Être en guerre - Erfahrungen und Erinnerungen. Der Zweite Weltkrieg in Europa

Être en guerre - Erfahrungen und Erinnerungen. Der Zweite Weltkrieg in Europa

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Paris und Militärgeschichtliches Forschungsamt Potsdam in Zusammenarbeit mit den Deutschen Historischen Instituten London, Moskau, Rom und Warschau und dem Institut d’Histoire du Temps Présent Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
03.04.2006 - 04.04.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Annika Kropf (Erlangen) Holger Kozminski (Konstanz)

Die überkommenen Nationalgeschichten des Zweiten Weltkriegs stehen in jüngster Zeit auf dem Prüfstand der historischen Forschung. Neue Fragen und Ansätze, wie sie etwa von einer sozial-, mentalitäts- und kulturgeschichtlich erweiterten Militärgeschichte ausgehen, lassen das Kriegsgeschehen in seinen unterschiedlichsten Facetten erscheinen. Erste Vergleiche lassen transnationale Zusammenhänge erkennen. Das Interesse auch der Öffentlichkeit gilt nicht zuletzt der Rolle der Zivilbevölkerung im Krieg. Was soll, was kann da eine Europäisierung der Geschichte des Weltkriegs leisten? Dieser Leitfrage ging eine internationale Expertenrunde am 3. und 4. April 2006 in Paris nach.
Unter dem Titel »Être en guerre – Erfahrung und Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in Europa« hatten das Deutsche Historische Institut Paris (DHIP) und das Militärgeschichtliche Forschungsamt Potsdam (MGFA) Historikerinnen und Historiker aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Polen und Rußland zu einem Kolloquium eingeladen.1 Die Konzeption von Jörg Echternkamp (Potsdam/Paris) und Stefan Martens (Paris) sah zum einen vor, zunächst länderspezifische Kriegserfahrungen und -erinnerungen über die vermeintliche Zäsur von 1945 hinweg in den Blick zu nehmen, zum anderen über den nationalgeschichtlichen Tellerrand hinaus den Blick auf größere und kleinere Staaten in West- und Osteuropa auszuweiten. Krieg und Nachkrieg sollten, wie Echternkamp in seinem Einführungsvortrag betonte, stärker als bisher aufeinander bezogen werden. In der Zusammenschau der länderspezifischen Beiträge solle sich zeigen, wo die Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Geschichte des Zweiten Weltkriegs lägen, wo sich strukturelle Gemeinsamkeiten und wo sich Unterschiede feststellen ließen.

Benelux

In der ersten, den Benelux-Staaten gewidmeten Sektion, in die Pieter LAGROU (Brüssel) einführte, schlug Benoît MAJERUS (Luxemburg/Brüssel) die Brücke zum Ersten Weltkrieg mit Hilfe des Konzepts des »Erfahrungsraumes«, das auf Reinhart Koselleck zurückgeht. Deutsche NS-Funktionäre, Intellektuelle und Historiker, die zwischen 1940 und 1944 an der Gestaltung der Okkupation der Beneluxstaaten beteiligt waren, konnten auf solche »Erfahrungsräume« schon zurückgreifen. Majerus unterschied drei Erfahrungen, die untrennbar mit einem Raum verknüpft waren: der Erste Weltkrieg, die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets und des Rheinlandes sowie die Westforschung. Anhand mehrerer Biographien, in denen sich die Bezüge zu diesen Räumen manchmal sogar summieren, wurde klar, dass auf einer »Mikroebene«, nämlich in der Praxis der Okkupation, ein Personenkreis maßgeblich beteiligt war, der seine älteren Erfahrungen und lokalen Prägungen bei der Besetzung der Beneluxstaaten anwand.

Nach diesem Bezug auf den Erfahrungshintergrund der Deutschen widmete sich Chantal KESTELOOT (Brüssel) dem jeweiligen nationalen Stellenwert des Zweiten Weltkrieges in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg. Als gemeinsamen Nenner der Erinnerungskultur dieser drei Staaten hob sie die systematisch eingesetzten Gedenkfeierlichkeiten (Commémorationisme) sowie die Tendenz zur Einnahme einer Opferrolle (Victimisation) hervor. Unterschiede zeichneten sich aber zwischen Luxemburg und den Niederlanden auf der einen Seite und Belgien auf der anderen Seite ab. Unmittelbar nach dem Krieg herrschte in den Niederlanden und in Luxemburg noch das Bild einer Nation de héros (Lagrou) vor, die Widerstand geleistet und Juden vor der Deportation gerettet habe. Dies war jedoch – wie sich bald herausstellte – nicht in dem angenommen Maße der Fall. In Belgien dagegen sei der Widerstand von Anfang an ambivalent, wenn nicht negativ betrachtet worden. In beiden Fällen ordneten sich die nicht anerkannten »Helden« nun in die Gruppe der Opfer ein und konkurrierten gar in der Frage, wer größeres Leid ertragen habe.

Begleitet wurde dieser Wandel von einer zunehmenden Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg in Publikationen, Fernsehserien und Kinofilmen, die sich sehr an Zeitzeugenberichten orientierten. Dieser Prozess trat in den drei Ländern jedoch zeitlich versetzt ein. Das zeigen die Gründungsdaten der jeweiligen historischen Forschungseinrichtungen – in den Niederlanden schon 1945, in Belgien Ende der 1960er-Jahre und in Luxemburg erst im Jahre 2002. Weitere Unterschiede treten zu Tage, wenn man nach der Rolle des Zweiten Weltkriegs für die nationale Identität fragt. In Luxemburg und in den Niederlanden erschien der Zweite Weltkrieg nach der Neutralität 1914–18 als eine Gelegenheit des Kampfes für das Vaterland, wobei in den Niederlanden zudem an eine Tradition des Widerstandes und des Kampfes für das freiheitlich-demokratische System angeknüpft werden konnte. In beiden Fällen habe der Zweite Weltkrieg eher konsolidierend auf die nationale Identität gewirkt, wohingegen in Belgien das Gegenteil der Fall zu sein schien und sich die Kluft zwischen Flamen und Wallonen noch vertiefte.

Großbritannien

Nicht nur eine »Nation der Widerstandskämpfer« im eigenen Land, sondern eine Nation der Retter Europas, geführt von Winston Churchill, stand im Mittelpunkt des Mythos, der in Großbritannien durch eine selektive Erinnerung konstruiert wurde. Im Beitrag von John RAMSDEN (London), den Richard BESSEL (York) vortrug, ging es daher auch eher um Opfer im Sinne von Sacrifice als von Victimhood. Ramsdens These, dass der Sieg im Zweiten Weltkrieg für die Briten sowohl die Greatest Reality als auch der Greatest Myth gewesen sei, erklärt sich, wenn neben dem unbestrittenen Sieg Großbritanniens auch seine Verluste in der Kriegszeit und seine Ablösung als imperialistische Großmacht durch die USA betrachtet werden. Diese Verluste berechtigen gar zu der Frage, so Ramsden, ob Großbritannien den Sieg gegen Deutschland nicht so teuer bezahlt hatte, dass es schon einer Niederlage gleichkam. Im Bewusstsein der Briten würden die Verluste bis heute durch den siegreichen Kampf gegen Nazideutschland verdrängt, wie Slogans beim Fußball, Zeitungstitel und Umfragen immer wieder zeigten. Erst seit den 1980er-Jahren und auch dies nur sehr bedingt sei es Historikern gelungen, diese einseitige Fixierung auf den Sieg gegen das Dritte Reich zu einem weniger selektiven Bild des Zweiten Weltkrieges auszuweiten. Warum dieser Versuch nur wenig Erfolg hatte, hänge – so Ramsdens Fazit – mehr mit der Suche der Briten nach einer neuen Rolle in der Welt zusammen als mit den historischen Tatsachen von 1940/41.

Einem schon während des Krieges konstruierten positiven Kriegsbild widmete sich auch Mark CONNELLY (Canterbury): We can take it ! – diesen Progagandaslogan stellte er seinem Beitrag über die britische Homefront voran, denn diese heroische, aufopfernde Grundhaltung der britischen Zivilbevölkerung angesichts der deutschen Luftangriffe habe die Darstellungen des Zweiten Weltkrieges lange Jahre geprägt. Der Soziologe Richard Titmuss schrieb dieser Krisenzeit sogar den positiven Effekt zu, die Gesellschaft über alle Klassen hinweg zusammengeschweißt zu haben. Erst in den 1970er-Jahren wurde am makellosen Bild der Homefront gekratzt: Erstmals tauchten negative Aspekte wie Schwarzmarkt, Korruption oder eheliche Untreue in Filmen und Büchern auf. In den frühen 1990er-Jahren wurde nicht nur der Mythos in Frage gestellt, sondern auch danach gefragt, wie und warum er propagiert wurde. 1991 argumentierte Angus Calder in The Myth of the Blitz, dass die Regierung durch ihre einseitige Darstellung der deutschen Luftangriffe auf London den Heroismus der Heimatfront erst erzeugt habe, während Clive Pointing vermutete, sie habe mit der Überbetonung des Widerstands von 1940 bewusst über die inneren Spaltungen und Krisen Großbritanniens hinwegtäuschen wollen.

Connellys Beitrag relativierte die Zäsur von 1945 besonders deutlich. Seiner Meinung nach wurden nach dem Krieg nur Geschichtsbilder und Deutungsmuster verbreitet, die bereits während des Krieges konstruiert worden waren. Im Gegensatz zu Ramsden jedoch, der den Sieg gegen das NS-Regime heute stärker denn je in der britischen Identität verankert sieht, stellt Connelly einen fundamentalen Wandel fest, wie er zum Beispiel in Lehrplänen widerspiegele. Die Homefront und auch der Blitz würden dort mehr und mehr hinterfragt und nicht mehr idealisiert, während die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust im Mittelpunkt stünden.
In der von Matthias Reiss (London) geleiteten Diskussion zeigte sich, dass die Erinnerung nicht nur von der Erfahrung in der Vergangenheit, sondern auch von ihrer eigenen Gegenwart mitbestimmt wird. So feierte die britische Bevölkerung den Sieg im Falklandkrieg 1982 nach dem Muster der Siegesfeiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Polen und Rußland

Die Widersprüche in der nationalen Erinnerungskultur der osteuropäischen Staaten zeigte die polnische und russische Sektion, die von Jochen Böhler (Warschau) und Bernd Bonwetsch (Warschau) geleitet wurde. Die polnische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg war bis Ende der 1980er-Jahre durch offizielle Vorgaben seitens der UdSSR geprägt. Dies spiegelte sich, so Piotr Madajczyk (Warschau), deutlich in den Forschungsschwerpunkten der 1960er- und 1970er-Jahre wider. Arbeiten zur deutschen Besatzungspolitik seien aus politischen Gründen besonders gefördert, die Frage nach der sowjetischen Rolle vor Kriegsbeginn sowie die alltägliche Beziehung Polens zur Sowjetmacht dagegen weitgehend ausgeblendet worden.

Mit dem Zusammenbruch der UdSSR setzte nach Jahrzehnten der kollektiven Verdrängung persönlicher Erinnerungen eine Aufarbeitung und Umdeutung der Kriegserinnerung statt. Der staatliche Druck nahm ab. In einer Umfrage Anfang der 1990er-Jahre gab die Mehrzahl der befragten Polen an, ähnlich schlimme Erfahrungen unter deutscher und sowjetischer Besatzung gemacht zu haben. Viele gingen gar soweit, das »sowjetische Joch als drückender zu empfinden«. Aufgrund der begrenzten Möglichkeit wissenschaftlicher Forschung fand die Aufarbeitung polnischer Kriegsvergangenheit mehr im öffentlichen Raum statt. Die Erforschung der letzten Kriegsmonate zwischen Befreiung und neuer Unterjochung zeige, dass in der polnischen Geschichte 1945 keine eindeutige Zäsur für politische und kulturelle Prozesse zu sehen sei. Der Generationenwechsel in der polnischen Forschungsgesellschaft ist ein wichtiger Faktor für die Veränderung der Kriegswahrnehmung. Offen blieb die Frage, welchen Stellenwert der Zweite Weltkrieg im Gedächtnis der verschiedenen Generationen hatte und wie »stark er das (heutige) politische Denken beeinflusst« (Madajczyk).

Im Gegensatz zu Polen wird die russische Weltkriegsforschung noch weitgehend von alten sowjetischen Denkstrukturen beherrscht. Sergej Kudrjašov (Moskau) schilderte zunächst, wie der Krieg in der ehemaligen Sowjetunion wahrgenommen wurde und wie die kollektive Erinnerung an den Krieg heute aussieht. Das Kriegsende wurde in der ehemaligen UdSSR zunächst als Beginn einer neuen glücklichen Zeit stilisiert und von vielen Sowjetbürgern auch so empfunden. Als sich die Utopie eines besseren Lebens nicht verwirklichte, wurde diese Desillusionierung von vielen Historikern als das Phänomen des »gestohlenen Sieges« bezeichnet. Eine Aufarbeitung des Krieges direkt nach dessen Ende wurde von offizieller Seite untersagt. Vielmehr entwarf der sowjetische Propagandaapparat ein »korrektes« Bild der jüngsten Vergangenheit. Man konnte sich öffentlich nur an das erinnern, an was man sich erinnern durfte. Erfundene Heldentaten und Schlachtenszenen seien keine Seltenheit gewesen, wie das gigantische Denkmal nahe der Stadt Dubosekovo eindrucksvoll zeigt. Die Glorifizierung des Krieges ist noch heute so wirkungsmächtig, dass der Staat nach dem Zusammenbruch der UdSSR unfähig ist, objektiv mit der jüngsten Vergangenheit umzugehen. Die Archive seien zwar geöffnet, doch werden viele Akten, so Kudrjašow am Ende seines Vortrages, von offizieller Seite immer noch unter Verschluss gehalten. Eine umfassende Verarbeitung der eigenen Vergangenheit werde erst in ferner Zukunft möglich sein.

Italien

Dass es auch innerhalb eines Landes unterschiedliche, ja gegensätzliche Kriegserinnerungen geben kann, verdeutlichte die italienische Sektion unter der Leitung von Lutz Klinkhammer (Rom) besonders eindrücklich. Gabriella Gribaudi (Neapel) lenkte die Aufmerksamkeit auf das Moral bombing der Amerikaner und Briten – ein Faktum, über das in Italien bislang kaum gesprochen wird. Das Ziel der alliierten Angriffe war die Demoralisierung der Bevölkerung und die Auflösung des faschistischen Regimes. Hohe Opferzahlen sowie die direkte Zerstörung strategisch unwichtiger ziviler Einrichtungen seien dazu bewusst in Kauf genommen worden. Gribaudi trennte zwischen zwei Kriegsstrategien mit unterschiedlicher psychologischer Bedeutung: die gezielte Tötung von Einzelpersonen und die unterschiedlose Massentötung durch Bombenangriffe. Am Ende bleibe daher die Frage, ob das Moral bombing überhaupt notwendig war. Ähnlich wie in Deutschland wird auch in Italien die Frage nach dem Sinn der Bombenangriffe erst seit wenigen Jahren diskutiert – eine eindeutige Antwort steht auch hier noch aus.

Im Anschluss kritisierte Filippo Focardi (Padua) den bis heute in Italien vorherrschenden Mythos des »guten Italieners«. Das faschistische Italien verwaltete vom April 1941 bis zum September 1943 weite Teile Jugoslawiens und Griechenlands. Obwohl sich die Besatzungskräfte auf dem Balkan schwerer Kriegsverbrechen mit Tausenden Opfern schuldig gemacht hätten, würden diese dunklen Flecken im nationalen Kollektivgedächtnis verdrängt. Bereits vor Kriegsende legten die Monarchie und antifaschistische Kräfte den Grundstein für den Mythos des »guten Italiener«. Nachkriegswerke wie Mussolini e l’Europa von Mario Luciolli wiesen ihm sogar die Rolle eines Kriegshelden zu, der sich als »Verteidiger der Unterdrückten«, das heißt der italienischen Zivilbevölkerung verdient gemacht hatte. Filme wie Corellis Mandoline förderten dieses Bild, das bis heute hartnäckig verteidigt werde. Das liege auch an dem großen Rückstand der italienischen Kriegsgeschichtsschreibung sowie dem schwierigen Zugang zu den Militärarchiven. Erst in jüngster Zeit habe eine neue Generation begonnen, den verschiedenen Aspekten der italienischen Besatzungsherrschaft nachzugehen. Dabei sollen, forderte Focardi, auch verdrängte Tatsachen wie die Kriegsverbrechen auf dem Balkan ans Licht geholt werden.

Frankreich

Nach dem Blick auf die Makroebene wandte sich Pierre Le Goïc (Brest) in der Frankreich gewidmeten Sektion, die Fabrice d’Almeida (Paris) leitete, der Microhistoire zu. Unter der Überschrift »Brest sous les bombes« näherte er sich der subjektiven Wirklichkeit des Krieges im Sinne einer »Archéologie des émotions«. Ausgangspunkt waren die Tagebücher des deutschen Soldaten Erich Kuby und der Französin Suzanne Langlois, die beide die alliierten Bombardierungen auf Brest erlebten. Im Gegensatz zu nachträglichen Zeugnissen über die Kriegserfahrungen, die oft beschönigend oder selektiv seien, glaubt Le Goïc, dass Tagebücher durch ihre unmittelbare Nähe zum Erlebten sicherere Informationen böten, auch wenn sie mit bestimmten Intentionen geschrieben würden. So wies er darauf hin, dass Kuby sein Tagebuch nach einem Prozess 1959 veröffentlichte. Sowohl Kuby als auch die gehbehinderte Langlois begegneten der ständigen Lebensgefahr, indem sie versuchen, ihr Leben wie zu Friedenszeiten weiterzuführen. Auch wenn beide nach einer gewissen Zeit die Angst nicht mehr unterdrücken konnten, sah Le Goïc in dem Verhalten eine Bestätigung dafür, dass die Zivilbevölkerung fähig war, sich an die ständige Gefahr anzupassen. Allerdings könne man aufgrund dieser beiden Fälle nicht verallgemeinern, was in der Diskussion die Frage nach anderen Strategien, zum Beispiel einer Betonung der Arbeitsroutine, aufwarf.

Einen anderen Ansatz wählte Philippe Buton (Reims), der die politischen Auswirkungen des Krieges auf Wahlverhalten und Parteianhängerschaft untersuchte. Anhand eines Vergleichs der regionalen Verteilung der Mitgliedschaft und der Wähler der Kommunistischen Partei (PCF) fragte er, ob der Krieg einen signifikanten Umbruch darstellte und wenn ja, worauf dieser zurückzuführen sei. Buton kam zu dem Schluss, dass der Zweite Weltkrieg wie kein anderes Ereignis davor oder danach zu einer neuen Struktur geführt habe. So ließen sich nach dem Krieg eine Stärkung und eine regionale Umverteilung der Anhänger feststellen, die sich bis heute gehalten habe. Ähnlichkeiten in der regionalen Verteilung legen nahe, dass Widerstandsaktivitäten zu vermehrter Sympathie für den PCF geführt hätten. Dies erklärte er damit, dass es gerade in den Regionen, in denen die Résistance besonders aktiv war, zu einer Art Bürgerkrieg und politischen Todesurteilen gekommen sei. Für Buton ergibt sich daraus eine Zweiteilung: Im »ersten Frankreich« entstand das Übel durch das Vichy-Régime, im »zweiten Frankreich« handelte es sich um ein Übel »von oben«, das erduldet werden musste, da die Alliierten nur so die deutsche Okkupation beenden konnten. Im »ersten Frankreich« nahm man den Kampf gegen die Okkupation selbst in die Hand, was sich in einem aktiveren Widerstand niederschlug. Dies könnte zu einer Radikalisierung der Bevölkerung geführt haben, die sich immer häufiger in der Ideologie des PCF wiederfand.

Deutschland

Die Aufarbeitung der Kriegserinnerung in Deutschland war durch die Teilung und die Politik zweier unterschiedlicher Nachkriegssysteme geprägt. Die deutsche Sektion unter Leitung von Hans-Ulrich Thamer (Münster) stellte diese differenzierte Wahrnehmung in den Vordergrund. Zunächst führte Dietmar Süß (München) in die Thematik des Luftkrieges über Deutschland ein – ein Thema, das vor allem durch die Veröffentlichung von Jörg Friedrichs Buch Der Brand hitzige Debatten, nicht nur in der Wissenschaft, entfacht hatte. Mit Blick auf die Sozial- und Erfahrungsgeschichte plädierte er für »eine noch zu schreibende europäische Geschichte des Luftkrieges«. Der Luftkampf führte im »Dritten Reich« zu unterschiedlichen, sich teilweise überlagernden Narrativen. Während das Regime noch kurz vor Kriegsende die »Stabilität der Heimfront« propagierte, schuf der Krieg eine Ersatzöffentlichkeit, in der Gerüchte und die Informationen Einzelner die Wahrnehmung des Krieges in der Bevölkerung prägten. Die nationalsozialistische Regierung forderte unbedingtes Vertrauen. Nachfragen waren unerwünscht. Während des Krieges aufkommende Parolen wie »Barbarei der angloamerikanischen Kulturvernichter« und »Zerstörung wehrloser deutscher Städte« dienten direkt nach Kriegsende dazu, Deutschland nicht als Täter, sondern als eines der Opfer alliierter Grausamkeiten anzusehen. Jene Opferdiskurse, wie sie auch in der jüngeren Vergangenheit geführt worden seien, hätten also schon ihren Ursprung während des Krieges. Am Schluss seines Vortrages unterstrich Süß, dass die Weltkriegsforschung von einer vergleichenden Geschichte des Luftkrieges und seiner Auswirkungen auf die Erinnerungskultur noch weit entfernt sei. Zunächst stehe die nationale Aufarbeitung dieses Phänomens im Vordergrund – wie auch der italienische Fall gezeigt hatte.

Die Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit verlief in Westdeutschland, so Axel Schildt (Hamburg), bis zum Ende der »alten« Bundesrepublik überaus mühsam. Im Zentrum stand die Frage, ob das Kriegsende für Deutschland eine »Niederlage« oder eine »Befreiung« gewesen sei. Die Nachkriegszeit war mit einer Vielzahl schwer lösbarer Probleme verbunden. Durch ein Bündel an Faktoren war die Erinnerung an den Krieg stets präsent und musste nicht immer wieder von neuem aufgerufen werden – auch weil man einen neuen Weltkrieg fürchtete. Das zunächst angestrebte Ziel einer intensiven Aufarbeitung der Vergangenheit wurde in der westdeutschen Forschung jedoch nicht verfolgt. Nach den 1950er-Jahren als einem »Jahrzehnt der Bewältigung« (Schildt) wurde es zunehmend ruhiger in der öffentlichen Diskussion um den Zweiten Weltkrieg. Erst in den 1990er-Jahren, nach dem Ende des Systemgegensatzes, fanden erneut breitere Diskussionen über private und öffentliche Kriegserinnerungen statt, vor allem über Themen wie Bombenopfer, Flucht und Vertreibung.

Es zeichneten sich trotz gemeinsamer Grundlagen zwei völlig verschiedene Deutungsmuster in der Erinnerungskultur des Krieges in beiden deutschen Staaten ab, betonte Dorothee Wierling (Hamburg). Die DDR-Forschung arbeitete, ähnlich dem polnischen Beispiel, mit offiziellen Vorgaben der sowjetischen Besatzungsmacht. Als bestes Beispiel galt das öffentliche Verschweigen der von der Roten Armee begangenen Gewalt vor und nach Kriegsende. Das Bild des »Russen« als eines grobschlächtigen Eroberers und unbarmherzigen Despoten zu Beginn der Okkupation wandelte sich im Zuge der Umgestaltung der Politik und Gesellschaft zu dem Ideal eines verbündeten Führers. Die rasche Veränderung habe aber nur zu einer oberflächlichen Sowjetisierung geführt, während sich ein Großteil der Westdeutschen mit der Amerikanisierung gerne arrangiert habe.

Öffentliche Darstellungen und Verstellungen des Zweiten Weltkrieges bildeten in der DDR eine ideologische Einheit. Deutungs- und Erinnerungsangebote waren recht einfach strukturiert, die Rollen der beteiligten Kriegsparteien eindeutig zuzuordnen. Der Sowjetunion als Siegermacht, die im Kampf gegen den Faschismus zugleich die größten Opfer gebracht habe, sei eine herausragende Bedeutung zugesprochen worden. Die offiziellen Vorgaben in der DDR führten, so Wierling abschließend, zu einer Trennung, ja Entfremdung deutsch-deutscher Kriegserinnerungen. Die teilungsbedingten unterschiedlichen Nachkriegsschicksale verdrängten schon bald das Bild eines gemeinsamen Kriegsschicksals. Die Teilung wurde im Osten viel stärker und länger wahrgenommen als im Westen – das Wissen um den Krieg blieb aufgrund der Erfahrung seiner Folgen in der DDR länger lebendig.

Conclusion

Die Annäherung an »Erinnerung und Erfahrung« des Zweiten Weltkrieges hat sich gewandelt – mit dieser Feststellung eröffnete Henry Rousso seine »Conclusion«. Der Holocaust, der vor zehn Jahren noch im Mittelpunkt der Diskussion gestanden habe, habe offenbar seinen Platz in der Erinnerung gefunden. Ohne dabei den Stellenwert des Holocaust herabzusetzen, habe sich das Themenspektrum seitdem deutlich um vergessene und vernachlässigte Themen erweitert, wodurch dieses Kolloquium einen anderen Charakter bekommen habe. Außerdem lasse sich eine Tendenz von einer sozialen zu einer individuellen Erfahrung beobachten, was sich nicht zuletzt darin zeigte, daß sozial- und politikgeschichtliche Aspekte kaum berührt worden seien. Diese veränderte Sichtweise lenkte demnach auch den Blick auf ganz andere, bisher vergessene Opfergruppen. Dabei fielen einige neue Konzepte und Sichtweisen des Krieges auf. Eine verbirgt sich bereits im Titel. Es ging darum, im Krieg zu sein (être en guerre), und nicht darum, Krieg zu führen (faire la guerre).
Wiederholt sei die Frage aufgeworfen worden, ob die Kriegserinnerung mehr aus der vergangenen Erfahrung, auf die sie sich bezieht, oder aus der Gegenwart, in der die Erinnerung stattfindet, erklärbar sei. Ist die Erinnerung »fille de son père ou de son temps«? Hinweise auf die Wichtigkeit der gegenwärtigen Wahrnehmung geben für Rousso einige Begriffsschöpfungen der Nachkriegszeit, wie Sortie de guerre in Frankreich. In Deutschland weise das Konzept der »Erinnerungskultur« auf diesen Gegenwartsbezug der Vergangenheit.

Auf den geographischen Raum eingehend, lenkte Rousso die Aufmerksamkeit auf das Spiel mit den Ebenen, das sich wie ein roter Faden durch das Kolloquium zog. Die europäische, die nationale, die lokale und die individuelle Ebene wechselten einander ab. Dabei zeichneten sich beispielsweise Unterschiede zwischen der Erinnerung in Westeuropa und in den Ostblockstaaten ab, wo der Kommunismus die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg erschöpft zu haben scheint. Das Kolloquium hat strukturelle, transnationale Gemeinsamkeiten gezeigt, die Rolle des Luftkrieges, die Bedeutung des Ersten Weltkrieges, die Funktion von Feindbildern, die verschiedener Modi der Erinnerung und den Einfluss von Generationswechseln. Die inhaltlichen Unterschiede in den nationalen Erinnerungskulturen seien dagegen nicht zu übersehen. Statt zu einer europäischen Vereinheitlichung komme es – auch das wurde klar – eher zu einer Ausfächerung der Erinnerungen unterhalb der nationalgeschichtlichen Ebene. Diese Diversifizierung löse meist einen Erinnerungsmythos ab, der in vielen Staaten als nationale offizielle Erinnerung konstruiert und instrumentalisiert und erst von einer neuen Generation hinterfragt worden sei. Zwar wurde, so Rousso, durchaus immer wieder unterstrichen, dass diese offizielle Erinnerung einiges verfälschte, idealisierte und mythologisierte, es sei aber kaum danach gefragt worden, wozu diese Mythenbildung notwendig war.

Das Kolloquium gab, so Rousso, Impulse für eine Periodisierung der Erinnerung. Der innovative Ansatz, die Zeit vor und nach 1945 zugleich in den Blick zu nehmen, ließ eines deutlich werden: Eine erste Phase der Erinnerung begann mit der Mythenbildung während des Krieges, etwa im deutschen und englischen Fall. Das Phänomen, dass sich viele Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg als Opfer fühlten, war beispielsweise schon durch Goebbels’ Propaganda vorbereitet worden. Neben dem Krieg selbst zeichneten sich aber auch schon weitere Meilensteine in der Veränderung von Erinnerung ab: Im Westen brachten die 1960er- und 1970er-Jahre eine Kritik der vorherrschenden Kriegserinnerung mit sich, während in den Staaten des ehemaligen Ostblocks sicherlich die 1990er-Jahre einen Wendepunkt darstellten.
In den einzelnen europäischen Ländern ist also nicht nur die Erinnerungskultur verschieden, sondern ihre Aufarbeitung erfolgte auch – unabhängig von wichtigen Ereignissen – zeitlich versetzt. Auch wenn Erinnerung immer zu Gemeinsamkeiten, zur Commémoration, hinstrebe, sei es eine nutzlose Übung, nach einer homogenen europäischen Erinnerung zu suchen. Offensichtlich sei der Holocaust schon ihr größter gemeinsamer Nenner. Möglich sei es aber, und darin liege das Desiderat der Weltkriegsforschung, in einer europäischen Geschichte der Kriegserfahrungen und -erinnerungen diese Unterschiede aufzuzeigen und ihrer Pluralität die nötige Akzeptanz zu verschaffen.

Richard Bessel (York) setzte den eigentlichen Schlusspunkt, als er in einem öffentlichen Vortrag im DHI Paris die Ergebnisse der Tagung in einen breiteren Bezugsrahmen stellte. Einerseits reihte er sich in den Tenor der Beiträge ein, als er feststellte, dass die Erinnerung immer abhängig von den zeitlichen Hintergründen andere Formen annimmt. Andererseits stellte er eine Konvergenz fest, die heute verschiedene Nationen vereinen würde: In allen Staaten sei der Krieg früher oder später zum Inbegriff von Leid und Gewalt geworden, und im gleichen Zuge widmete man sich daher auch eher den Opfern als den Tätern. Wie war es aber zu dieser Neuinterpretation des Krieges gekommen?
Im Deutschland der Zwischenkriegszeit wurde der Krieg noch glorifiziert. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch stellte sich angesichts eines weit verbreiteten Gefühls der Sinnlosigkeit und der Desillusionierung eine Einordnung in die Opferkategorie (im Sinne von Victimhood) ein. Die deutschen Opfer und Verluste (im Sinne von Sacrifice) konnten demnach angesichts ihrer letztendlichen Sinnlosigkeit nicht »gewürdigt« werden, wodurch einer Glorifizierung des Krieges die Grundlage entzogen wurde.
Aus Bessels Sicht änderte sich aber mit zeitlicher Verschiebung auch in anderen Staaten die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Dies ist nicht nur auf einen Generationenwechsel zurückzuführen, sondern auch auf eine noch lange andauernde Präsenz der Kriegsschäden für einen Großteil der Bevölkerung, die hier ein viel größeres Ausmaß als im ersten Weltkrieg angenommen hatte. Bis heute habe sich schrittweise ein europäischer Konsens darüber herausgebildet, dass Krieg Leid und Verlust bedeutet. Allerdings müsse das nicht so bleiben. Jüngere Generationen, die mit dem Zweiten Weltkrieg nicht einmal mehr über Augenzeugen in Berührung kommen, sowie der zunehmend multikulturelle Charakter der europäischen Gesellschaften und die Vielfalt der Erfahrungshintergründe könnten den Krieg wieder aus anderen Blickwinkeln betrachten.

Der Gedanke, Kriegserfahrung und Kriegserinnerung des Ersten und Zweiten Weltkrieges miteinander zu vergleichen, könnte sich wissenschaftlich als außerordentlich fruchtbar erweisen. Ob diese erste Begegnung zwischen Wissenschaftlern aus acht verschiedenen Ländern am Ende tatsächlich in eine europäische Geschichte des Zweiten Weltkrieges münden wird, bleibt vorerst offen. Die Ergebnisse der Tagung werden von Jörg Echternkamp und Stefan Martens veröffentlicht.

Anmerkungen:
1 Das Programm der Tagung kann auf folgenden Internetseiten abgerufen werden:
http://www.dhi-paris.fr/seiten_deutsch/veranstaltungen/programme/IIWKErinnerung.pdf
http://www.mgfa.de/html/neuigkeiten_2005.php?display_va=4416b7b23c262


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