Trotz der zunehmenden politisch-kulturellen und rechtlichen Integration innerhalb der Europäischen Union bestimmen Minderheitenkonflikte bis heute die politische Agenda Europas, was nicht erst durch die Aufnahme osteuropäischer Staaten in die Union wieder verstärkt ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten ist. Der Streit um die Beneš-Dekrete, die Konflikte um das Baskenland und um die Autonomie Korsikas bezeichnen noch immer aktuelle politische Auseinandersetzungen im heutigen Europa, die ihren Kern in Minderheitenkonflikten haben. Dabei scheinen viele dieser Konflikte mittlerweile als fast unlösbar: zu lange dauern sie an, zu verfestigt wirken die Fronten und nahezu alles Mögliche erscheint schon zum Versuch der Bewältigung unternommen. Trotz der je eigenen Genese und Spezifik dieser Minderheitenkonflikte ist ihnen die Bestrebung nach Loslösung vom Nationalstaat gemeinsam.
Mit der Frage der Geschichte und Gegenwart, sowie der politischen und rechtlichen Lösungsstrategien dieser oftmals gewaltsam ausgetragenen Konflikte beschäftigte sich die Tagung „Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in Europa“, die, veranstaltet von der Heinrich-Böll-Stiftung Saar, in der Katholischen Hochschule für Soziale Arbeit in Saarbrücken stattfand. Referentinnen und Referenten aus der Bundesrepublik und Österreich unternahmen dabei eine kritische Bestandsaufnahme des Minderheitenschutzes in Europa, den sie als eine zentrale Herausforderung der europäischen Integration ansahen.
Im ersten Teil der Tagung wurden anhand von konkreten Fallbeispielen Minderheitenkonflikte in Geschichte und Gegenwart dargestellt und so ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet, was erst Vergleichsmöglichkeiten eröffnete. Im zweiten Panel unter dem Titel „Minderheitenpolitik Europas: Stand und Kontroversität der Debatte um den europäischen Minderheitenschutz“ widmeten sich die Vorträge stärker übergeordneten Fragestellungen und der Einordnung der Thematik in politisch-rechtliche Dimensionen.
Im ersten Vortrag referierte Eva Hahn (Oldenburg) über die „Geburt“ der sudetendeutschen Volksgruppe und die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei. Hahn wies darauf hin, dass die Zuschreibungen „sudetendeutsche Volksgruppe“ und „deutsche Minderheit“ in der Tschechoslowakei bzw. der Tschechischen Republik keinesfalls deckungsgleiche Gruppen gefasst hätten bzw. fassten. Eine Gleichsetzung beider sei daher unangemessen. Auch die Bezeichnung „Sudetenland“ habe nie ein fest definiertes, kompaktes Territorium umschrieben, denn das so betitelte Gebiet unterlag in seiner Größe und seinem Grenzverlauf vielfachen Veränderungen. Die sudetendeutsche Volksgruppe sei erst mit dem Ende des Ersten Weltkrieges „geboren“ worden, zur Zeit des Zerfalls der dynastischen Staaten und habe von Anbeginn einen Opferstatus zum Kern ihrer Identität erhoben. Der Begriff „Sudetendeutsche“ war daher die Eigenbezeichnung der Gegner des tschechoslowakischen Staates und dessen Minderheitenregelung sowie der Anhänger des Anschlusses an das Deutsche Reich – somit Kennzeichen einer Anschlussbewegung.
Innerhalb der heterogenen deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei sei erhebliche Kritik an der „Sudetendeutschen Heimatfront“ geäußert worden, Hahn sprach sogar von einer „bürgerkriegsähnlichen Situation“ innerhalb der deutschen Minderheit. Nach Hahn sei der Begriff „Sudetendeutsche“ daher auch keine ethnische Bezeichnung, sondern eine Frage des politischen und kulturhistorischen Bekenntnisses – als Sudetendeutscher werde man nicht geboren.
Günther Pallaver (Innsbruck) schilderte die Geschichte und Dynamik des Südtirol-Konfliktes und ging insbesondere auf Anspruch und soziale Wirklichkeit der Konfliktlösung ein. Die Südtiroler definierten sich laut ihrer Verfassung nicht in Volks-, sondern in Sprachgruppen, nämlich in deutsch-, italienisch- und ladinischsprachige. Heute gelte in Südtirol eine subjektive Zuordnung zu der jeweiligen Sprachgruppe, man könne (und müsse) sich unabhängig von der Sprache zu einer Minderheit bekennen. Die Volksgruppe werde heute des Weiteren als Rechtssubjekt betrachtet, das Individuum sei dem Kollektiv klar untergeordnet.
Schon mit dem Pariser Vertrag von 1946 sei das Mehrheitsprinzip in Südtirol abgeschafft und ein Konkordanzmodell eingeführt worden, das eine strenge ethnisch-institutionelle Trennung beinhaltet habe. Mit der Südtiroler Landesverfassung von 1972 wurden nach Pallaver vier Prinzipien festgelegt: eine maximale Inklusion, nach der alle Sprachgruppen an der Regierungsmacht beteiligt würden und für wichtige Posten Rotationssysteme gelten; die Autonomie der jeweiligen Sprachgruppe in den Bereichen Schule und Kultur; ein ethnischer Proporz für die öffentliche Verwaltung; und schließlich ein Vetorrecht der Sprachgruppen im Landtag, dass bisher zwar nie benutzt, aber dessen Anwendung durchaus angedroht worden sei.
In der Realität zeigten sich aber vielfache Brüche in diesem „Modell maximaler Einbindung der Sprachgruppen“ (Pallaver). Es gebe einerseits einen Bruch in der Kontinuität der Eliten der italienischen Sprachgruppe, die sich nicht mehr angemessen von den bisherigen Parteien vertreten fühle. Weiterhin werde die Sprachgruppenautonomie durchbrochen, der ethnische Proporz teilweise außer Kraft gesetzt und auch das Vetorecht als stumpfes Instrument politisch missbraucht. Außerdem komme es mehr und mehr zu einer Erosion der starren Logik der ethnischen Trennung. Es gebe vermehrt Institutionen, soziale Bewegungen und neue Gruppen wie NGOs, die nicht bereit seien, sich nur einer Sprachgruppe zuzuordnen. Auch gerate die Südtiroler Verfassung verstärkt in Konflikt mit dem EU-Recht. Doch bisher gelte die alle zehn Jahre stattfindende Sprachgruppenzuordnung, eine persönliche Zugehörigkeitserklärung, um bestimmte Rechte – bspw. die Kandidatur bei Wahlen, den Anspruch auf Sozialwohnungen und den Beamtenstatus – erlangen zu können. Das subjektive Recht des Minderheitenschutzes hänge in Südtirol daher vom Kollektiv ab, die Südtirolerinnen und Südtiroler müssten sich in „ethnische Käfige“ (Pallaver) begeben. Dennoch gelte das Südtiroler Modell heute offiziell als erfolgreiches, für andere Minderheitenkonflikte beispielhaftes Modell eines Minderheitenschutzes.
Den korsischen Minderheitenkonflikt und dessen Genese stellte Dirk Gerdes (Aurich/Heidelberg) vor. Bevor Gerdes auf die Besonderheit des korsischen Beispiels einging, betonte er, dass Minderheiten grundsätzlich kein Faktum seien, sondern „gemacht“ würden und deren „Gemeinschaft“ ständig produziert und reproduziert würde. In Korsika herrsche ein regionales Sonderbewusstsein, das nicht a priori sprachlich-kulturell definiert sei. Relevant dafür sei der Stolz der Korsinnen und Korsen auf deren moderne Verfassungskonzeption, die bereits im Jahre 1764, noch vor der Französischen Revolution, entstanden sei. Als Ursprung des Konfliktes mit dem französischen Zentralstaat machte Gerdes die Ansiedlung französischer Algerienflüchtlinge, so genannter „pied-noirs“, in Südfrankreich und Korsika aus. Diese habe zu erheblichen Konflikten mit den Einheimischen einerseits um Besitzrechte auf Korsika geführt. Andererseits seien die Zuwanderer Träger einer Modernisierungspolitik bspw. im landwirtschaftlichen Sektor gewesen, die zu einem ökonomischen Interessenskonflikt mit den Korsen geführt habe. Dabei habe der französische Staat eine Fehlinterpretation dieser Situation geleistet, die den Konflikt verschärft habe. Laut Gerdes handele es sich in Korsika nicht um einen ethnischen Konflikt, was daran erkennbar sei, dass es nahezu keine Übergriffe auf Einwanderinnen und Einwanderer gebe.
Franz Valandro (Feldkirch) portraitierte den Baskenland-Konflikt, dessen Wurzeln bis ins 19. Jahrhundert reichten, als die dortige agrarisch-kleinbürgerliche Gesellschaft einem starken Modernisierungsschub ausgesetzt gewesen sei. Den baskischen Separatismus bestimmten drei Merkmale: das Streben nach einem unabhängigen Territorium, die Verteidigung der baskischen Sprache und die so genannte baskische Herkunft, die mythenverhaftet und rassistisch hergeleitet würde und einer „Blut und Boden“-Ideologie folge.
Zur Zeit des Franco-Regimes sei die baskische Minderheit starken Repressionen durch den spanischen Staat ausgesetzt gewesen. In dieser Zeit habe sich ein politischer Untergrund im Baskenland entwickelt. Die in diesem Spektrum begründete ETA habe neben dem Streben nach Unabhängigkeit zusätzlich sozialistische Elemente vertreten. Politisch übergeordnetes Ziel sei der Sturz Francos gewesen.
Nachdem Ende der 1970er-Jahre eine weitreichende Autonomie für das Baskenland verabschiedet worden war, die aber die ETA und ihr parteipolitischer Arm, die Herri Batasuna (HB) abgelehnt habe, sei die Autonomiebewegung gespalten gewesen. Die ETA sei in dieser Situation verstärkt zu Bombenattentaten übergegangen, was zu einer immer größeren Ablehnung in der Bevölkerung des Baskenlandes geführt habe. Nach 1989 habe es Versuche der Einigung der nationalistischen Bewegung gegeben, die aber nicht erfolgreich gewesen seien.
Erst mit dem 2003 öffentlich gewordenen Plan des baskischen Ministerpräsidenten Ibarretxe, der eine Unabhängigkeit des Baskenlandes vom spanischen Staat bis auf die Verteidigungs- und Währungspolitik vorsehe, habe ein erneuter Einigungsversuch der nationalistischen Kräfte Erfolg gehabt. Laut einer Umfrage wären 52 Prozent der Bevölkerung des Baskenlandes für diesen Plan. Der spanische Staat wolle aber ein Referendum über diesen Plan verhindern, nicht nur, weil er eine nicht abzusehende Folgewirkung für andere spanische Regionen wie etwa Katalonien habe. Auch würden darin Gebiete als Teil des Baskenlandes deklariert, in denen heute gar nicht baskisch gesprochen werde.
Im zweiten Panel mit dem Titel „Die Minderheitenpolitik Europas: Stand und Kontroversität der Debatte um den europäischen Minderheitenschutz“ unternahm Samuel Salzborn (Giessen) zu Beginn die Darstellung der historischen Entwicklung und der aktuellen Brisanz der Minderheiten- und Volksgruppenpolitik in Europa. Salzborn definierte dafür zunächst die Begriffe Minderheit und Volksgruppe: Während der Begriff der Minderheit am Individuum orientiert sei, dem Menschenrechtsschutz folge und eine politisch-dynamische Kategorie kennzeichne, bezeichne der statisch verwendete Begriff der Volksgruppe ein Kollektiv als ethnisch definierte Gruppe.
Salzborn machte vier Etappen der Entwicklung fest: die Phase nach dem ersten Weltkrieg, die Zeit des Nationalsozialismus, die Phase nach dem Kriegsende 1945 und die unmittelbare Gegenwart. In der ersten Phase habe es weitreichende und durch die Erfahrung des Ersten Weltkrieges bestimmte Bestrebungen gegeben, neue Minderheitenkonflikte und Friedensgefährdungen zu vermeiden. Durch die Pariser Vorortverträge von 1919/20 sei ein nahezu vorbildlicher, menschenrechtlich ausgerichteter Schutz vor negativer Diskriminierung vereinbart worden. Der Begriff der positiven Diskriminierung, also ein kollektivrechtlich ausgerichteter Mechanismus, sei damals unbekannt gewesen. Insgesamt habe man auch durch Grenzziehungen zu vermeiden versucht, „Staaten im Staate“ zu schaffen. Gegen den Versailler Vertrag dagegen sei das völkische Konzept einer „Volksbürgerschaft“ gerichtet gewesen, die nicht Staats-, sondern Volksgrenzen als gültig angesehen hätte. Der nationalsozialistische Staat habe mit seiner Fixierung auf die von den allgemeinen Staatsgrenzen abgegrenzte Volksgemeinschaft dieses Konzept zum Staatsprogramm erhoben und könne, so Salzborn, als „Eldorado der Volksgruppentheorie“ bezeichnet werden. Der Minderheitenschutz sei dagegen abgelehnt worden, was nicht erst der Austritt aus dem Völkerbund gezeigt hätte.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges habe es einen neuerlichen Versuch der Festlegung des individuellen Menschenrechtsschutzes mit der Gründung der Vereinten Nationen gegeben, der auf der gemeinsamen Erkenntnis basierte, dass das völkische Kollektivrecht Mitverursacher des Zweiten Weltkrieges gewesen sei. Doch seit einigen Jahren gebe es verstärkt Aufweichungstendenzen dieses Ansatzes, etwa, so Salzborn, in der 1992 verabschiedeten Europäischen Sprachencharta, die einem essentialistisch ausgerichteten Ansatz des Minderheitenschutzes folge. In neuerer Zeit würde vermehrt eine modellhafte, determinierte Lösung gesucht für völlig unterschiedliche Minderheitenkonflikte, womit eine Finalität der Entwicklung unterstellt werde.
Reinhold Gärtner (Innsbruck) ging in seinem Vortrag über „Ethnos und Demos – Individuum oder Kollektiv: Zur Frage des Subjektes in der Minderheitenpolitik“ insbesondere auf die Frage nach der Unterscheidung von autochthonen und allochthonen Minderheiten ein. Autochthone Minderheiten würde Homogenität, eine gemeinsame, klar fassbare Geschichte und Region unterstellt, während allochthone Minderheiten, die völlig heterogen seien, unter dem Begriff „Ausländer“ subsumiert würden. Die Kategorisierung als „Ausländer“ bewirke ein „ethnical revival“ insbesondere unter jugendlichen Angehörigen der dritten Generation von migrantischen Familien, die Ethnizität als Kompensationsmittel aufgrund der Nichtintegration in die Mehrheitsgesellschaft ansähen. Gärtner unterstrich die Pluralität von Identitäten und betonte, dass das Kriterium Ethnizität für „neue Minderheiten“ nicht geeignet sein könne – deren Status als Ausländer müsse geändert werden, weil er eine Homogenität konstruiere.
Über „Instrumentarien des Minderheitenschutzes in Europa“ referierte abschließend Sabine Riedel (Berlin). Nach einem historischen Überblick über minderheitsrechtliche Dimensionen völkerrechtlicher Vereinbarungen wie der Pariser Vorortverträge, der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 und der UN-Menschenrechtspakte von 1976 ging Riedel ausführlich auf seit 1990 vermehrt in Europa auftretende Forderungen nach Kollektivrechten ein. Dabei verwies sie darauf, dass es keine allgemein verbindliche Festlegung dessen gebe, was eine Minderheit definiere. Ebenso sei der Nationsbegriff nicht festgelegt.
Als kollektivrechtlich argumentierende Rechtsakte bezeichnete Riedel etwa das „Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten“ des Europarats von 1995. In der Bundesrepublik werde der Status einer nationalen Minderheit durch fünf Kriterien festgelegt: Vorraussetzung sei die deutsche Staatsangehörigkeit; eine eigene Sprache, Kultur und Geschichte; die Bewahrung der Identität; ein angestammtes Siedlungsgebiet; sowie das Kriterium, traditionell heimisch in Deutschland zu sein. Nach diesen Kriterien gelten nur Dänen, Friesen, Sorben und Sinti und Roma als Minderheiten in der Bundesrepublik. An diesem Katalog gebe es Kritik, da etwa Nichtsstaatsangehörige und Migrantinnen und Migranten nicht als Minderheit anerkannt würden. Nach Riedel würden so Minderheiten erster und zweiter Klasse geschaffen. Dies führe zu einer Wiederbelebung des ethnischen Nationskonzeptes. Riedel sprach sich dagegen für eine effektivere Kontrolle zur Umsetzung der Menschenrechte auf Basis der UN-Charta, der Erklärung der Menschenrechte, der UN-Menschenrechtspakte sowie der Deklaration zum Schutz der Angehörigen nationaler, ethnischer und religiöser Minderheiten aus.
Als Fazit der Tagung kann die Feststellung bezeichnet werden, dass die Spezifik jedes einzelnen Minderheitenkonfliktes genau analysiert werden muss und allein daraus Gegenmaßnahmen abzuleiten sind. Determinierte Lösungen für völlig unterschiedliche Konflikte kann es nicht geben. Gemeinsam war allen Vorträgen überdies die Ablehnung essentialistischer Kategorien und eine deutliche Kritik kollektiv ausgerichteter Schutzmechanismen und rechtlicher Maßnahmen, die Minderheitenkonflikte nicht nur nicht lösen, sondern sogar dynamisieren und verschärfen können. Minderheitenschutz müsse als Antidiskriminierungsschutz am Individuum ausgerichtet sein, nur so ließen sich gewaltsame Konfliktsituationen, wie sie in den einzelnen Vorträgen thematisiert wurden, verhindern bzw. beheben. Als Kritikpunkt an der Tagung bleibt festzuhalten, dass leider insgesamt viel zu wenig Raum für die Diskussion der gerade dazu anregenden Vorträge blieb.