Die vor genau 1200 Jahren in ‚Diedenhofen' erlassene "Divisio regnorum" Karls des Großen war Anlass für Prof. Dr. Brigitte Kasten, eine internationale Runde von Historikern ins nicht weit vom heutigen Thionville liegende Saarbrücken zu rufen. Die Konzeption des Symposions "Herrscher- und Fürstentestamente im westeuropäischen Mittelalter" griff jedoch in Fragestellung und Epoche weit über die karolingische Reichsteilung von 806 hinaus. Mit der Tagung verband sich die "Hoffnung, zu neuen Erkenntnissen über die mittelalterliche Staatlichkeit zu gelangen, weil die dafür einschlägigen Herrschertestamente bzw. herrscherlichen erbrechtlichen Verfügungen noch nie für diese Fragestellung herangezogen worden sind, ausgenommen in Einzelfällen wie der "Divisio regnorum"." 1
Tatsächlich erwiesen sich im Laufe der Tagung die Herrschertestamente als vielfältige und fruchtbare Quellengattung für neue verfassungshistorische Ansätze - nach dem Eingeständnis mehrerer Referenten auch als spannender und aufschlussreicher als man zuerst hätte vermuten mögen.
Angesichts des mit 30 Vorträgen mehr als dichten Programms der Tagung können nur wenige Ergebnisse und neu aufgeworfene Fragestellungen hier nachgezeichnet werden.
Herrschertestamente bilden keine homogene Textgattung, ihr Reiz liegt gerade im Changieren zwischen der pragmatischen Schriftlichkeit eines "household document" (J. Gillingham, London) und dem offiziellen Charakter eines "politischen Vermächtnis". In nahezu allen Vorträgen erwies sich, dass Herrscher dreierlei in ihren letztwilligen Verfügungen zu regeln bestrebt waren: die Verteilung (privaten?) weltlichen Vermögens, die Sorge für das eigene Seelenheil und schließlich die Nachfolge in der Herrschaft. Verwirrend für den Rechtsgelehrten, aber ertragreich für den Historiker ist dabei die epochentypische Verwobenheit von Weltlichem und Geistlichem, Öffentlichem und Privatem, Herrschaft und Eigentum. Selbst der Versuch des Kirchenrechts, zumindest den kirchlichen Würdenträgern die Trennung von privatem Vermögen und qua Amt erworbenem Kirchengut aufzuerlegen und ihre Testierfreiheit auf Ersteres zu beschränken, scheiterte in der Praxis weitgehend, wie die Vorträge im Hinblick auf Bischöfe (J. Semmler, Düsseldorf) und Päpste (S. Weiß, Paris) erwiesen. Und auch hinsichtlich der von M. Thumser (Berlin) und K. van Eickels (Bamberg) behandelten Testamente der staufischen Herrscher war noch in der Schlussdiskussion Erstaunen darüber zu hören, dass diese entgegen aller Mitspracherechte der Fürsten über das Reich letztwillig "wie über einen Erbhof" verfügt hätten. M. Thumsers neue Deutung des sogenannten Testaments Kaiser Heinrichs VI. als eines Vertragsentwurfs, bei dem es sich um das geheimnisvolle "höchste Angebot" des Kaisers an Papst Coelestin III. gehandelt habe 2, stieß freilich auf breite Zustimmung.
Die Verschränkung von Vermögensverteilung, letztwilliger Schuldentilgung und Nachfolgeregelung mit dem Aspekt der Vorsorge für das Seelenheil, welche sich in nahezu allen thematisierten Herrschertestamenten niederschlug, lässt sich nirgends besser zeigen als in den Testamenten derer, die eigentlich nicht testieren dürfen, nämlich exkommunizierter Herrscher. So lassen sich sowohl das Testament Friedrichs II. (K. v. Eickels, Bamberg) als auch das Graf Raimunds VI. von Toulouse (J. Oberste, Regensburg) nur dann schlüssig verstehen, wenn man das alle sonstigen Ziele überragende Bestreben in Rechnung stellt, noch rechtzeitig vom Bann gelöst zu werden.
Ob sich das Diktum des aufgeklärten Staatswissenschaftlers August Ludwig Schlözers - der Gleichheit schlage das Erbrecht eine tödliche Wunde - auch auf die "Divisio regnorum" von 806 beziehen ließe, ob also Karl unter seinen Söhnen den Ältesten bevorzugen wollte, ist in der Forschung lange umstritten gewesen, und auch zum 1200. Jahrestag der Reichsteilung wurde diese Frage erneut diskutiert (S. Kaschke, Bremen; D. Hägermann, Bremen; R. Schieffer, München; Abendvortrag J. Fried, Frankfurt/Main). Doch kamen hier auch neu entdeckte Quellen zur Sprache, wobei die noch unedierten, aber bereits mündlich kursierenden Zeilen Theodulfs von Orléans, welche die Homosexualität des bevorzugten Sohnes erweisen sollen 3, gewiss von geringerer Bedeutung sind als das neuentdeckte Pariser Fragment der "Divisio". Dessen Auswertung durch M. Tischler (Frankfurt/Main) erwies eine neue, rezeptionsgeschichtliche Perspektive auf das Dokument als die eigentlich fruchtbare Sicht; sie ließ zudem eine Neuedition unausweichlich erscheinen.
Die erfolgreiche komparatistische Anlage der Tagung würde eine eingehendere Würdigung verdienen als sie hier möglich ist; so sprachen zu Frankreich E. A. R. Brown (New York) und M. Gaude-Ferragu (Paris), zu England J. Gillingham (London) und J. Rogge (Mainz); zu Byzanz, dem lateinischen Osten und dem arabischen Orient R.-J. Lilie (Berlin), R. Hiestand (Düsseldorf) und P. Thorau (Saarbrücken). Hervorzuheben ist auch die bermerkenswerte Breitenwirkung des Symposions 4, vor allem aber der gelungene Dialog von mediävistischer Geschichtswissenschaft und Rechtsgeschichte, der sich auch, aber nicht allein aus den rechtshistorisch orientierten Vorträgen etwa von T. Chiusi (Saarbrücken) und M. Becher (Bonn) ergab. Während D. Klippel (Bayreuth) dafür plädierte, rechtshistorische Begriffe weiterhin als "rettende Balken im Fluss der Geschichte" zu ergreifen, unternahm es M. Becher (Bonn), zumindest die Termini "Eintritts- und Anwachsungsrecht" gründlich zu dekonstruieren.
Das zusammenfassende Schlussreferat hatte die Tagungsleitung G. Melville (Dresden) anvertraut. Ihm gelang es in einem furiosen rhetorischen Bogen, die in der Luft liegenden Auffassungen der Herrschertestamente zusammenzubinden und auf Kantorowicz' Lehre von den ‚Zwei Körpern des Königs' zu münzen. Mit der Formulierung, die drei in den Testamenten geregelten Bereiche - Vermögen, Seelenheil, Nachfolge - ließen sich mit den beiden Körpern des Königs identifizieren, zu denen als Drittes die Seele des Königs trete, erweiterte Melville nicht nur Kantorowicz' Programm um den für den Moment des Herrschertodes schlechterdings entscheidenden Punkt, sondern brachte auch im Tagungsplenum alle Saiten zu einem zustimmenden Schwingen. Allein ein anderer Argumentationsstrang Melvilles wurde als problematisch empfunden: Es sei nämlich das dynastische Prinzip die entscheidende Triebkraft aller Herrschertestamente, und dieses bestehe im Streben danach, "Blutslinie und Sukzessionlinie" in Deckung zu bringen und damit letztlich Herrschertestamente ebenso überflüssig zu machen wie Königswahlen. Die "Magie des Blutes", so wörtlich und mit Verweis auf die "consanguinitas" in cap. 18 der "Divisio Regnorum", stehe hinter den Nachfolgeregelungen der mittelalterlichen Könige. Dass Melvilles Wortwahl auf umgehenden Protest stieß, ist ebenso deutsch wie sehr richtig, doch wurde bedauerlicherweise die Frage nach der sachlichen Richtigkeit der Analyse von der Diskussion um die Angemessenheit der Wortwahl verdrängt. Ging es den königlichen Testatoren wirklich um "Blut"? Hatte man nicht in 30 Vorträgen über herrscherliche Testamente auch von Adoptionen gehört, von Konrads Designation Heinrichs I., vom Ausschluss von Töchtern, Illegitimen, Kranken und Geistesschwachen, von der Bevorzugung Weniger oder eines Einzelnen unter den Vielen, in denen königliches Blut floss? Es besteht gar kein Zweifel daran, dass Verwandtschaft ein entscheidender Faktor mittelalterlicher Herrschertestamente und Nachfolgeregelungen war, doch kann es der Mediävistik nicht neu sein, dass "verbindend und verbindlich" (Melville) für Verwandtschaft mehr und anderes als nur die Blutsbeziehungen waren 5, und dass Dokumente wie die "Divisio regnorum" ihrerseits einen Beitrag dazu leisteten, consanguinitas als komplexes Beziehungsnetz zu konstituieren. Doch sei freimütig eingeräumt, dass dieser sachliche Dissens das intellektuelle Vergnügen nicht trüben kann, einem Redner wie dem Genannten bei der Zusammenfassung einer außerordentlich lebendigen und ertragreichen Konferenz zu lauschen.
Für viele der in Saarbrücken behandelten Felder musste die Quellengrundlage erst einmal erarbeitet werden, so für die Testamente der Herrscher in England, Frankreich, den Kreuzfahrerstaaten und dem muslimischen Orient, aber auch für die Testamente mittelalterlicher Königinnen im römisch-deutschen Reich, die bislang noch nie systematisch zusammengestellt wurden. Auch aus diesem Grund, vor allem aber weil die Beschäftigung mit den Herrschertestamenten neue Perspektiven auf das Private und das Öffentliche in mittelalterlicher Herrschaft eröffnen kann, wird man der geplanten Veröffentlichung der Beiträge gespannt entgegensehen.
Anmerkungen:
1 Kasten, Brigitte, Konzeption der Tagung, http://www.uni-saarland.de/fak3/kasten/testamentetagung/konzeption.pdf (15. 2. 2006)
2 Brief Heinrichs VI. vom 17. November 1196 an Coelestin III. (RI IV,3, 572); dazu Gerhard Baaken in DA 27 (1971), S. 457-513.
3 Dazu demnächst Fuchs, Franz, Mochanaz. Zur handschriftlichen Überlieferung der Gedichte des Theodulf von Orléans, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters (so angekündigt unter http://www.geschichte.uni-wuerzburg.de/a_www/personal/fuchs_publ.htm).
4 Vgl. Jungen, Oliver, Ein Königreich für mein Seelenheil. Wenn Herrscher testieren: Eine innovative Konferenz in Saarbrücken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.02.06, S. 41.
5 Vgl. als neueren Überblick über die mediävistische Verwandtschaftsforschung den Beitrag von B. Jussen in Oexle, Otto Gerhard; Schmitt, Jean-Claude (Hgg.), Les tendances actuelles de l'histoire du Moyen Âge en France et en Allemagne, Paris 2003; sowie für den von Melville angeführten Begriff der "consanguinitas" nur den gleichnamigen Aufsatz von K. Schreiner, Consanguinitas - Verwandtschaft als Strukturprinzip religiöser Gemeinschafts- und Verfassungsbildung in Kirche und Mönchtum des Mittelalters, in: Crusius, I. (Hg.), Beiträge zu Geschichte und Struktur der mittelalterlichen Germania Sacra, Göttingen 1989.