Die Sitzung des Arbeitskreises am 12. März 2005 war die erste von zweien, die dem Thema "Soziale Praxis des Kredits" gewidmet sind. An diesem Tag beleuchteten sechs Referate unterschiedliche Aspekte des Themas. Dabei lag der Schwerpunkt auf Nordwestdeutschland, doch richtete sich der Blick auch auf andere Regionen und auf grundsätzliche Fragen. Die etwa 45 Teilnehmer diskutierten die Vorträge lebhaft. Die zweite Sitzung zu diesem Thema wird am Samstag, dem 19. November 2005, stattfinden.
In einer kurzen Einführung wies Jürgen Schlumbohm (Göttingen) darauf hin, dass der Kredit - neben dem Konsum - zu den Themenfeldern zählt, auf denen die Wirtschaftsgeschichte sich in den letzten Jahren besonders stark für Ansätze einer neuen Kulturgeschichte geöffnet hat. Darüber hinaus sei die ältere Geschichte einzelner Kreditinstitutionen abgelöst worden von Fragen nach den sozialen Praktiken der Akteure, nach den Strategien von Kreditnehmern und Kreditgebern. Vielfältig seien auch neue Quellen für dieses Thema erschlossen worden. Dies erneuerte Interesse an der Geschichte des Kredits habe dazu geführt, dass die enorme Bedeutung sichtbar geworden ist, die Kreditbeziehungen schon in früheren Jahrhunderten hatten - mit erheblichen, wenn auch kontrovers diskutierten Konsequenzen für das Gesamtbild von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur: Individualistische Marktgesellschaft schon in der frühen Neuzeit oder sozial eingebettete Wirtschaft noch im 19. Jahrhunderts (Craig Muldrew - Margot C. Finn).
Michaela Fenske (Göttingen) stellte in ihrem Referat "Kredit als Teil einer Kultur des Risikoausgleichs: Die Jahr- und Viehmärkte im frühneuzeitlichen Hildesheim" Ergebnisse einer größeren demnächst erscheinenden Studie über frühneuzeitliche Marktkultur vor. Am Beispiel der Stadt Hildesheim führte sie aus, dass die Zahlungsform auf dem frühneuzeitlichen Markt von einer Vielzahl von Faktoren abhängig war. Angesichts der erheblichen Risiken des Viehhandels wurde Kredit zum Bestandteil einer komplexen Wirtschaftspraxis, die Fenske in ihrer Gesamtheit als eine "Kultur des Risikoausgleichs" beschrieb. In der Handelspraxis war Kreditzahlung bei Kunden äußerst beliebt, da sie sich auf diese Weise am besten gegen das Risiko, ein minderwertiges Produkt zu kaufen, absichern konnten. Händler gewährten dagegen aufgrund der damit für sie einhergehenden hohen Risiken nur ungern Kredit, waren aber aufgrund des verbreiteten Bargeldmangels oft dazu gezwungen, um sich Geschäftsabschlüsse zu sichern. Auch auf dem Viehmarkt beruhte Kredit wesentlich auf sozialer Absicherung; und eine Reihe formaler, vor allem aber informeller sozialer Praktiken garantierte seine Rückzahlung. So lässt sich beobachten, dass Kredit seltener gewährt wurde, wenn Käufer und/oder Verkäufer aus weiter entfernten Orten kamen und dass der Gläubiger sich an Verwandte oder an Gemeindegenossen des Schuldners hielt, wenn dieser nicht zahlte. Kunden mobilisierten also beim Viehkauf auf dem Markt - ebenso wie bei anderen größeren wirtschaftlichen Transaktionen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft - ein beachtliches soziales Kapital. Dass beim Markthandel angesichts der für beide Partner hohen Risiken überhaupt eine Einigung zustande kam, war nur möglich, weil das Vertrauen der Handelspartner wesentlich durch eine Handelspraxis gestärkt wurde, in der Risiken für die einzelnen Beteiligten reduziert und untereinander aufgeteilt wurden.
Kreditgeschäfte und bürgerliches Amtsverständnis standen im Mittelpunkt des Vortrages von Christine van den Heuvel (Hannover) über "Justus Möser als Kreditgeber". Sie stellte damit einen bislang weitgehend unbekannten Aspekt der Biographie des Osnabrücker Staatsmannes Justus Möser (1720-1794) vor. Seine Kreditvergabe an den Osnabrücker Adel kann für den Zeitraum von 1784 bis 1794 anhand eines von ihm selbst verfassten Anschreibehefts erschlossen werden. Zur Verdeutlichung der gesellschaftlichen und politischen Dimension der Kreditgeschäfte skizzierte die Referentin die amtliche Stellung Mösers, der aufgrund seiner vielfältigen staatlichen und ständischen Ämter drei Jahrzehnte lang die einflussreichste Persönlichkeit im Hochstift Osnabrück war. Persönliche und ökonomische Unabhängigkeit erschienen ihm als Grundvoraussetzung für seine vielfach konkurrierenden Amtsaufgaben, die er in dem Bewusstsein ausübte, als Mitglied der bürgerlichen Funktionselite Träger der Aufklärung und Anwalt des allgemeinen Staatswohls zu sein. Mösers wirtschaftliche Unabhängigkeit beruhte auf beträchtlichen Einkünften, die er - neben seinem Dienstgehalt - im wesentlichen aus regelmäßigen Kreditgeschäften mit Angehörigen des Osnabrücker Adels bezog. In seinem letzten Lebensjahrzehnt verlieh er permanent eine Gesamtsumme von ca. 55.000 Rt. an einen größeren Gläubigerkreis. Die Kredite liefen auf der Basis von Zinskontrakten in Teilsummen von 50 bis 6.500 Rt., mit jährlichen Zinszahlungen zu 4 Prozent. Zu Mösers größten Schuldnern gehörte über Jahre sein Vorgesetzter in der Regierung des Hochstifts Osnabrück, der Geheime Rat Clamor Adolph Theodor von dem Bussche. Bussches Kredite überstiegen das Vier- bis Fünffache seines Jahresgehalts. Die zahlreichen adligen Schuldverschreibungen lassen vermuten, dass Möser als diskreter Kreditgeber geschätzt wurde und dass er seinerseits in den Mitgliedern des Adels zuverlässige und kreditwürdige Schuldner sah. Die abschließende Frage nach den Auswirkungen von Mösers Kreditvergabe auf das politische System des Hochstifts ließ sich auf der Grundlage der bislang bekannten Quellen allerdings noch nicht vollständig beantworten.
Johannes Bracht (Münster) sprach über "Kredite unter Verwandten: Vorteile für Gläubiger und Schuldner? Untersuchungen zu drei westfälischen Ortschaften, 1830-1867". Im Zentrum des Beitrags stand die Frage, in welchem Maße bei der Kreditversorgung die soziale Nähe, im engeren Sinne Verwandtschaft, zwischen Schuldner und Gläubiger eine Rolle spielte. Grundlage der Darstellung waren Auswertungen von Hypothekarkrediten zwischen 1830 und 1867. Einen Teil des Vortrags nahmen Überlegungen zur Operationalisierung von Thesen über den "vormodernen" Kredit ein. Die empirische Analyse zeigte, dass Kredite unter Verwandten vor allem dann sehr häufig waren, wenn es an alternativen Kreditquellen fehlte. Standen den Bauern jedoch Institutionen oder ein städtisches Bürgertum als Kreditgeber zur Verfügung, wurde soziale Nähe weniger angestrebt, wenn nicht sogar gemieden. In der Qualität unterschieden sich Hypothekenkredite zwischen einander fremden und einander nahe stehenden Personen kaum. Selbst zwischen engen Verwandten wurde oftmals der übliche Zins berechnet. Doch gab es andererseits unter Verwandten nicht selten zinsfreie Kredite. Darlehen zwischen nahen Verwandten waren im Schnitt höher als die zwischen fernen, aber wirklich hohe Kredite bekamen die Bauern nicht von Verwandten, sondern von Bürgern und Institutionen. Insgesamt befand sich der ländliche Kreditmarkt Westfalens im Übergang hin zu fremden und institutionellen Gläubigern; doch nahmen die drei untersuchten Ortschaften in unterschiedlichem Ausmaß an diesem Wandel teil. Gerade durch die Einführung der Hypotheken- bzw. Grundbücher und die in ihnen verbrieften Sicherheiten dürfte die Entwicklung einen starken Impuls bekommen haben.
Johannes Laufer (Göttingen) referierte über "Soziale Kredite: Kredit als Element der sozialen Ordnung in den Bergstädten des Oberharzes". Anhand der vorindustriell konstituierten Arbeiterschaft der Berg- und Hüttenwerke, die bis zu 70 Prozent der örtlichen Bevölkerung stellte und exklusive Rechte sozialer Sicherung beanspruchte, wurden spezifische Bedingungen des Unterschichtenkredits untersucht. Kredite dienten den Berg- und Hüttenleuten einerseits zur Überbrückung akuter Mangel- und Teuerungskrisen - vor allem in Zeiten des Pauperismus -, eröffneten ihnen andererseits aber auch Spielräume für erweiterten Konsum und zur Vermögensbildung. Zur Realisierung elementarer wie extraordinärer Konsumbedürfnisse, aber auch zur Begleichung von Miet- und Steuerrückständen war es verbreitete Praxis, bei Kaufleuten und Handwerkern anschreiben zu lassen oder im sozialen Umfeld kleinere Geldbeträge zu borgen. Zur Tilgung solcher kurzfristiger Verbindlichkeiten verpfändeten die Arbeiter gewöhnlich Anteile ihres Wochenlohnes. Große Bedeutung besaßen daneben langfristige Hypothekenkredite, die die Arbeiter vor allem zum Kauf von Immobilien, Häusern, Gärten oder Wiesen nutzten. Wie insbesondere testamentarische Verfügungen dokumentieren, handelte es sich dabei nicht zuletzt um Strategien zur Vorsorge für Krankheit oder Alter. Größere Hypothekendarlehen von mehreren hundert Talern gewährten außer Privatpersonen diverse öffentliche Kassen, Bergbau- und Knappschaftskassen sowie Selbsthilfegenossenschaften wie Sterbe- oder Witwenkassen. Das Interesse der Gläubiger richtete sich zumeist auf die längerfristige Kapitalanlage zu festem Zins. Im Falle der Knappschaftskassen zeigte sich jedoch, dass die Darlehen wegen häufiger Zinsrückstände oder privater Konkurse per Saldo der Institution kaum Profite brachten. Allgemein versuchten die Gläubiger bei Zwangsversteigerungen oder im Erbfall, ihre Forderungen zu realisieren. Vor allem private Gläubiger schalteten die Gerichte ein, um säumige Schuldner unter Druck zu setzen. Allerdings orientierten Gläubiger wie Schuldner ihr Verhalten im Konfliktfall an Spielregeln einer "moralischen Ökonomie". Bei Verletzung der vertraglichen Vereinbarungen liefen beide Seiten Gefahr, ihre Ehre, also ihr Sozialkapital im lokalen Umfeld einzubüßen und letztlich auch materielle Nachteile zu erleiden. Die Kreditverhältnisse der Harzer Berg- und Hüttenleute sind zunächst als Sonderfall zu bewerten; denn die Bergleute behaupteten dank des Sozialprotektionismus der staatlichen Bergverwaltung eine exklusive berufsständische Stellung, die sich in Hausbesitz und Bürgerstatus niederschlug. Allerdings verweist der Fall zugleich auf Grundsätzliches, denn auch andernorts verfügten Angehörige ländlicher oder städtischer Unterschichten unter besonderen Bedingungen über Hausbesitz und Kredit.
Unter dem Titel "Haben und nicht haben" beleuchtete Alexandra Binnenkade (Basel) "Schuldnernetze als jüdisch-christliche Kontaktzonen in Lengnau und Endingen (Schweiz) im 19. Jahrhundert". Die Wirtschaft, insbesondere der Geld- und Warenhandel, so die Hauptthese dieses Beitrags, lag im Zentrum jüdisch-christlicher Kontaktzonen (M.L. Pratt) der beiden kleinen, ländlichen Ortschaften, die im 18. Jahrhundert der jüdischen Schweizer Bevölkerung als einzige Wohnorte zugewiesen waren. Dieser wirtschaftsvermittelte Kontakt nahm verschiedene Formen an, die sowohl als praktische Alltagssituationen untersucht werden können wie auch in ihren symbolischen Formen als Elemente unterschiedlicher Diskurse. Durch Leibzölle und Dorfgelder wurden die jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn wahrgenommen und formal anerkannt. Viele Metaphern, in denen über Juden gesprochen wurde, gehörten der Welt des Handels an; freilich implizierte dieses Sprechen immer auch Vorstellungen christlicher Identitäten. Im 19. Jahrhundert war Geld - bzw. seine Abwesenheit, also Schulden - ein zentrales Thema der Aargauer Gesellschaft. Dieser Kontext ist wichtig für die Interpretation der jüdisch-christlichen Kreditbeziehungen und der präsentierten Fallgeschichten. Im ersten Beispiel hatte ein christlicher Gläubiger (hier pikanterweise der ultramontane Publizist Johann Nepomuk Schleuniger) einem Kleineigentümer über lange Jahre Kredit gewährt; erst kurz vor dem Konkurs wurde die Forderung an einen Juden zediert, der dann am Ganttag (Zwangsversteigerungstag) als der sichtbare Eintreiber vor Ort präsent war. Diese Praxis steht in gewissem Gegensatz zum Stereotyp jüdisch-christlicher Schuldnerbeziehungen. Im dörflichen Kontext finden sich auch Jüdinnen als Gläubigerinnen von Juden, Christen als Gläubiger von Juden. Die Auswertung von Inventaren zwischen 1810 und 1875 ergab, dass hier Christen Juden nur kleinere (Konsum-)Beträge schuldeten. Größere Summen liehen sich die meisten bei städtischen Geldgebern, oftmals Beamten oder auch Pfarrern, die dem dörflichen Beziehungsgefüge ferner standen als Nachbarn. Am zweiten Beispiel, einer Gant, wurde einerseits deutlich, wie viele Personen in dieses Verfahren involviert waren und welche unterschiedlichen Beziehungen dabei eine Rolle spielten. Religion war nur ein Strukturierungselement dieser Beziehungen. Andererseits zeigte die Analyse den flexiblen Umgang Aargauer Frauen und Männer mit der Institution Gant. Vergantet zu werden war nicht nur ein zu erleidendes Schicksal. Die Gant konnte auch gezielt als Mittel zur Entschuldung des Konkursiten eingesetzt werden und diente dazu, unter die aufgelaufenen Schulden einen rechtlich sanktionierten Schlussstrich zu ziehen. Die verschiedenen Akteure verstanden es, kalkuliert mit einer solchen Situation umzugehen. Die Gant war Teil einer ländlichen Kultur im Umgang mit Eigentum.
Carola Lipp (Göttingen) trug "Einige Überlegungen zu den Perspektiven mikrohistorischer Kreditforschung" vor. Gestützt auf englisch-, französisch- und deutschsprachige Forschungen der letzten Jahre, hob sie drei grundlegende Gesichtspunkte hervor. Zum einen sei die zeitliche Dimension zentral: Kredit impliziere generell ein Vertrauen in die Zukunft aufgrund vergangener Erfahrungen. In der Regel seien kurzfristige und langfristige Darlehen deutlich unterschiedene Bereiche (G. Béaur). Oft sei ein saisonaler Rhythmus zu beobachten, teils in der Abrechnung (R. Johler), teils auch hinsichtlich des Einsatzes der geborgten Mittel. Zum anderen gelte es, die sozialen Akteure möglichst präzise zu erkennen. In manchen Gegenden ist bei den notariell beglaubigten Schulden eine Art soziale Kaskade von Kreditbeziehungen beobachtet worden, etwa dergestalt, dass Adelige an Angehörige des oberen Bürgertums und diese an Personen aus den Mittelschichten Geld verliehen (Ph. T. Hoffmann/ G. Postel-Vinay/ J.-L. Rosenthal). Für die Unterschichten wurden Kredite oft in nichtschriftlicher Form gewährt. Allerdings gebe es, so hob die Referentin hervor, erst wenige Mikro-Untersuchungen, die Gläubiger und Schuldner sozial einordnen. Zum dritten betrachtete Carola Lipp den Kredit als eine Form sozialer Beziehungen und fragte nach dem dahinterstehenden Netzwerk. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass nicht die ganze Gesellschaft gleichförmig von Kreditketten durchzogen sei, sondern dass es wichtige Sub-Cluster gebe, etwa in der Form, dass Handwerker vor allem an Handwerker verliehen. Die Netzwerke, in denen Kredit eine Rolle spielte, seien nicht ausschließlich ökonomischer Natur. Vielmehr konnten Kredite und insbesondere das Abschreiben von Krediten Ausdruck einer paternalistischen Ökonomie gegenüber den Klienten sein und der Stärkung von politischen Beziehungen dienen (L. Fontaine). Im Ancien Regime lasse sich oft eine relativ lasche Eintreibungs-Praxis beobachten. So wollten Obrigkeiten verhindern, dass Untertanen in völliger Armut versanken. In der Reichsstadt Esslingen etwa seien die Behörden erst beim Übergang an Württemberg gezwungen worden, die von Stiftungen vergebenen Kredite einzutreiben. Allgemein unterlagen nicht nur die Schuldner, sondern auch die Gläubiger einer moralischen Bewertung. Im 19. Jahrhundert habe das Vereinswesen eine wichtige Rolle bei der Bewertung des Rufs - und damit der Kreditwürdigkeit - der Mitglieder gespielt. Nur durch detaillierte Analyse sei zu ermitteln, wie weit Kredite jeweils Ausdruck von Profitinteresse oder aber Teil von Reziprozitätsbeziehungen waren.