"Each generation has its own Clausewitz." Mit diesen Worten leitete Hew Strachan (Oxford) die von ihm und Andreas Herberg-Rothe (Berlin und Oxford) veranstaltete Konferenz "Clausewitz im 21. Jahrhundert" ein, zugleich die Eröffnungskonferenz des Oxford Leverhulme programme "The changing character of war". Und tatsächlich war es eine neue Generation von Clausewitz-Forschern nach Peter Paret, Raymond Aron, Michael Handel, Werner Hahlweg und Michael Howard, die sich der Aufgabe stellte, nach der Aktualität von Clausewitz zu fragen. Um so bemerkenswerter war der Auftritt von Michael Howard, der sich gegenüber Kritiken an einer zu liberalen Übersetzung und damit Interpretation (Jan Willem Honig) von Clausewitz selbstbewusst dazu bekannte, in der von ihm und Peter Paret besorgten und weltweit als gültig anerkannten Übersetzung Clausewitz normativ entschärft zu haben. Diese normative Entschärfung ermöglichte in der Zeit des Kalten Krieges und des atomaren Wettrüstens, an der analytischen Potenz des Clausewitz'schen Theoriegebäudes festzuhalten. Die zeitgleich (beide 1976) veröffentlichte Studie von Raymond Aron "Penser la guerre" spitzte diese Problematik zu, indem sie nur dem ersten von acht Büchern innerhalb Clausewitz' Werk "Vom Kriege", teilweise nur dem ersten Kapitel, weitere Gültigkeit zusprach.1 Im Zentrum dieser Interpretationen steht der Versuch, die Rationalität innerhalb des Clausewitz'schen Ansatzes hervorzuheben, so dass auch in Zeiten von zahllosen Overkill-Kapazitäten Krieg als ein Mittel zu einem vorausgesetzten politischen Zweck begriffen werden konnte. Da die atomare Selbstvernichtung des Planeten kein politischer Zweck mehr sein konnte, durfte Krieg nicht mehr geführt, sondern nur noch gedacht werden, so die Schlussfolgerung von Aron.
Diese (liberale) Reduktion auf den Aspekt der Rationalität führte in einer Zeit des revolutionären Wandels des Krieges nach der Epochenwende 1989/91 jedoch zu weit reichenden Kritiken an Clausewitz' Theorie. Sie sei nicht mehr auf die neuen Formen von verselbständigter Gewalt bzw. auf andere Handlungslogiken, etwa von warlords, anzuwenden. Von besonderer Bedeutung war es, dass Christopher Daase und Herfried Münkler die Produktivität des Clausewitz'schen Ansatzes explizit auf dem Felde überprüften, auf dem er allgemein als überholt angesehen wird: dem des kleinen Krieges (Daase) sowie den neuen Formen privatisierter Gewalt (Münkler). Daase gelang es, Clausewitz' Schriften zum kleinen Krieg sowie seine Bekenntnisdenkschrift von ihrem normativen Ballast zu reinigen und für die Analyse von gegenwärtigen "kleinen Kriegen" nutzbar zu machen. Münkler demonstrierte, dass die Anwendung der Clausewitz'schen Theorie auf heutige privatisierte Kriege und Gewalt eine grundlegende Bedeutungsverschiebung der Interpretation voraussetzt. In ihr steht nicht mehr die weltberühmte Formel vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln im Vordergrund, sondern explizit die "wunderliche Dreifaltigkeit" des Krieges, die Clausewitz selbst als sein eigenes "Resultat für die Theorie" bezeichnete (Bassford). In ihr wiederholte Clausewitz zwar einerseits indirekt die Formel (wenngleich in leicht abgeschwächter Form), zugleich betonte er, dass der Primat der Politik nur eine von drei unbedingt gleichberechtigten Tendenzen des Krieges sei. Die beiden anderen sind die "ursprüngliche Gewaltsamkeit des Krieges", die er als Hass und Feindschaft "wie ein blinder Naturtrieb" beschrieb, sowie das "Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls". Wie Clausewitz betonte, ist dies sein eigentlicher Begriff des Krieges und sein Ausgangspunkt der gesamten Theorie (Clausewitz 1991, 212-213).
Auch wenn keine Einigkeit über die Ausdifferenzierung der "wunderlichen Dreifaltigkeit" erzielt werden konnte, wurde diese in Verbindung mit Clausewitz' Konzeption der Friktion als Ausgangspunkt einer allgemeinen, nicht-linearen (Beyerchen) Theorie des Krieges und des gewaltsamen Konflikts begriffen. Von Bedeutung ist in dieser Interpretation nicht die Applikation von Clausewitz' Begriffen auf die heutigen Verhältnisse, da seine Begriffe an zeitgenössische Entwicklungen gebunden bleiben (Heuser bezüglich des Strategiebegriffs), sondern seine Analyse der Dynamik, der Übergänge sowie des Wandels des Krieges. In der Diskussion wurde problematisiert, ob eine zu große Verallgemeinerung der Begriffe der Strategie (an deren Anfang, so Heuser, Clausewitz steht) wie der Sicherheit auf lange Sicht zu einem Primat dieser Kategorien über diejenige der Politik führen (Strachan, Herberg-Rothe), oder aber notwendig sind, um den aktuellen Entwicklungen gerecht zu werden (Heuser). Kleemeier entwarf unter Rückgriff auf Clausewitz' Begriffe der Tapferkeit und der moralischen Grundlagen des Handelns das Konzept eines "idealen Soldaten", der über Eigenschaften verfügt, die sowohl in low-intensity-conflicts eine Begrenzung der eigenen Handlungen ermöglichen als auch in High-tech-Kriegen unaufhebbar bleiben. Fernandez Vega unterstützte die letztere Position, indem er Clausewitz' Handlungsbegriff unter Rückgriff auf Hannah Arendt und Immanuel Kant auf den der Urteilskraft zurückführte, ein Konzept, das für militärisches Handeln in modernen Armeen unabdingbar ist.
Die Relevanz von Clausewitz' Theorie für die Analyse heutiger Entwicklungen ergibt sich nicht nur aus der Neuinterpretation der "wunderlichen Dreifaltigkeit" als allgemeiner Theorie des Krieges (Herberg-Rothe 2003), sondern zusätzlich aus einer fundamentalen Re-Politisierung von Krieg und Gewalt in der Weltgesellschaft. Sumida erläuterte seine Interpretation, dass der Primat der Politik in Clausewitz' Theorie unmittelbar verbunden sei mit der Bestimmung der Verteidigung als stärkerer Form des Krieges und kritisierte von diesem Standpunkt aus die Bush-Administration. Unter Bezug auf Clausewitz' Bestimmung des Verhältnisses von Zweck und Ziel erläuterte Moran die politischen Folgen aus dem Auseinanderdriften von militärischer Stärke und Verwundbarkeit in den westlichen Industriestaaten. Im Gegensatz zu gängigen Interpretationen unterstrich Echevarria, dass die Globalisierung und die Revolution in den Informationstechnologien (im Detail Lonsdale) die Bedeutung von politischem Handeln sogar noch verstärkt haben und leitete hieraus ab, dass der Kampf gegen den Terror vornehmlich einer um die Hegemonie politischer Ideen sei. Vom gleichen allgemeinen Befund ausgehend zog Herberg-Rothe die Schlussfolgerung, dass die Relation von Politik und Krieg, wie sie von Clausewitz beschrieben wird, zwar weiterhin Gültigkeit behält. Die inhaltliche Bestimmung von Politik in demokratischen Gesellschaften sei jedoch eine vollkommen andere als sie implizit bei Clausewitz vorausgesetzt wird. Hieraus entwickelte er die Konzeption der Begrenzung von Krieg und Gewalt in der Weltgesellschaft als Voraussetzung der Etablierung von demokratischen Gesellschaften sowie der Aufrechterhaltung des Primates der zivilen Gesellschaft vor dem Militärwesen. Wilfried von Bredow erläuterte direkt im Anschluss das spannungsreiche Verhältnis von (weitgehend) ziviler Gesellschaft und Militärwesen in modernen demokratischen Gesellschaften und warnte vor der Gefahr einer unüberbrückbaren Distanz zwischen beiden.
Die Tagung zeigte von neuem, dass es wie bei der Infragestellung der Clausewitz'schen Theorie durch Massenvernichtungswaffen zwei grundsätzlich entgegengesetzte Reaktionen auf die neuen Entwicklungen gibt. Man kann Clausewitz vollständig für überholt erklären und durch ein neues Paradigma zu ersetzen versuchen oder aber sich einer doppelten Aufgabe stellen: Clausewitz' theoretischen Ansatz vor dem Hintergrund der neuen Entwicklungen von neuem zu durchdenken und anschließend zu fragen, welche möglichen Schlussfolgerungen sich für heutige Probleme ergeben. Ein Ansatz für eine allgemeine Theorie, die methodologisch von Clausewitz' "wunderlicher Dreifaltigkeit" ausgeht, sie aber grundlegend ausdifferenziert, ist das "Koordinatensystem von Kriegführung und bewaffnetem Konflikt" von Herberg-Rothe, erstmalig publiziert unter:
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/daten/2005/herberg_rothe_koordinatensystem_clausewitz.pdf
Literatur:
- Aron, Raymond, Den Krieg denken. 1980 (1976).
- Clausewitz, Carl von, Vom Kriege. 19. Aufl. Hrsg. Von Werner Hahlweg. Bonn 1991 (1980).
- Clausewitz, Carl von, On war. Translated by Peter Paret and Michael Howard. Princeton 1984 (1976).
- Herberg-Rothe, Andreas, Das Rätsel Clausewitz. Politische Theorie des Krieges im Widerstreit. München 2002.
- Herberg-Rothe, Andreas, Der Krieg. Geschichte und Gegenwart. Frankfurt 2003.
- Heuser, Beatrice, Reading Clausewitz. London 2002 (deutsch 2005).
- Kleemeier, Ulrike. Grundfragen einer philosophischen Theorie des Krieges. Platon-Hobbes-Clausewitz. Berlin 2002
- Münkler, Herfried, Clausewitz' Theorie des Krieges. Baden-Baden 2003.
Weitere Literatur der Konferenzteilnehmer inklusive abstracts und bios finden sich auf der homepage der Konferenz: http://ccw.politics.ox.ac.uk/Clausewitz.asp
Anmerkung:
1 Obwohl Aron selbst nur dem ersten Kapitel weitere Gültigkeit zusprach, wurde auch das von ihm so genannte Testament von Clausewitz, die noch zu thematisierende "wunderliche Dreifaltigkeit", in der Übersetzung modifiziert. Während es im deutschen Text heißt, dass eine der drei Tendenzen, aus denen jeder Krieg zusammengesetzt sei, die untergeordnete Natur des Krieges als eines politischen Instrumentes sei, wodurch der Krieg dem "bloßen Verstand" (wohlgemerkt, als einem von drei gleichberechtigten Tendenzen) zuzuordnen sei, wurde in der Übersetzung hieraus: "which makes it subject to reason alone". Durch diese kleine Umstellung wird eine Schwerpunktsetzung innerhalb der drei Tendenzen zugunsten der Rationalität des Krieges impliziert, die Clausewitz explizit ausschloss (Clausewitz 1984, p. 89; Clausewitz 1991, 213).