Die Nachwuchstagung versammelte eine Gruppe von geisteswissenschaftlichen Examenskandidaten und Doktoranten aus Deutschland, Polen und der Schweiz an eher ungewöhnlichem Ort: in der altmodisch-charmanten Hütte „Strzecha Akademicka“, der einstigen „Hampelbaude“, am Hauptkamm des Riesengebirges. Sie erwies sich schnell als idealer Ort für konzentriertes Arbeiten und Diskutieren. Fast alle Teilnehmer stellten einen Abriss oder einen Teilaspekt ihrer laufenden Qualifikationsarbeiten vor. Die Tagung führte nicht nur die Ansätze der Sommerakademie des Herder-Instituts aus dem Jahre 2005 zur politischen Mythosforschung fort, sondern auch eine Reihe von gemeinsam mit dem Willy-Brandt-Zentrum (vertreten von Direktor Dr. Krzysztof Ruchniewicz und Mitorganisator Dr. Jarosław Suchoples) organisierten deutsch-polnischen Nachwuchstagungen zur schlesischen und zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen.
Dr. Heidi Hein (Marburg), die die Tagung von Seiten des Herder-Instituts organisiert hatte, umriss in ihrem Einführungsvortrag „Die Prägung historischen Bewusstseins und Identität durch Erinnerungsorte und Mythen“ den Stand der zugrunde liegenden Methodologie. Sie stellte die beiden Arbeitsbegriffe in den Kontext der Nationalismusforschung, zeigte gerade am Mythos dessen Grundfunktionen (Sinnstiftung, Integration, Legitimation und mitunter Emanzipation) und verschiedene Kategorisierungsmöglichkeiten auf.
In seinem Impulsvortrag zum „Mythos Vertreibung“ spitzte Prof. Dr. Hans Henning Hahn (Oldenburg) die Unterscheidung zwischen Ereignisgeschichte und Gedächtnisgeschichte anhand eines brandaktuellen Komplexes zu. Nach einer Sondierung der faktizistischen Zahlendickichte und einem Rundgang von den biblischen Quellen über die absorbierende Semantik, die identitätsstiftende Funktion, den politischen Gebrauch und die völkerrechtliche Aufblähung des Vertreibungsbegriffs fragte Hahn „Warum wird dieser Mythos trotz Wiedervereinigung und Europa-Perspektive noch gebraucht?“. Er stellte fest, dieser „eigentliche Gründungsmythos der Bundesrepublik“ sei nach wie vor virulent, und warnte, dass die ungebrochene Selbstviktimisierung der Deutschen sie zunehmend von ihren Nachbarn isoliere.
Das Referat von Christian Lotz (Leipzig) „Flucht, Vertreibung und die deutschen Ostgebiete in den erinnerungspolitischen Debatten des geteilten Deutschland“ fiel in den Thesen zurückhaltender aus. Lotz bot dafür aufschlussreiche Einblicke in den politischen Streit der fünfziger und sechziger Jahre um die damals jüngste Vergangenheit. Unter den in beiden Staaten wirkenden Akteuren arbeitete Lotz vor allem die ambivalente Rolle der evangelischen Kirche heraus, die sich hier als territorial verfasste schlesische Restkirche (Oberlausitz/Görlitz), dort als „Gemeinschaft evangelischer Schlesier“ (Hannover) in einer schlesischen Kontinuität sah und entsprechend positionieren musste.
Anna Kochanowska-Nieborak (Poznań) machte in ihrem Vortrag „Zur Rolle der Selbst- und Fremdbilder in den Nationsbildungsprozessen“ die „Überlegungen zum deutschen Polenbild im 19. Jahrhundert“ an Artikeln in Konversationslexika fest, einer Quellengattung, die wegen ihrer Doppelrolle als Spiegel und Multiplikator weit verbreiteter Vorstellungen und Stereotypen Beachtung verdient. In ihren Ausführungen am Beispiel der Auflagen von Meyers Konversationslexikon vor dem Ersten Weltkrieg fokussierte die Referentin besonders auf den Zusammenhang zwischen der Eigenwahrnehmung „der Deutschen“ (vertreten durch einige bildungsbürgerliche, nationalliberal-protestantisch gesonnene Lexikographen) und ihrer Fremdwahrnehmung der Polen, die nicht nur in diesen Quellen eine verblüffende Komplementarität aufweisen.
Auch Benjamin Schäfer (Kiel) machte mit seinem Vortrag „Deutsche und polnische Reiseführer zu Posen/Poznań im 19. und 20. Jahrhundert“ deutlich, wie ergiebig man mit ungewöhnlichen Quellen arbeiten kann. Schäfer postulierte, dass Reiseführer historische und politische Entwicklungen ebenso abbilden wie den Kontext, in dem sie entstanden, und dass sie ihren Lesern Deutungsmuster anbieten. Für den Untersuchungszeitraum 1870 bis 1956 untersuchte Schäfer etwa institutionelle und gesellschaftliche Verankerung der Verfasser oder den Niederschlag der System- und Herrschaftswechsel; im Ergebnis stellte eine deutliche Konvergenz von Nationalismus und Tourismus fest, die in den untersuchten Quellen in Text, Illustration, Routenführung usw. suggestive „nationale Stadttopographien“ hervorbringt.
Magdalena Parus-Jaskułowska (Wrocław) wählte für ihren Vortrag „Können Städte eine Nationalidentität haben? Zur mythologischen Polonisierung einer Stadt“ einen noch kleineren Ausschnitt: einen frühen, knappen polnischen Stadtführer über Breslau. Er war 1948 anlässlich zweier propagandistischer, die Westverschiebung Polens legitimierender Großveranstaltungen verfasst worden, nämlich für die Besucher der „Ausstellung der Wiedergewonnenen Gebiete“ und des „Internationalen Intellektuellenkongresses für den Frieden“. Die Referentin fasste die sorgfältig analysierte Quelle als Paradigma, um Konstruktionsmechanismen des politischen Mythos aufzuzeigen: Universalisierung, Täuschung, Glorifizierung, Stereotypen und Prophetisierung.
Andrzej Michalczyk (Erfurt) behandelte in seinem Referat „deutsche und polnische Mythen in Oberschlesien“, indem er die „Feierpraxis zwischen den Weltkriegen“ verglich. Unter anderem anhand von Polizeiberichten stellte er dar, wie in Festen nicht nur Konsens und Loyalität zur Schau gestellt wurden, sondern auch die inneren Konfliktlinien der oberschlesischen Bevölkerung, die hier bei weitem nicht immer entlang nationaler Selbst- und Fremdbeschreibung verliefen. Michalczyk stellte im Rahmen seines Untersuchungsbereichs die Wirksamkeit polnischer und deutscher Nationalisierungspolitik in Oberschlesien in Frage.
Dagmara Margiela (Wrocław/Rosskilde) stellte in ihrem Vortrag “Between Eastern Borderlands and Regained Territories. Lower Silesian ways of using the past” die beiden wohl wirksamsten politischen Mythen der Nachkriegszeit im polnischen Niederschlesien vor, die sie mittels einer Diskursanalyse von Tagespresse und Publizistik systematisch erfasst. Sie relativierte die in der neueren Forschung verbreitete Gegenüberstellung von den „Wiedergewonnen Gebieten“ als kommunistisch-staatsoffiziellem und dem „Verlorenen polnischen Osten“ als zivilgesellschaftlich-oppositionellem Narrativ, wies auf die Wandlungen beider seit 1989 hin und warf die Frage auf, wie unsicher die niederschlesische Bevölkerung ihrer Beheimatung noch sei, da die Mythisierung der Landschaft anhalte.
Maximilian Eiden (Bad Wurzach/Stuttgart) griff bei seinem Vortrag „Gedächtnis, Macht, Nation. Transnationale Erinnerungsorte im deutsch-polnischen Spannungsfeld“ das Piastengedächtnis in Niederschlesien heraus, und skizzierte das Aufeinandertreffen zweier Erzählungen im Jahr 1945: eines deutschen Lokalgedächtnisses der schlesischen Zweige der Piastendynastie, das vor allem in einer Überformung der Kulturlandschaft (wie den Resultaten der Denkmalpflege des 19. und 20. Jahrhunderts) fortlebt, und des zu einem propagandistischen „Piastenmythos“ erhobenen allgemeinpolnischen Piastengedächtnisses (bei dem die Königsdynastie mit ihren hochmittelalterlichen Leistungen im Vordergrund steht).
Stefan Guth (Bern) machte „Mythen und Erinnerungsorte“ auch „in den deutsch-polnischen Historikerbeziehungen der Nachkriegszeit (1945-1970)“ aus. Seine auf die Historikerbeziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen konzentrierten Ausführungen zeigten sozusagen die Konstrukteure der Vergangenheit selbst am Werk und offenbarten tief greifende, wenngleich durch die politischen Vorgaben kaum offen auszutragende Konflikte ideologischer wie geschichtsphilosophischer Art. Guth machte sie mit einem Modell der „weißen und schwarzen Flecken“ in der Wahrnehmung der jeweils eigenen wie der anderen Nationalgeschichte sinnfällig.
Der Text der erkrankten Annika Frieberg (Mainz) „Nachbar Polen – Hansjakob Stehle und die westdeutschen Mythen über Polen in der Nachkriegszeit“ wurde vorgelesen. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, wie wichtig unter den Bedingungen der Blockkonfrontation und einer weitgehend unaufgearbeiteten Zeitgeschichte das Engagement und die persönlichen Kontakte einzelner „Brückenbauer“ wie Stehle waren – und von welchen unausgesprochenen Rücksichten und Kompromissen ihre Arbeit bestimmt wurde.
Nicola Hille (Tübingen) untersuchte unter dem Motto „Mythen im Bild“ die „Mythenbildung in politischen Plakaten der UdSSR und DDR“ anhand eines suggestiven Beispiels – des Handschlags zwischen Pieck und Grotewohl als Symbol für die (realiter unter Zwang erfolgte) „Wiedervereinigung der Arbeiterbewegung“, in der Folge für deren unzertrennliche Einheit und für sozialistischen Zusammenhalt überhaupt.
Der Landschaftsarchitekt Marcus Cordes (Hannover) wagte in seinen Ausführungen zu „Landschaft – Topik – Erinnerung“ nichts weniger als eine anhand zahlreicher neuerer Raumkunstwerke illustrierte Sondierung der kulturtheoretischen Grundlagen des Umgangs mit Landschaft und Raum. Diese, so Cordes’ Plädoyer, könnten und sollten „zum Sprechen gebracht“ werden. Er zeigte auf, wie vorgefundene ebenso wie dem Ort „zugesprochene“ Erinnerung in reflektierter Weise und mit Rücksicht auf den mündigen Betrachter behutsam visualisiert werden kann.
Alexandra Klei (Berlin/Cottbus) sprach demgegenüber nicht aus Sicht des Gestalters, sondern der Analytikerin über „Architektur der nationalsozialistischen Konzentrationslager und ihre Bedeutung für Erinnerung und Gedenken“. Unter der Voraussetzung, dass ein „Konzentrationslager „ etwas fundamental anderes ist als eine „Gedenkstätte“ fragte sie nach den unausgesprochenen Erwartungen von Besuchern, dem Verhältnis der verbliebenen Architekturelemente zu jenen, schwer darstellbaren, die heute verschwunden sind, und insgesamt nach den Funktionen von Relikten und Neugestaltungen für die heutige „Nutzung“ und „Aneignung“ des Ortes Konzentrationslager.
Thomas Ditt (Berlin) stellte unter dem zitierten Schlagwort „Stoßtruppfakultät Breslau“ eine „Studie zur Rolle der Breslauer Rechtswissenschaft in den Jahren von 1933 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung des Faches Rechtsgeschichte und der Arbeit der Rechtswissenschaftlichen Abteilung des Osteuropa-Instituts“ vor. „Mythische“ Mechanismen sah er in der (mit der Zeit auf Kosten wissenschaftlicher Standards) radikal politisierten Arbeit der Breslauer Juristen vielfach am Werk – etwa bei der Selbststilisierung des durch die Vertreibung jüdischer Akademiker geschaffenen Karrieresprungbretts als „Stoßtruppfakultät“ oder bei dem fachlich nicht zu begründenden Konstrukt des „Ostrechts“, das hier entwickelt wurde und in der Bundesrepublik noch lange nachwirkte.
Ingo Wiwjorra (Berlin) führte die Teilnehmer mit seinen Ausführungen „‚Germanen’ und ‚Slaven’ in Ostmitteleuropa als Autochthone und Allochthone“ tief hinein in die Wissenschaftsgeschichte von Archäologie und Ur- und Frühgeschichte. Die Frage ob das eine oder das andere vermeintliche Großethnikum in die Gebiete zwischen Elbe und Weichsel einst einwanderten oder aber das Land seit Urzeiten als Alteingesessene besiedelte, machte Wiwjorra an prominenten Stimmen (Herder, Schlözer etc.) seit dem 18. Jahrhundert fest und stellte sie in den Kontext der mächtepolitischen und der nationalismusgeschichtlichen Entwicklung. Überraschenderweise scheinen beide Mythen, jener vom „Erstgeburtsrecht“ wie jener von einer „Landnahme“ Anwesenheit und Vorrang einer Gruppe legitimieren zu können.
Andreas Hemming (Halle) führte die Teilnehmer in ein den meisten völlig fremdes Land: Albanien. Sein Vortrag, der den schwierigen letzten Abschnitt seiner Arbeit über staatliche und nationale Repräsentation im Stadtbild Tiranas im 20. Jahrhundert vorstellte („Die Stadt als Spiegel der Macht. Die Entwicklung Tiranas als albanische Hauptstadt zur Zeit der Königsdiktatur 1928-1939“), wuchs sich durch viele Nachfragen und die kundigen Erklärungen des Referenten zu einem Kurzseminar in albanischer Geschichte aus, vor deren Horizont der schwer zu deutende Befund von Hemmings Forschungen Gestalt annahm: Das auffällige Desinteresse des Königs Zogu an einer architektonischen Repräsentation von eigenständigem Gepräge (er zog es vor, den faschistischen Städtebau Italiens ohne „albanisierende“ Eingriffe zu übernehmen) stehe neben ungebremster, aber nicht zu finanzierender Residenz-Megalomanie und reflektiere eine Machtmechanik, die sich auf Abschreckung, auswärtige Protektoren und Stammesstrukturen stützte. Eine Erklärung müsste die Abkoppelung Albaniens von der europäischen Gesellschaftsentwicklung berücksichtigen, die zumindest im besprochenen Zeitraum Nationalismus und Führerkult als Mobilisierungs- und Legitimationsinstrumente noch völlig ungeeignet erscheinen ließ.
Bereits die Einführungsvorträge hatten Fragen zu den verwendeten Erklärungsmodellen Mythos und Erinnerungsort für bestimmte Äußerungen des historischen Bewusstseins von Gesellschaften aufgeworfen. Nachdem eine Reihe von Vorträgen gezeigt hatte, wie gewinnbringend dieses analytische Werkzeug eingesetzt werden kann, kam es darauf an, die Vereinbarkeit dieser Ansätze, die in der Forschung oftmals ohne Bezug zueinander bleiben, zu prüfen. Durch eine Reihe entsprechender Thesen in den Vorträgen gesellte sich ihnen ein drittes Model hinzu, das der historischen Stereotypen, für das mit Prof. Hahn ein ausgewiesener Fachmann anwesend war. Dabei konnte es nicht um die Errichtung eines quasi-philosophischen Systems für künftige Methodenkapitel gehen, vielmehr bemühten sich die Teilnehmer der Abschlussdiskussion um Selbstdistanz und die Beantwortung der Frage, was man denn tue, wenn man mit solchen Zugängen den Umgang mit der Vergangenheit untersucht.
Bei den Erinnerungsorten, definiert als „Kristallisationspunkte der Erinnerung“ wurde ein statisches Element des „Anknüpfungspunktes“ oder der „Wegmarke“ für verschiedene (mythische und nicht mythische) Erzählungen ausgemacht. Als bei aller Zähigkeit sehr dynamisch erschienen den Teilnehmern die (politischen und historischen) Mythen, jene sakralisierte Erzählungen über die Welt, deren einfachste Gestalt noch in ihren komplexesten Ausformungen erkennbar bleibt. Die Einordnung vieler Einzelteile von „Erinnerungsorten“ wie „Mythen“ als Stereotypen könne vielleicht helfen, ihre Funktionen wie Orientierung, Selbstbestätigung und Komplexitätsreduktion besser zu verstehen. Schließlich zeigten sich viele Teilnehmer skeptisch, dass die Wissenschaft wirklich eine Außensicht auf solche irrationalen und reduktiven Zugriffe auf die Vergangenheit einnehmen könne, betonten aber die Notwendigkeit, dass eine rational-kritische Geschichtsbetrachtung neben ihnen als Korrektiv sich behaupten müsse.