Die Südwestdeutsche Konferenz zur Medizin- und Wissenschaftsgeschichte wird seit etwa 30 Jahren jeden Herbst vom Institut für Geschichte der Medizin der Universität Freiburg veranstaltet. Bislang diente sie vornehmlich dem Austausch über aktuelle Forschungsprojekte des Fachgebietes aus der näheren und weiteren Region und brachte Wissenschaftler aus Süddeutschland, Frankreich und der Schweiz zusammen. In diesem Jahr wurden konzeptionelle Änderungen vorgenommen, um den gegenwärtigen Ansprüchen des Wissensaustausches besser gerecht werden zu können. Die Vorträge des Vormittages wurden unter ein gemeinsames Thema gestellt, während der Nachmittag der Information über laufende und abgeschlossene Forschungsprojekte diente.
Als Titel für die Tagung wurde „Medizin, Politik und Industrie im 20. Jahrhundert. Wandlungsprozesse und Wechselwirkungen“ gewählt. In diesem Titel spiegelt sich die Grundausrichtung des Freiburger Instituts, das sich vor allem der Kulturgeschichte der Medizin und speziell der Geschichte der Biomedizin widmet, wider. Bei der Auswahl der zuvor eingereichten und evaluierten Beiträge ergab sich mit der Geschichte der Pharmakologie und der Arzneimittel ein deutlicher Themenschwerpunkt. Ins Blickfeld traten vor allem die gesellschaftliche Einbindung der Pharmakologie, die Frage nach den jeweils zeitgenössischen Umfeldbedingungen für die Entwicklung, Herstellung, Verbreitung und nicht zuletzt die soziale Akzeptanz oder Ablehnung therapeutischer Substanzen. Das rezente Interesse an diesen Themen korreliert mit den aktuellen Forschungen des Freiburger Instituts: Seit August 2005 läuft hier ein von der DFG gefördertes Forschungsprojekt zur Geschichte der Arzneimittelstandardisierung und deren gesetzlicher Überwachung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1955 und 1980.
Die Vorträge am Vormittag beschäftigten sich mit Wechselwirkungen zwischen Medizin, pharmazeutischer Industrie und staatlichen Regulierungsinitiativen. Den Beginn machte Jonathan Simon (Straßburg), der ein DFG-Projekt zur industriellen Produktion und gesetzlichen Regelung von Diphtherie-Impfstoffen zwischen 1893 und 1905 vorstellte. Im Mittelpunkt dieses Projekts steht der Vergleich von pharmaindustriellen, universitären und staatlichen Engagements für die Herstellung und Kontrolle von Diphtherie-Impfstoffen in Frankreich und Deutschland. Simon machte deutlich, dass die Produktion und Überwachung der Impfstoffe in diesen beiden Ländern erheblich differierte. In Deutschland ergriffen private pharmazeutische Unternehmen (beginnend mit Hoechst) die Initiative zur Herstellung. Der Staat förderte diese und übte mittels des von Paul Ehrlich (1854-1915) geleiteten Instituts zur Serumtestung eine nur lockere Kontrolle aus. Im Unterschied dazu wurde in Frankreich die Serumproduktion zentral organisiert, indem der Staat Herstellung und Kontrolle in die Hände des Institut Pasteur legte. Private Unternehmen waren in Frankreich nicht beteiligt.
Christina Ratmoko (Zürich) stellte Aspekte ihrer Dissertation zu industriell hergestellten Geschlechtshormonen zwischen 1918 und 1940 vor. Anhand von Archivmaterial der Basler Ciba untersuchte sie das Verhältnis von Industrielabors und Kliniken, wobei sie eine enge Kooperation zwischen pharmazeutischer Industrie und forschenden Ärzten bei der Entwicklung, Anwendung und Prüfung der Präparate konstatierte. Einerseits kaufte Ciba die Rechte an neuen Entwicklungen im Wettbewerb mit anderen Pharmaunternehmen von wissenschaftlich tätigen Medizinern auf, andererseits gab das Unternehmen die Prüfung der so entstandenen Medikamente in die Hände eines weiteren Personenkreises von Ärzten, deren Publikationen zu Wirkungen und Nebenwirkungen der untersuchten Substanzen durch Ciba kontrolliert wurden. Auf diese Weise versuchte das Unternehmen pharmakologische Forschungsergebnisse zu seinen Gunsten zu beeinflussen.
Hans-Georg Hofer (Freiburg) folgte mit Überlegungen zur Geschichte der männlichen Wechseljahre im 20. Jahrhundert, dem umstrittenen „Climacterium virile“. Dieses seit den 1990er-Jahren in der Medizin und Öffentlichkeit breit diskutierte Phänomen ist nicht neu. Die Grundidee einer Problematik des alternden Mannes ist fast so alt wie die Medizin selbst und wurde vor allem in den 1920er und 1930er-Jahren, unter dem Einfluss der aufkommenden Endokrinologie, diskutiert. Hierbei waren die Diskussionen über das Klimakterium des Mannes stets eingebettet in zeitgenössische Diskurse über fragile Männlichkeiten. Hofer zeigte zudem den interessengeleiteten Umgang mit diesem Phänomen: Während einerseits Andrologen mit Hinweis auf biochemische Erklärungsmuster darauf insistieren, dass es die Wechseljahre „wirklich“ gibt und sich deren Entdeckung auf die Fahnen schreiben, sehen Kritiker in dieser Bezeichnung eine erfundene Krankheit im Sinne eines Phantasieprodukts, das Männerärzte und Pharmaindustrie aus klientelstrategischen und finanziellen Interessen geschaffen hätten.
Als letzten Beitrag stellte Nicholas Eschenbruch (Freiburg) unter der Fragestellung „Unbedenklich, wirksam, transparent?“ das eingangs erwähnte DFG-Projekt zur Geschichte der Pharmakologie und Arzneimittelgesetzgebung in der Bundesrepublik zwischen 1955 und 1980 vor. Arzneimittelregulierung wurde dabei als komplexer Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Akteuren von Pharmaindustrie, medizinischer Forschung, Politik und Öffentlichkeit betrachtet, an dem zeitspezifische Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit und regulatorischen Kompetenzen untersucht werden können.
Cay-Rüdiger Prüll (Freiburg) hob in seinem zusammenführenden Kommentar hervor, dass sich alle Vorträge als kulturhistorische Beiträge zur Pharmakologiegeschichte des 20. Jahrhunderts begreifen ließen. Des Weiteren stellte er fest, dass sie sich allesamt mit Aushandlungsprozessen zwischen verschiedenen Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft befassten. Diese Prozesse legen fest, wann, warum und wie ein Arzneimittel zur Produktion und Anwendung kam. Allerdings waren die Prämissen der einzelnen Beiträge unterschiedlich. Simon und Eschenbruch untersuchten die Arzneimittelzulassung und -prüfung auf dem „medical marketplace“ im Allgemeinen – Simon für die Pionierphase der Arzneimittelherstellung und -regulierung Ende des 19. Jahrhunderts, Eschenbruch für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, welche durch zunehmende Demokratisierung und Mitbestimmung der Öffentlichkeit charakterisiert ist. Ratmoko beleuchtete in ihrem Vortrag spezifische Aushandlungsprozesse zwischen Ärzten und der Pharmaindustrie. Hofer hingegen ging es um die Frage, unter welchen Bedingungen es überhaupt dazu kommt, ein Arzneimittel herstellen und anwenden zu wollen. Prüll schloss seine Ausführungen mit der Anregung, die einzelnen Akteure der Aushandlungsprozesse zu Entscheidungen im Umgang mit Arzneimitteln in zukünftigen Forschungsprojekten noch stärker in den Blick zu nehmen.
Am Nachmittag wurden Projekte mit unterschiedlicher thematischer Ausrichtung vorgestellt und diskutiert. Den Beginn machte Marcel Bickel (Bern) mit seiner Untersuchung internationaler medizinhistorischer Lehrbücher von 1696 bis 2000. Bickel kam bei seinen quantitativen Erhebungen zu dem Ergebnis, dass in den 1990er-Jahren so viele medizinhistorische Lehrbücher veröffentlicht wurden wie nie zuvor. Überraschend war auch sein Befund, dass deutschsprachige Lehrbücher zur Geschichte der Medizin hinsichtlich ihrer Gesamtzahl an erster Stelle standen. Daran anschließend stellte Philipp Osten (Stuttgart) am Beispiel des Somnambulismus sein Projekt zur Sozialgeschichte des Schlafs vor. Der sozialgeschichtliche Wandel des Schlafs in den vergangenen 250 Jahren lässt auf die Öffnung eines spannenden Forschungsfeldes hoffen. Zum Thema „Literatur und Medizin“ präsentierte Florian Steger (Erlangen) das von ihm mit herausgegebene und neu erschienene gleichnamige Lexikon. Das Lexikon enthält eine Vielzahl medizinhistorisch-literaturwissenschaftlicher Einträge, die einen Überblick über die literarische Auseinandersetzung aller Epochen mit der Heilkunde geben wollen. Steger plädierte für eine stärkere Auseinandersetzung der Medizingeschichte mit literarischen Behandlungen ihrer Themenbereiche.
Das letzte Panel war erneut dem 20. Jahrhundert gewidmet. Bernd Grün (Tübingen) sprach über die Tübinger Anthropologin Sophie Ehrhardt (1902-1990) und die „Zigeunerforschung“ nach 1945. Ehrhardt führte ihre Forschungen nach 1945 ohne ethische Bedenken mit Daten fort, die sie als Mitarbeiterin der Berliner „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ (unter der Leitung von Robert Ritter) zwischen 1938 und 1942 erhoben hatte. Dies passte gut in den Zeithorizont: Bis in die 1970er-Jahren wurden die Thesen von einer „Minderwertigkeit“ der „Zigeuner“ offen vertreten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanzierte Ehrhardt von 1966 bis 1970 ein Forschungsprojekt, dass eine genealogisch-anthropologische Auswertung der „Zigeunerkartei“ zum Ziel hatte. Erst in den 1970er-Jahren, als Interessengruppen der Sinti und Roma vehement und öffentlichkeitswirksam ihren Status als NS-Opfer einklagten, kam es zu einem Bewusstseinswandel. Den Abschluss bildete Angelika Uhlmann (Greifswald) mit einem Vortrag über die Entwicklung der weiblichen Sportbekleidung im 20. Jahrhundert. Diese ist in unmittelbarem Zusammenhang mit der zunehmenden Sportausübung durch Frauen zu sehen. Die daran anschließende Diskussion drehte sich vor allem um die Frage, ob die Geschichte der Sportbekleidung von einer „Befreiung“ des weiblichen Körpers handelt, oder ob die zunehmend knappere Kleidung stets auch gegenläufige Interessen verfolgte.
Insgesamt wurde die neue Ausrichtung der Konferenz durch die Teilnehmenden als Erfolg gewertet, da sowohl die Möglichkeit bestand, mittels eines Schwerpunktthemas aktuelle Fragen der medizinhistorischen Forschung kohärent und produktiv voranzutreiben, als auch über die laufenden Aktivitäten von Kolleginnen und Kollegen an anderen Instituten informiert zu werden. In diesem Sinne wurde für 2006 eine weitere Auflage der Konferenz ins Auge gefasst, die sich voraussichtlich mit dem Thema „Medizin und Krieg“ befassen wird.