen habe, auf die sowjetische Seite aber nicht anwendbar sei. Hier fallen die Unterschiede zum Nationalsozialismus auf, obwohl die Totalisierung des Krieges auf beiden Seiten nicht von den totalitären Ambitionen beider Regime zu trennen ist.
Im zweiten Teil des Referats wurden die Erfahrungen des "Großen Vaterländischen Krieges" nach den Erzählungen unterschiedlicher Erfahrungsgruppen in der Sowjetunion bzw. im postsowjetischen Russland differenziert. Beyrau unterschied zwischen privilegierten, benachteiligten und "beschämten" Erfahrungsgruppen und ihren Narrativen. Als Beispiel für die erste Gruppe stellte er den amtlich geförderten Heldendiskurs der frontoviki und Partisanen vor; als Beispiel für die zweite die wenig be- und geachteten Erzählungen der Soldatinnen; als Beispiel für die dritte Gruppe wurde das Schweigen bzw. das nur sehr zaghafte öffentliche Reden etwa der Bevölkerungsgruppen unter deutscher Besatzung, der Ostarbeiter und anderer Gruppen betrachtet, die sich z.T. erst nach 1991 öffentlich zu Wort melden konnten. Blickt man aus der Erfahrungsperspektive auf den "totalen Krieg", so erscheint dieser fast stärker von dem jeweiligen Krieg führenden Regime geprägt als von der Art der Kriegführung.
Mit dem Kriegstypus des "Kabinettskriegs" bzw. des "gehegten Krieges" beschäftigte sich Frank Göse (Potsdam). Er fragte, inwiefern die Vorstellung eines gehegten Krieges das Verhalten der Kombattanten beeinflusste und inwieweit er sich in der Erwartungshaltung der Zivilbevölkerung niederschlug. Der Begriff "Kabinettskrieg", der sich im Sprachgebrauch erst in Abgrenzung zum neuen Typ des "Volkskrieges" im beginnenden 19. Jahrhundert durchsetzte, zielt vor allem auf die politischen und militärischen Entscheidungsträger, also auf die Norm. Die Kriegswirklichkeit wies jedoch dazu eine hohe Diskrepanz auf, die in den militärwissenschaftlichen Periodika des ausgehenden Ancien Régime auch reflektiert wurde. Dennoch stellte Göse fest, dass der Kriegstyp des "gehegten Krieges" mehr und mehr das durch den aufklärerischen Diskurs geprägte militärtheoretische Denken bestimmte und seinen Niederschlag, wenn auch nicht in Ausbildungsgrundsätzen und Reglements, so doch in militärwissenschaftlichen Werken fand. Schließlich betonte Göse noch, dass es den Kabinettskrieg nicht gegeben habe und dass der Typ "Kabinettskrieg" nicht als starres, unwandelbares System zu betrachten sei.
Im abschließenden Referat ging Dierk Walter (Hamburg) der Frage nach, was das Neue an den sog. "neuen Kriegen" ausmache, und ob es sich überhaupt mit Recht von "neuen Kriegen" sprechen lasse. Walter verortete das Aufkommen des Schlagworts im Kontext des Wandels der staatlichen Sicherheitspolitik nach dem Ende des Kalten Krieges. In den zunehmend gewaltentwöhnten westlichen Gesellschaften werde ein bewaffneter Konflikt relativ schnell als Krieg empfunden und charakterisiert, ohne dass dies unbedingt angemessen sei. Die Zuschreibung "Krieg" impliziere oft in erster Linie Wichtigkeit und beschreibe eher die Bedeutung des Konflikts im Kontext der eigenen politischen Ziele als dessen wesentliche Merkmale. Ein Beispiel sei die Bezeichnung "Krieg gegen den Terror" nach dem 11. September 2001, die der US-Regierung innen- und außenpolitisch vor allem dazu diene, umstrittene politische Maßnahmen zu legitimieren wie etwa die Einschränkung von Grundrechten oder die Invasionen fremder Staaten. Für die historische und sozialwissenschaftliche Forschung, so Walters Fazit, sei die Verwendung des Begriffs "Krieg" jeweils genau zu überdenken. Der politische Modebegriff "neue Kriege" berge kein Erkenntnispotenzial.
Überaus anregend waren die lebhaften Diskussionen zu den Referaten und zu den allgemeinen Fragestellungen des Workshops. In ihnen zeichnete sich ein Konsens darüber ab, dass die Erstellung normativer wissenschaftlicher Kriegstypologien wenig sinnvoll erscheint. Umso wertvoller erscheint die Historisierung von Kriegstypen. In fast allen Referaten wurde deutlich, welch hohes Konfliktpotenzial zeitgenössischen historischen Typologisierungen eigen war: Selten scheinen sie unumstritten gewesen zu sein. Kriegsbegriffe erweisen sich in hohem Maße als erwartungs- und erfahrungsprägend und damit auch als handlungsprägend. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Kriegsbegriffen und den Erfahrungen historischer Akteure bzw. verschiedener Akteursgruppen könnte der Forschung zu Krieg und Kriegserfahrungen wichtige Impulse liefern.
Anmerkungen:
1 Zum Erfahrungsbegriff des Tübinger SFB vgl. www.uni-tuebingen.de/SFB437/F.htm; Nikolaus Buschmann/Horst Carl (Hrsg.): Die Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn u. a. 2001.
2 Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M., 161999.