Die Fertigstellung eines neuen Internetportals über jüdisches Leben in drei europäischen Regionen war der Anlass, zu dieser Tagung einzuladen, um die Chancen historischen Lernens mit den inzwischen nicht mehr so gänzlich neuen "neuen Medien" auszuloten. 40 MultiplikatorInnen aus Museen, Schulen, Gedenkstätten und Erwachsenenbildung beteiligten sich an dieser Erkundung. Der Tagungsort - das Jüdische Museum Westfalen - versteht sich auch als lebendige Bildungs- und Kultureinrichtung; das Westfälische Landesmedienzentrum als Mitveranstalter unterstützt die außerschulische und schulische Bildungsarbeit seit langem mit Fortbildungsprogrammen und der Produktion und Bereitstellung von Filmen, DVDs etc.1
Zu den Ambitionen der Veranstaltung (und des Internetprojekts) gehörte es, einen Beitrag zu leisten zu vielfältigeren Bildern des europäischen Judentums und zu komplexeren Lernprozessen - einer "Enttypisierung" insofern also, als schulisches Lernen und gesellschaftliche Diskurse weithin vom Stereotyp der Juden als Opfer kontinuierlicher Verfolgung gekennzeichnet sind. Dem stellen die Autorinnen und Autoren der Website eine Sicht- und Darstellungsweise entgegen, die an individuellen und z.T. subjektiven "Geschichten" ansetzt: an Biografien, "unerhörten Begebenheiten", den Geschichten von Gebäuden, Straßen und Institutionen. Juden werden durch diese Sichtweise als Handelnde präsentiert, die Geschichte und Kultur Europas in hohem Maße mitgeprägt haben. Die Vielfalt dessen, was jüdische Geschichte, jüdisches Leben und Kultur in Europa früher bedeutete und heute ausmacht, wird so vermittelt, ein erster Blick auf die unterschiedlichen Narrative wird möglich. Die multimediale Website ist in allen Bereichen dreisprachig, Schüler, Lehrer und allgemein historisch Interessierte in Deutschland, Polen und den Niederlanden können sich in ihrer jeweiligen Muttersprache informieren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darstellung jüdischen Lebens jenseits der Metropolen, in den drei europäischen Regionen Westfalen, Groningen und Lublin.2
Das Internetportal "Jüdisches Leben in Europa jenseits der Metropolen" wurde unter der Leitung des Westfälischen Landesmedienzentrums in Münster in Zusammenarbeit von drei Bildungs- und Erinnerungsorten realisiert: Das Jüdische Museum Westfalen (JMW) in Dorsten, das Zentrum "Brama Grodzka - Teatr NN" im polnischen Lublin und die Stiftung "Folkingestraat Synagoge" in Groningen in Kooperation mit dem Regionalhistorischen Centrum der Groninger Archive erarbeiteten ein Jahr lang die Inhalte der Website. Gefördert wurde das Projekt von der Europäischen Union im Rahmen des Programms "Kultur 2000".
Das Eingangsreferat von Prof. Susanne Popp (Universität Siegen) zeigte noch einmal die Ausgangslage auf: Von welchen Bildern und welchen Schulbuchmaterialien werden Lehr- und Lernbemühungen über jüdische Geschichte dominiert? Nur wenige Stichworte zu ihrem ernüchternden Befund: Die Bücher haben durchschnittlich 7 Seiten für die Themen Nationalsozialismus und Shoa übrig, begriffliche Genauigkeit hinsichtlich komplizierter deutsch-jüdischer Identitäten fehlt in der Regel, ein jüdisches Leben nach 1945 findet nicht statt... Zwar finden sich Ausläufer eines "iconic turn" auch in den Schulbüchern, doch - so die Expertin - eher als schlichte Vermehrung der Bildquellen angesichts grassierender Leseverweigerung, nicht aber als Anleitung für einen quellenkritischen Umgang mit den gängigen Fotografien. Sie akzentuierte ihr Urteil am Beispiel der in Nordrhein-Westfalen zugelassenen Hauptschul-Geschichtsbücher, unterstrich aber, dass auch die Lehrwerke anderer Schulformen immer noch vergleichbare Mängel aufweisen. "Immer noch" insofern, als viele Jahre nach den Empfehlungen der deutsch-israelischen Schulbuchkommission und den späteren vergleichbaren Empfehlungen des Leo-Baeck-Instituts3 eigentlich alle Defizitbeschreibungen und Vorschläge zu ihrer Abhilfe ausreichend bekannt sein könnten. Die Verantwortung für solche offenkundigen Mängel werde in der Regel zwischen den Akteuren - Autoren, Redaktionen, Verlag und Ministerien - hin und hergeschoben, was Popp zu dem Vorschlag motivierte, öffentliche Foren für eine Schulbuchkritik zu schaffen, die nicht wirkungslos verpufft.
Neben der Präsentation der Website und ihrer Strukturen durch einige ihrer MacherInnen trat ein Testbericht derer, die als "Endabnehmer" gedacht waren. Dorstener Schülerinnen, die im vergangenen Schuljahr selbst eine Internetseite über "Jüdische Lebenswege in Westfalen"4 erarbeitet hatten, berichteten über ihre Eindrücke hinsichtlich der Verständlichkeit und Motivationskraft des EU-Projekt-Portals. Sie bescheinigten dem Projekt in beiden Dimensionen eine hohe Qualität, betonten aber nicht ohne Selbstbewusstsein auch die Stärken ihrer eigenen Präsentation, die z.B. auch die Reflexion und Darstellung ihrer Annäherungsprozesse an das Thema "Jüdisches Leben" enthält.
Zu Beginn des zweiten Teils der Veranstaltung gab Robert Gücker, Referent für Medienbildung im Westfälischen Landesmedienzentrum, eine kurze Einführung in das Begriffsfeld zum "Geschichtslernen im Internet" und erinnerte an einige unbeantworte grundsätzliche Fragen: Wie kann Lernen mit Medien genau erfasst und beschrieben werden? Sind Medien eine Unterstützung autonomer LernerInnen (oder ein Vorwand, diese allein zu lassen)? Wie kann eine aktive Medienarbeit an Vorwissen und subjektive Orientierungen anschließen? Svenja Büsching, Doktorandin an der Universität Münster und selber Lehrerin, ging in ihrer Präsentation der Frage nach, ob Internetportale im Geschichtsunterricht "neue PC-orientierte Lernwege oder [eine] multimediale Sackgasse" darstellen. Sie stellte ebenso unterschiedliche Internetportale zum Geschichtslernen selbst vor wie Möglichkeiten, diese im Unterricht einzusetzen: Surfboards, Lagepläne und didaktische Szenarien nannte sie hier in ihrem konstruktiven Vortrag. Die im Vortragstitel gestellte Frage beantwortete sie zwiespältig: Zwar eröffne das Internet vielfältige Möglichkeiten für einen innovativen Geschichtsunterricht, doch erfordere der Einsatz der Webportale ein ausgeprägtes technisches Know-How, genaueste Auswahl und eine intensive Vorbereitung des Unterrichts.
Zwei weitere Workshops widmeten sich ebenso den Praxisproblemen des historischen Lernens mit Medien - einer mit dem Schwerpunkt auf den didaktischen Möglichkeiten des neuen Portals "Jüdisches Leben in Europa", ein anderer ging allgemeiner der Frage nach dem Einsatz "neuer Medien" in der Bildungsarbeit nach.
Mitarbeiter des Jüdischen Museums und der Geschichtslehrer Kurt Langer (Marl) präsentierten und diskutierten die mit dem Portal sich ergebenden neuen Chancen des Lernorts Jüdisches Museum Westfalen: Die Dauerausstellung des Museums "Jüdische Lebenswege in Westfalen"5 weist nämlich viele Berührungspunkte mit dem neuen Portal auf. Arbeitsteilige individuelle Vorbereitungen eröffnen z.B. vertiefte Chancen des "peer guiding", also der Erschließung und wechselseitigen Präsentation von Ausstellungsteilen durch Mitglieder der besuchenden Schülergruppen.6 In der Nachbereitung von Museumsbesuchen können die im Museum ausschnittsweise dargestellten Biografien in größerer Komplexität erschlossen werden. Thomas Ridder (JMW) unterstrich allerdings die These, dass den medialen Angeboten im Museum nur eine unterstützende Funktion zukomme, das Museum selbst aber weiterhin wesentlich mit der Überzeugungskraft seiner Originale arbeite. Wiewohl die schulischen Zwänge zunehmen und so die Aussicht auf anspruchsvolle und zeitintensive Lernarrangements mindern, wurden am Beispiel des "Perspektivischen Schreibens"7 auch weitere Szenarien für "Lerntage" und Ähnliches erörtert, in denen das Portal und seine qualifizierten Links zur Quellensammlung für forschend-erkundendes Lernen werden können. Das Resümee der Gruppe: Die neue Website kann organisierte Einführungen in ihr Thema nicht ersetzen, sondern bietet motivierende Dokumente und Erzählungen zur Anreicherung von Lernprozessen.
Ob und wie sich griffige Anschaulichkeit sowie geschichtswissenschaftliche Fundierung von Inhalten im Multimedia-Bereich in Einklang bringen lassen, stellten Julia Volmer-Naumann und Stefan Querl aus dem Team des Geschichts-Lernorts Villa ten Hompel (Münster) an Hand von drei aktuellen Pilotprojekten aus Nordrhein-Westfalen zur Diskussion. Die mediale Aufbereitung von Ausstellungen und deren Chancen an einem außerschulischen Lernort wurden hier verdeutlicht. Auf reges Interesse stieß dabei eine technisch besonders animierte und historisch ambitionierte Anwendung aus der neuen Ausstellung "Wiedergutmachung als Auftrag" am Geschichtsort der Stadt Münster, die Raub oder Enteignung jüdischen Besitzes unter dem NS-Regime, aber eben auch die (oft leider völlig unzureichenden) Rückerstattungsbemühungen in der Nachkriegszeit nachvollziehbar machen soll. Das ebenfalls vorgestellte (in Kürze ans Netz gehende) Projekt "www.lebensgeschichten.net" der nordrhein-westfälischen Gedenkstätten wurde als besonders gelungenes Feature angesehen, in dem sich die Bereitstellung biografischer Quellen mit Anregungen zur Quellenkritik verbindet. Das Fazit dieser Arbeitsgruppe fiel ähnlich aus wie das des parallel tagenden ersten Workshops. Ergänzt durch inhaltliche Vorbereitungen und Einführungen kann es erreicht werden, "per Mouseclick zu mehr Quellenkritik?!" - so der Vortragstitel - zu gelangen.
Die generellen Schlussfolgerungen der Veranstaltung können nur ambivalent sein: Der erschreckende Rückstand schulischer Medien (und vermutlich auch von Teilen des Unterrichts) gegenüber dem fachlichen Diskussionsstand zur Vermittlung jüdischer Geschichte könnte entmutigen; andererseits ist ebenso deutlich geworden, welche ermutigenden Ausnahmen (z.B. das von den Dorstener Schülerinnen selbst erarbeitete Portal) es landauf, landab gibt und wie die heutige Generation der Medien "subversive" Möglichkeiten eröffnet, neben dem Leitmedium des Schulbuchs und den Rastern der ministeriellen Lehrpläne neue Fragestellungen und Arbeitsweisen zu forcieren - und das vergleichsweise kostengünstig. Zu achten wäre also zukünftig - so unser subjektiver Schluss - nicht lediglich auf diese wichtigen Medien und Rahmenvorgaben, sondern mindestens ebenso auf die Erhaltung von Freiräumen für ein probierendes Lernen jenseits curricularer Laufställchen und für eine kreative Professionalität und Weiterentwicklung der Lehrenden.
Anmerkungen:
1 Weitere Mitveranstalter waren das Bildungswerk der Humanistischen Union (Essen), der Geschichtsort Villa ten Hompel (Münster) sowie die Medienberatung NRW.
2 Die neue Website ist zu finden unter den Adressen www.juedisches-leben.net/ - www.joods-leven.net/ - www.zydzi-zycie.net/.
3 Die "Orientierungshilfe für Lehrplan- und Schulbucharbeit sowie Lehrerbildung und Lehrerfortbildung" der LBI-Kommission für die Verbreitung deutsch-jüdischer Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland ist nachzulesen und herunterzuladen auf der Website des Jüdischen Museums Frankfurt: www.juedischesmuseum.de/materialien/orientierungshilfe.html.
4 www.petrinum-dorsten.de/lebenswege
5 Vgl. Marc von Miquel, Jüdische Lebenswege in Westfalen. Das Jüdische Museum Westfalen und seine neue Dauerausstellung zur westfälisch-jüdischen Geschichte, in: Hartmut Steinecke/Iris Nölle-Hornkamp/Günter Tiggesbäumker (Hgg.), Jüdische Literatur in Westfalen. Spuren jüdischen Lebens in der westfälischen Literatur, Bielefeld 2004 - zum Museum vgl. auch die Website www.jmw-dorsten.de.
6 Das Konzept ist in Deutschland unseres Wissens erstmals unter dem Titel "fü(h)reinander" von der Berliner Gedenkstätte "Haus der Wannseekonferenz" erprobt und formuliert worden - vgl. Elke Gryglewski/Christoph Kreutzmüller, fü(h)reinander. Ein didaktisches Konzept zur arbeitsteiligen, wechselseitigen Führung durch die Ausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz zum Thema "Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft - Entrechtung, Vertreibung und Vernichtung", Berlin 2000.
7 Näheres siehe unter www.hu-bildungswerk.de/onlinearchiv_perspektivischesschreiben0704.php.